Anfänge: Atatürk und sein Erbe
Die Geschichte prägt die Gegenwart. In kaum einem anderen Land wird das so spürbar wie in der Türkei. Manche politische Entscheidung, mancher Komplex, manche Irrationalität lässt sich erklären, wenn man bedenkt, dass die Türkei einmal Herzland eines großen Reichs war, eine beeindruckende Weltmacht, deren Staatsgebiet von Nordafrika über Europa bis nach Asien reichte. Obwohl der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs nun ein Jahrhundert zurückliegt, scheint er bis heute nicht verwunden.
Um die heutige Türkei zu verstehen, ist ein Rückblick auf die Geschichte unerlässlich – auf eine große, traditionsreiche Historie. Von diesem historischen Erbe zehrt die Türkei bis heute. In seinem Selbstverständnis, seiner Politik, seinem Auftreten beruft Erdoğan sich auf diese einstige Bedeutung und Größe. Oft nennen ihn Kritiker einen »Sultan«, aber im Kern trifft das sein Gebaren. Die vielen prächtigen Moscheen, von vielen Touristen bewundert, sind architektonische Erinnerungen an die Macht der Sultane, und so verwundert es nicht, dass Erdoğan noch heute Moscheen bauen lässt, die sich im Stil an den alten Bauten orientieren. Einen wichtigen Teil der Geschichte blendet die aktuelle Politik der Türkei aber aus: dass das Osmanische Reich ein Vielvölkerstaat war, mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen, Kulturen und Anschauungen. Wenn man die Lage der Minderheiten in der Türkei heute betrachtet, wenn man sieht, wie sehr Nationalismus und die Stärkung des »Türkentums« die Politik prägen, ist von dieser früheren Vielfalt nicht mehr viel zu spüren.
Dass die Vorfahren der heutigen Türken aus dem Osten kamen, aus Zentralasien bis hin zur Mongolei, und zum Teil Nomaden waren, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Erste Hinweise auf diese Ahnen finden sich in chinesischen Quellen aus dem zweiten Jahrhundert. Ab 1040 regierten eineinhalb Jahrhunderte lang die Seldschuken, eine Fürstendynastie, die im neunten Jahrhundert zum sunnitischen Islam konvertiert war und diese Religion nun in die Region brachte. Bis etwa zum elften Jahrhundert hatte sich die Islamisierung der hier lebenden Menschen vollzogen. Mit ihrem Sieg in der Schlacht von Manzikert, dem heutigen Malazgirt im Osten der Türkei, im Jahr 1071, hatten die Muslime in Anatolien ihren Machtanspruch manifestiert. Die Region war ethnisch und kulturell heterogen, hier lebten Araber, Armenier, Griechen, Juden, Kurden. Mit dem Sieg der Seldschuken in Manzikert begann der allmähliche Niedergang des Byzantinischen Reichs.
Die Seldschuken wiederum wurden 1243 von den Mongolen geschlagen. Fünfzehn Jahre später, 1258, in einer Situation der politischen Instabilität, kam in der Kleinstadt Söğüt, zweihundert Kilometer südöstlich von Istanbul, ein Junge zur Welt, der als Osman I. in die Geschichte eingehen sollte. Nach ihm ist das Osmanische Reich benannt. Osman I., Sohn des Clanführers Ertuğrul, war der erste Sultan und Begründer einer Dynastie, die über sechs Jahrhunderte die wechselhaften Geschicke des Landes bestimmen sollte. Osman I. wird von osmanischen Geschichtsschreibern als gazi dargestellt, als islamischer Rechtsgelehrter, der den Islam in einer Art heiligem Krieg gegen das Christentum behaupten wollte. Die Christianisierung war in diesem Teil der Welt, ausgehend von Europa, weit fortgeschritten. Die Missionierung war oft gewaltsam erzwungen worden, wie etwa bei den Kreuzzügen.
Osman I. begann, Ländereien in der Umgebung von Söğüt zu erobern. Aus dem Fürstentum Osman entstand das Osmanische Reich – zunächst ein kleines Land, das im Südosten die Stadt Eskişehir umfasste, im Westen aber nicht bis zum Marmarameer und im Norden nicht bis zum Schwarzen Meer reichte. Historische Quellen beschreiben, dass der Herrscher die Christen in den von ihm eroberten Gebieten nicht verfolgte, ihnen sogar mit Respekt begegnete, weil der Islam Achtung vor Andersgläubigen verlangte. Diese tolerante Haltung habe zum Erfolg der Eroberungen beigetragen, denn die Christen sahen anscheinend keinen Grund, allzu großen Widerstand zu leisten.
