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Mutterblues

Mein Kind wird erwachsen, und was werde ich?

AutorSilke Burmester
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783462316063
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Mein Kind bricht auf, ich brech zusammen Ben ist 17, in einem Jahr macht er Abitur. Silke Burmester ist Bens Mutter, bald verlässt ihr Sohn das gemeinsame Nest. Sie findet das gut, sie findet das richtig, und trotzdem geht es ihr hundsmiserabel dabei. Sie fragt sich: Warum fällt mir das Erwachsenwerden meines Kindes so schwer? Mit 14 ging es los, denn mit 14 war es vorbei. Vorbei die Zeit der Gute-Nacht-Geschichten und der kuscheligen Momente. Die Pubertät regierte im Hause Burmester, das Kind wurde erwachsen - und die Mutter? Nun ist Ben 17, dabei, die Schule zu beenden, danach wird er bald ausziehen. Er freut sich auf das, was kommt. Seine Mutter auch, irgendwie. Sie freut sich für ihn, aber nicht für sich. Für sie bedeutet Bens Erwachsenwerden vor allem Verlust. Silke Burmester muss sich eingestehen: Ihr Sohn ist zum Aufbruch bereit, sie ist es nicht. Und sie stellt fest: Vielen Frauen geht es so, viele Frauen leiden unter dem Lösungsprozess, zu dem sich obendrein die Abschiedsthemen der Wechseljahre gesellen. Aber warum ist das kein Thema, warum erwischt es mich so unvorbereitet, fragt sie sich. Und warum trifft es gerade die heutige Generation an Müttern so markerschütternd, wenn das Kind erwachsen wird? Silke Burmester schreibt sehr persönlich, ehrlich und offen über ein Tabuthema: über den Schmerz der Mütter, wenn das Kind aufhört Kind zu sein.

Silke Burmester, geboren 1966, Journalistin, Kolumnistin und Autorin, schreibt über Medien, Kultur und Gesellschaftspolitik u. a. für die Süddeutsche Zeitung, SPIEGEL Wissen und das manager magazin. In ihrer Kolumne »Die Kriegsreporterin« berichtet sie mittwochs in der taz von der Medienfront.

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Leseprobe

Einleitung


Der Mensch, den ich vor 17 Jahren geboren habe, steht in der Küche und brät sich ein Ei.

Es ist Sonntag kurz nach drei Uhr am Nachmittag, ich sitze am Esstisch mit einer Tasse Tee und schaue auf dieses lange Etwas, wie es sein Frühstück zubereitet. Wie es dasteht und mit immer noch etwas kantigen Bewegungen das Ei rührt, ein Messer sucht, um das Brot zu schneiden, wie es mit beneidenswerter Ruhe Remoulade auf das Graubrot schmiert, Gurke aufschneidet und sich Milch einschenkt, während das Ei vor sich hin dunkelt. Ich blicke auf diese 194 Zentimeter, an denen T-Shirt und Jogginghose schlabbern, die nackten Füße, die nie zu frieren scheinen, sehe das hübsche, frische Jungsgesicht, die verwuschelten Haare, die mal wieder gewaschen werden könnten, und versuche zu begreifen, wo mein Kind geblieben ist.

»Mein Kind« – das ist etwas Kleines. Etwas Bedürftiges. Etwas, das mich braucht. Vor mir steht Ben und erzählt von seinem gestrigen Abend. Davon, dass sie in einen Club nicht hineingekommen seien, weil zwei Mädchen dabei waren, denen man ansehen würde, dass sie noch nicht 18 sind. Davon, dass in der U-Bahn einer war, der komisch drauf, aber total lustig war, und dem sie beim Aussteigen ein Bier geschenkt hätten. Ich blicke auf diesen langen Menschen, der in wenigen Monaten volljährig sein wird, den das Gesetz damit für mündig erklärt und der dann jede Ansage von mir zum Teufel schicken kann, und möchte verstehen, wie das alles zusammenpasst. Das kleine Kind, das ich mal hatte, mit seinen Ringelshirts und diesen kleinen, ewig klebrigen Händen, die es mir immer ins Gesicht drückte. Dieser blonde Junge, der so bereitwillig die Hand ergriff, wenn man sich außerhalb der gewohnten Umgebung bewegte. Wie dieses unglaublich süße vierjährige Wesen, das als »Ringo Starr« auf Pappkartons Konzerte gab, während ich die kreischenden Mädchen spielte, wie das zusammenpasst mit dem Menschen, mit dem ich heute zusammenlebe wie mit einem sehr angenehmen Mitbewohner. Jemand, bei dem ich mich nicht mehr aufrege, wenn er sonntags erst um drei Uhr aufsteht, weil ich denke, es ist ja sein Sonntagnachmittag. Jemand, den ich frage, ob er heute Abend mitisst oder ob er unterwegs sein wird. Jemand, dem ich sage, er sei mit Badputzen dran und den ich bitte, die Gläser in seinem Zimmer zusammenzusuchen, weil wir langsam keine mehr haben. Und der das dann tut.

