IV. Künstler und Hörer als System
1. „Moloch“ Publikum
Lampenfieber entsteht nicht durch äußere Einwirkung, sondern mental, durch Vorstellungen: „Der oder jener könnte denken …; der Herr Soundso vertritt eine extreme Stilrichtung, deren Befolgung allein sein Urteil bestimmt …; ich könnte hängen bleiben …; der Bogen könnte zittern …; die Intonation könnte aus dem Ruder laufen …“ etc.
Eine Quelle des Lampenfiebers ist z. B. die Vorstellung, dass es eine feindliche Front zwischen Künstler und Publikum gibt, wobei dem Publikum die Rolle des (gnadenlos) „objektiven“ Beurteilers zugewiesen wird. So lauert dann die Angst, dem „Moloch“ Publikum nicht gewachsen zu sein.
Wenn ich mir nun stattdessen die Situation eines Auftritts als ein System vorstelle, das keine Fronten, sondern Interaktionen erzeugt, bei denen ich selbst der „primus inter pares“ bin, ein System von Schwingung und Resonanz, verschiebt sich der Blickwinkel – weg von der Konfrontation hin zu einem Kommunikationsverhältnis. Resonanz kann bis hin zu körperlichem Mitvollziehen der von mir vorgegebenen „Schwingungen“ seitens des Publikums gehen, bei der sich Menschen sogar sichtbar leicht bewegen (dieser Effekt ist als „Carpenter-Effekt“ bekannt). Manchmal wogt eine Zuhörerschaft fast wie ein Ährenfeld, wenn eine bestimmte Musik entsprechend dargestellt wird. Die Resonanz des Publikums wiederum wird auf mich selbst rückgekoppelt; ich erlebe sie, greife sie in meinem Spiel auf. Eine solche Resonanz entsteht aber nur, wenn ich dieses System gedanklich bejahe, statt mich dem Publikum „zum Fraß“ vorzuwerfen. Das heißt: Ich darf nicht die defensive Frage ihr Unwesen treiben lassen: „Bin ich gut genug?“ Also: Kommunikation statt Konfrontation!
Hier sind Bilder – „Anker“ – für die Vorstellung hilfreich: Statt den dunklen Zuschauerraum in Gegensatz zu dem hellen Scheinwerfer, der auf den Künstler gerichtet ist, zu setzen, kann ich einen Lichtkegel oder – je nach Neigung – ein gemeinsames Magnetfeld, die gemeinsam geatmete Luft, einen gemeinsam eingeatmeten Duft imaginieren, der beide „Fronten“ umschließt und sie zum ganzheitlichen System macht: Wir sind ein Regelkreis-System, umschlossen vom gleichen Raum. Dieses System bedeutet ein Aufbrechen der Isolation. Wir gehören zusammen: der Hörer und ich. Insofern bin ich schon rein funktional nicht mehr allein.
2. Das einzelne Individuum
Das Publikum besteht aus lauter einzelnen Individuen. In einem „normalen“, also nicht durch Lampenfieber „aufgeheizten“ Zustand würde ich den einen Menschen mehr, den anderen weniger sympathisch finden. Mit manchen würde ich mich gerne unterhalten, mit anderen weniger gerne. Dieser banale Sachverhalt scheint durch die Ausnahmesituation eines Konzerts plötzlich nicht mehr gegeben. Ich möchte von allen anerkannt, geliebt werden; dies ist aber nicht möglich – weder im alltäglichen sozialen Miteinander noch im Ausnahmegeschehen eines Konzerts. Der Wunsch, allen zu gefallen, behindert mich in der Charakterisierung meiner Musik, der zunächst einmal mich selbst überzeugenden, subjektiven Darstellung meines musikalischen Erlebens und Kommunizierens eines musikalischen Kunstwerks. Allen gleich gefallen zu wollen, vermindert die Fähigkeit, die meisten zu überzeugen – ein Paradox, das man sich durchaus „zur Beruhigung“ immer wieder bewusst machen sollte. Hier muss auch die Frage erlaubt sein: Hat das Publikum dieses speziellen Konzerts, gar jeder einzelne Hörer in diesem Publikum, wirklich die Kompetenz, mir zu bescheinigen, was „richtig“ und was „falsch“ ist, was ich also tun müsste oder hätte tun sollen?
Ich muss (nicht nur) als Künstler die Tatsache anerkennen, dass Menschen unterschiedlich empfinden. Jeder sieht und hört durch seine persönliche „Brille“, mit seiner persönlichen Gewichtung der einzelnen Parameter. Man kann die sinnliche Wahrnehmung des einzelnen Hörers mit einer polarisierten Brille vergleichen, die eben nur eine bestimmte Schwingungsebene des Lichts durchlässt. Es ist deshalb selbstverständlich, dass meine bestimmte Art des Empfindens – im doppelten Sinne des Worts „bestimmt“, nämlich sowohl in der Bedeutung „klar definiert“ wie auch „von mir persönlich autorisiert“ – nicht jeden Hörer zur vollen Resonanz bringen kann. Insofern ist auch die Meinung sowohl des einzelnen Hörers als auch des Publikums als Gesamtheit nicht „objektiv“, sondern eben nur „statistisch“ zu verstehen. Es bleibt mir überlassen, in welchem Maß ich mich nun dieser Statistik anpasse oder unterordne – oder sie positiv zu beeinflussen versuche.