Die Jahreszahl, die jedes Kind in der Türkei kennt, ist 1453. Am 29. Mai jenes Jahres durchbrachen osmanische Truppen unter Sultan Mehmed II. erstmals die Stadtmauern von Konstantinopel, der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs. Schon seit Anfang April hatte das osmanische Heer die Stadt belagert, sie am 7. April gar vollends umzingelt. Der Kaiser des Byzantinischen Reichs verfügte aber über nicht einmal siebentausend Soldaten – knapp fünftausend Griechen und zweitausend Ausländer – zur Verteidigung und hielt die Größe seiner Truppen deshalb geheim. Die osmanischen Streitkräfte wuchsen hingegen stetig an, Mitte April trafen auch die letzten Schiffe aus dem Schwarzen Meer ein. Ein erster Angriff auf die Stadt am 18. April wurde noch abgewehrt, aber am 29. Mai 1453 fiel die Stadt. Es war das Ende des Byzantinischen Reichs, die islamische Eroberung einer christlichen Bastion. Der offizielle Name der Stadt blieb für die folgenden Jahrhunderte weiter Konstantinopel, aber die Türken nannten sie im Alltag Istanbul.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs das Reich, bis es sich Mitte des sechzehnten Jahrhunderts von Nordafrika bis in den Kaukasus, von Osteuropa bis zur Arabischen Halbinsel erstreckte. Es war ein Vielvölkerstaat, in dem der Islam dominierte. Wer kein Türke war und kein Sunnit, wurde zwar toleriert, aber nicht als Gleicher unter Gleichen akzeptiert. Die Eroberung von Kairo, Damaskus und den beiden wichtigsten heiligen Städten des Islam, Mekka und Medina, trug dem osmanischen Herrscher zusätzlich den Titel Kalif zu. Er war damit das geistliche Oberhaupt der Muslime in der ganzen Welt.
Diese Blütezeit des Osmanischen Reichs kann man heute noch in der Türkei sehen und spüren. Vor allem in Istanbul, dem »nach Lage und Bauten wohl märchenhaftesten Platz der Welt«, wie der deutsche Architekt Paul Bonatz (1877 bis 1956) einmal sagte. Einen großen Anteil daran hat Mimar (»Architekt«) Sinan, der von 1490 bis 1588 lebte und als Großbaumeister und Konstrukteur das Stadtbild von Istanbul, aber auch anderer Orte in der Türkei geprägt hat wie kein anderer vor oder nach ihm. Mehr als dreihundert Bauten werden dem Sohn eines Steinmetzen zugeschrieben, davon über achtzig Moscheen wie die Süleymaniye-Moschee in Istanbul und die Selimiye-Moschee in Edirne. Letztere bezeichnete Sinan als sein »Meisterstück«, in die er all seine Erfahrungen und sein Wissen einbrachte. Alleine ihretwegen lohnt sich ein Besuch im etwa zweihundert Kilometer westlich von Istanbul gelegenen Edirne, das einst Hauptstadt des Osmanischen Reichs gewesen war. Sinan diente als Generalbaumeister insgesamt vier Sultanen: Selim I., Süleyman I., Selim II. und Murad III. Seine Werke, nicht nur Sakralbauten, sondern auch Villen, Paläste, Badehäuser, Armenküchen und Aquädukte, geben den Städten ihr unverwechselbares Gesicht und sind Vorbild für viele Architekten – bis heute.
Der langsame Niedergang des Osmanischen Reichs begann im Jahr 1774 mit der Niederlage im Krieg gegen Russland. Hatten die osmanischen Truppen sich bis dahin immer gegen ihre Feinde behaupten können, führte die Bezwingung durch die Russen zu einem neuen Machtgefüge in der Welt und innerhalb des Osmanischen Reichs. Andere Großmächte jener Zeit – Großbritannien, Frankreich und Österreich – witterten ihre Chance, das Osmanische Reich besiegen und unter sich aufteilen zu können. Die Angst vor einer Aufspaltung des Reiches durch fremde Mächte saß tief in Istanbul. In mehreren Teilen des Reichs kam es zu Aufständen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Griechen, Serben, Ägypter, Wahabiten erhoben sich gegen die osmanische Zentralmacht, manche wollten sich gegen die Bevormundung wehren, andere witterten eine Chance, die eigene Macht zu vergrößern.
Kriegerische Niederlagen, Rebellionen im Inneren – mit zum Teil brutalem Vorgehen gegen Teile der eigenen Bevölkerung –, kostspielige Militärreformen sowie wirtschaftliche Probleme trugen zum Niedergang des Reichs bei. Ab dem neunzehnten Jahrhundert wurde es daher oft »der kranke Mann am Bosporus« genannt – ein Bild, das sich bis heute stark festgesetzt hat, weil man im deutschen Geschichtsunterricht meist erst dann das erste Mal vom Osmanischen Reich hört, wenn es um sein Ende geht. Bei zwei Balkankriegen 1912 und 1913 büßte das Osmanische Reich erneut große Teile seines Gebietes ein. Die Bewegung der Jungtürken, die auf Absolventen der Militärschulen und Verwaltungsakademien basierte, versuchte, eine Art konstitutionelle Monarchie einzuführen und die Schwäche des Sultans auf diese Weise auszugleichen. Am 23. Januar 1913 putschten sie sich an die Macht. Bis 1918 regierte ein »Triumvirat« aus Kriegsminister Ismail Enver Pascha, Marineminister Ahmed Cemal Pascha und Innenminister Mehmed Talaat Pascha diktatorisch. Unter ihnen kam es zum Völkermord an den Armeniern, den die Türkei bis heute nicht so bezeichnet wissen will, und sie führten das Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg. Die Türken traten dem Bündnis der Mittelmächte bei und kämpften an der Seite des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns gegen die Entente-Mächte Großbritannien, Frankreich und Russland.
Für das Osmanische Reich bedeutete der Ausgang des Ersten Weltkriegs das Ende: Im Vertrag von Sèvres wurde 1920 die...