Ich sitze am Tisch mit meinem Tee und gucke Ben an, als könne ich die Antwort finden, wenn ich nur lange genug auf seine Bewegungen schaue, auf seine Gestik, auf seine großen Füße. Die Antwort darauf, wie das Heute und das Früher zusammenpassen. Wie etwas zusammenpasst, das sich wie Schwarz und Weiß gegenübersteht. Wie Laut und Leise, wie Watte und Beton.

Dabei kenne ich die Antwort genau. Und am liebsten würde ich sie ignorieren, denn sie benennt etwas, das verloren scheint: die Jahre dazwischen.

Die Jahre zwischen dem Kleinkind und dem großen Wesen, das jetzt in der Küche steht und mir erzählt, wie sein Abend war und dass es gleich wieder abdüst, um sich mit seinen Freunden zu treffen.

Ich frage mich, wo die Jahre geblieben sind. Ich habe das Gefühl, als hätte ich sie nicht gelebt. Als wäre sie gelebt zu haben, ein Wissen, für das es keine Erinnerung gibt. Es gibt nichts, das greifbar ist, außer ein paar Bilderfetzen und einigen wenigen Begebenheiten, die der Kopf dankenswerterweise bewahrt hat.

Ich schaue auf Ben und es ist, als sei das Abtasten mit den Augen der Versuch, diese Jahre wiederzufinden. Das festzuhalten und dingbar zu machen, was sich wie ein Gas einfach verflüchtigt hat und in absehbarer Zeit vollends beendet sein wird: unsere gemeinsame Zeit.

 

Als ich vor 17 Jahren meinen Sohn bekam, war es, als läge die Zeit mit meinem Kind wie die Milchstraße vor mir: Kein Ende erkennbar. Unüberschaubar. Ein immerwährendes Funkeln.

Ich wollte eine Mutter sein, mit seiner Geburt bin ich eine Mutter geworden. Und sehr bewusst habe ich gedacht: »Egal, was jetzt passiert, selbst, wenn Dein Kind stirbt, Du wirst nie wieder nicht Mutter sein.« Und wie wohl die meisten Eltern war ich so sehr im Hier und Jetzt, so sehr mit der Aufgabe, das Kind großzuziehen, beschäftigt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es jemals enden würde. Die Jahre, die vor uns lagen, schienen eine ungeheure Masse an Zeit. Ich war damals 30 – die 18 Jahre, bis Ben ausziehen würde – das war mehr als mein halbes Leben. Aus den Erzählungen, aus Büchern und Filmen und dem Widerhall in den Medien hatte ich eine Ahnung von dem, was kommen würde. Erst die leichte, unbeschwerte Zeit im Kindergarten, dann die Grundschule mit ihren Elternabenden, vielleicht mit ersten Besuchen bei der Schulleitung, weil das Kind sich nicht regelkonform verhielt. Dass die weiterführende Schule für Grauen und viel elterliche Verzweiflung schlechthin stünde, schien klar – ich kannte es aus meiner eigenen Jugend nicht anders. Obendrauf würde sich die Pubertät setzen wie ein Monster mit fauligem Atem und würde mit all ihren Streitereien, Grenzkämpfen und der elterlichen Sorge wegen Alkohol, Drogen und der schiefen Bahn, das Leben bestimmen. Die Jahre, bis das Kind reif für den Auszug wäre, würden so mühevoll und anstrengend sein, dass ich froh sein würde, wenn ihr Ende in Sicht käme.