Die Gründe für eine möglicherweise negative Reaktion eines Einzelnen können wiederum außerordentlich vielschichtig sein. Vielleicht entspringt sie ja wirklich nur dem persönlichen Geschmack: Ein bestimmter Hörer hat eben einfach andere Hörerfahrungen (Frage eines Hörers z. B. nach einem Bach-Abend: „Warum spielen Sie die Courante so schnell?“). Woher er seine Vorstellung hat, kann ich nicht wissen. Möglicherweise hat er sein Bild dieser Musik von irgendeinem Tonträger eines mir in der Auffassung völlig konträren Kollegen oder sein Urteil basiert auf seinem eigenen, vielleicht technisch begrenzten Bemühen. Will ich mich wirklich ausgerechnet von dessen Meinung abhängig machen?
Natürlich sind wir alle bis zu einem gewissen Grad von Ansichten anderer über uns abhängig. Wir sind soziale Wesen und was wir geworden sind, sind wir in der Vernetzung mit anderen geworden. Wir alle brauchen deshalb eine von außen kommende Bestätigung unseres Selbstbewusstseins. „Die anderen“ spielen beim Aufbau unseres Selbstbewusstseins eine Rolle. Wer aber sind „die anderen“? Hier habe ich durchaus die freie Wahl zu entscheiden, wer mir wichtig ist und wer nicht. Statt sich vorzunehmen: „Die Leute sind mir egal, das Publikum besteht aus lauter Kohlköpfen“ (eine landläufige Lampenfieber-Hilfsvorstellung, die kaum je erfolgreich ist und auch nicht inspiriert!), ist es besser zu sagen: „Es ist mir wichtiger, diese bestimmte Person mit meiner Kunst zu erreichen als jene andere Person.“
Es kann deshalb außerordentlich hilfreich sein, sich beim Spielen auf dem Podium eine einzelne – mir wohl gesonnene – Person vorzustellen, die entweder real im Konzert anwesend ist oder zumindest sein könnte, für die ich spiele, von der ich „weiß“, dass sie auf meine Art des Musizierens positiv reagiert. Es kann auch jemand Fremdes im Publikum sein, an dessen Mimik und Körpersprache ich bei gelegentlichem Hinschauen den „Resonanzeffekt“ ablesen kann. Der Autor erinnert sich an einzelne Personen, mit denen er nie ein Wort gesprochen hat, die ihm aber durch ihre körpersprachliche Reaktion geradezu einen Selbstvertrauensschub bei einem wichtigen Konzert gegeben haben – eine Wirkung, von der sie selbst nie in ihrem Leben erfahren haben.
Umgekehrt gibt es auch eine eigenartige negative „Attraktivität“, die ein Zuhörer bzw. Zuschauer, der durch seine Mimik und Gestik Ablehnung signalisiert, auf den Spieler ausüben kann. Hierfür sei eine beispielhafte Episode erwähnt: Ein Zuhörer sitzt mit äußerst griesgrämigem Gesicht im Konzert. Der Blick des Künstlers schweift, wenn auch sehr selten, zu ihm, aber die Gedanken kommen nicht von ihm los. Es scheint hoffnungslos zu sein, ihn musikalisch je zu erreichen. Nach dem Konzert kommt just dieser Zuhörer zum Künstler, um ihm seine Begeisterung mitzuteilen und zu sagen, dass er sein furchtbares Zahnweh dabei fast vergessen hätte! Der Autor wurde vor vielen Jahren anlässlich einer solchen Episode zu einem selbstironischen Gedichtchen (Der Kenner) inspiriert, das im Anhang wiedergegeben ist.
3. Was nimmt der Hörer wahr? – Interpretatorische Aspekte
Zum Thema Lampenfieber drängt sich unabweisbar folgende Frage auf: Was fällt dem Hörer überhaupt auf? Was erreicht sein Ohr, was seine Wahrnehmung? Was soll er hören? Bezieht sich mein Lampenfieber auf meine Wahrnehmung meines eigenen Spiels oder auf die vermutete des Hörers? Denn der Hörer nimmt nicht unbedingt das Gleiche wahr wie der Spieler. Und: Jeder Hörer nimmt etwas anderes wahr!
Jeder Musiker weiß, dass der gedruckte Notentext nicht die Musik ist, dass die Musik sozusagen hinter oder zwischen den Noten steht. Wir müssen noch einen großen Schritt über diese allenthalben bekannte Plattitüde hinausgehen: Der Hörer erlebt nicht nur vieles, was nicht in den Noten steht, sondern sogar die – richtig verstandene! – gestaltete und schließlich sogar improvisierte Abweichung von dem, was in den Noten...