 

Ihr Ende ist in Sicht. Und ich kann es nicht anders sagen: Mir geht es beschissen.

Ich leide. Ich leide wie Hund. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll, den Schmerz um das zu verlierende Kind.

Mein Sohn wird in fünf Monaten 18 Jahre alt, nächsten Sommer macht er Abitur, dann wird er wahrscheinlich zwei, drei Monate brauchen, bis er aufbricht, sich die Welt anzugucken. »Work and Travel« will er machen, ein Jahr, anderthalb Jahre ins Ausland gehen, um das Leben außerhalb des Bekannten zu entdecken. Wenn er wiederkommt, wird er anfangen zu studieren oder blöd dem Nichtstun verfallen. Vielleicht wird er noch mal ein paar Monate bei seinem Vater oder mir einziehen, aber lange wird das nicht sein. Seit Jahren malt er sich aus, mit Freunden in einer WG zu leben, in so einem Jungsding mit festgetrockneten Essensresten und Spiegelei zum Frühstück.

Ich finde das alles richtig, ich finde das alles gut. Ich werde ihn nicht festhalten und sagen: »Bleib doch noch!« Ich werde dahinter her sein, dass er seinen Hintern hochkriegt und loszieht, und wenn ich merke, dass er sich im Hotel Mama beziehungsweise Papa festzusetzen droht, dann werden die Hoteliers klarmachen, dass das Einnisten nicht von Dauer sein kann.

Ich sehe Ben vor mir, wie er mit seinen Jungs – oder vielleicht doch dem ein oder anderen Mädchen – in einer wahrscheinlich liebenswert chaotischen WG lebt, die man als Mutter lieber nicht zu oft besucht, weil man dann zu nerven beginnt, mit Vorschlägen wie dem, doch mal aufzuräumen, und dass es doch schon hülfe, das Altglas wegzubringen.

[11]Ich bin, was meinen Sohn anbelangt, bedingungslos optimistisch. Er wird das schon machen. Er wird trotz aller Pizza und Spezi nicht mangelernährt sein. Er weiß, wie man Wäsche sortiert, und er wird das Gesaufe im Griff haben, selbst wenn es nach mütterlichem Ermessen zu viel ist. Er wird – wenn es nicht mehr zu vermeiden ist –, aufräumen und so zur Uni oder sonst wo hingehen, dass er sich sein Berufsziel nicht verbaut. Er wird das alles machen. Hinkriegen. Und doch bin ich grenzenlos enttäuscht. Enttäuscht, traurig, verletzt.

Ich empfinde einen unsagbaren Schmerz darüber, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei sein wird. Dass ich nicht mehr Mutter sein soll, sein kann. Dass mein Kind von mir weggeht. Ich spüre diesen Schmerz körperlich. An schlimmen Tagen habe ich das Gefühl, er zerreißt mich. Dann gucke ich dieses Kind an, dieses große Etwas, das mich nicht mehr braucht, weder zum Eierbraten noch um seinen Tag zu strukturieren, und weiß nicht, wie ich das aushalten soll.

Vor allem frage ich mich, warum ich nicht wusste, dass es so kommen würde, dass es nur 14, 15 Jahre sind, bis die Ablösung in vollem Gange ist, und sich dies so schlimm anfühlen würde.

 

Ich weiß, dass ich mit diesem Gefühl nicht allein bin. Ich weiß, dass es anderen Müttern auch so geht. Längst nicht allen, aber etlichen. Ich weiß von Müttern, die regelrecht Angst vor dem Auszug ihres Kindes haben und jetzt, während die Brut noch da ist, eine Menge dafür tun, sie an sich zu binden. Sie sollen es so schön finden, »bei Mama« oder bei »Mama und Papa«, dass sie zu Hause wohnen bleiben, auch wenn die Ausbildung abgeschlossen ist und eine andere Stadt ein interessanteres Studienangebot anbietet.

 

Die Wissenschaft hat ein Wort für das Leiden von Frauen wie uns: »Empty Nest Syndrome«, das »Leere-Nest-Syndrom«. Psychologen und Familiensoziologen beschreiben damit die Auswirkungen, die der Auszug der Brut auf die Eltern, insbesondere auf die Mütter, hat und...

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