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E-Book

Mythen und Märchen in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen

AutorChristiane Lutz
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl190 Seiten
ISBN9783170301580
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Märchen und Mythen sind narrative Texte, die Urerfahrungen des Menschseins in gelegentlich drastischen Bildern spiegeln. In ihrer Darstellung werden jedoch nicht nur konflikthafte Themen abgebildet, sondern auch Lösungen angeboten, die in ihrer positiven Ausrichtung Hoffnung und Zuversicht wecken können. In der Behandlungstechnik nach C. G. Jung werden Mythen und Märchen in ihrer entwicklungsfördernden Vielschichtigkeit eingesetzt. Zusätzlich unterstützen sie in ihrer Vorbildfunktion einen progressiven Lebensentwurf und aktivieren selbstheilende Kräfte. Das Buch bietet mit zahlreichen Mythen und Märchen sowie ihrer Interpretation einen Einblick in eine Symbolik, die überzeitliche Gültigkeit hat. In dazu passenden Fallbeispielen zeigt sich die hohe therapeutische Wirksamkeit, die Neuorientierung erlaubt.

Christiane Lutz ist als Kinder- und Jugendpsychotherapeutin sowie als Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Stuttgart tätig. Sie ist Dozentin am C. G. Jung- Institut in Stuttgart und an der Akademie für Tiefenpsychologie in Stuttgart und Herausgeberin der Reihe 'Psychodynamische Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen'.

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Leseprobe

2          Die Mythen der Welt


 

 

 

 

 

Es gibt auf der ganzen Welt eine Fülle von Mythen, die sich mit menschlichen Themen in ihrer jeweiligen kulturell bedingten Ausdrucksform auseinandersetzen. Aus der Fülle der Möglichkeiten sind unserem Erleben manche Mythen näher, manche ferner. Ich habe darum diejenigen herausgegriffen, die einen prägenden Einfluss auf die Erlebnisformen und die Einstellung zum lebendigen Sein im mitteleuropäischen Raum ausgeübt haben und noch heute eine emotionale Faszination ausstrahlen.

2.1       Die ägyptischen Mythen


Die ägyptischen Mythen umkreisen als zentrales Thema Leben und Tod. Im Gegensatz zum abendländischen Denken, das dem Erbe der griechischen Antike verpflichtet ist, war der Tod für die alten Ägypter jedoch nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebens. Ihre Überzeugung schlug sich in der gleichnishaften Äußerung nieder: »Du stirbst, damit du lebst«.

Die wunderbar ausgemalten Gräber nicht nur der Pharaonen sondern auch der Bürgerlichen und Handwerker zeugen von dieser Gewissheit. Tod wurde in der ägyptischen Vorstellung einerseits als Fortsetzung des bisherigen andererseits als Beginn eines neuen Lebens mit neuen Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verstanden.

Die symbolische Blickrichtung, die sich in der Traumdeutung C. G. Jungs schwerpunktmäßig widerspiegelt, stellt für diese Haltung eine Parallele dar. Tod ist in der Traumsprache, ebenso wie in Märchen und Mythen, ein Synonym für Wandlung. Wandlung als Ausdruck einer notwendigen Veränderung, um auf dem Weg der Erkenntnis weiterzugehen. Tod bedeutet, sich mit dem Dunkel des Unbewussten auseinanderzusetzen. Orpheus wagte sich in dieses Dunkel der Unterwelt, Herakles holte den Höllenhund Zerberos aus eben dieser Dunkelwelt, auch Odysseus wagte sich in dieses Reich. Aber auch der christliche Mythos kennt diese Notwendigkeit, wenn Christus »niedergefahren zur Hölle« ist. Auch Goethe beschrieb diesen notwendigen Prozess von Konfrontation und Wandlung, wenn Faust das Dunkelreich der Mütter besucht. Tod und Leben gehören zusammen, gemäß dem Wort Platos: »Tod ist ein langer Schlaf, Schlaf ist ein kurzer Tod.«

In ägyptischer Vorstellung wurden aufgrund der mythische Bezogenheit Leben und Wahrnehmung ganzheitlich empfunden. Gott und Mensch, aber auch das Göttliche in Tiergestalt, männlich und weiblich, waren keine Gegensätze, sondern eine zusammengehörige Ganzheit. Erst mit dem Ende des mythischen Erlebens, beginnend mit dem bewussten Denken und der schriftlichen Niederlegung der Mythen wurden sie zu Geschichten, zu Ausdrucksformen des polaren Denkens und Erlebens.

Stellvertretend für das mythische Erleben der Ägypter möchte ich das »Amduat« (Clarus 1980) beschreiben. Es ist der Weg der Erkenntnis, der sich in zwölf Stufen vollzieht und die Gesamtheit des Lebens im Werden und Vergehen umschließt. Auf beeindruckende Weise spiegelt sich im Amduat ein ähnlicher Entwicklungsweg, der sich auch im Prozess einer analytischen Behandlung im Geiste C.G. Jungs vollzieht.

2.1.1     Die Realität von Tod und Leben als zusammengehörige Ganzheit


Der Ausgangspunkt ist eine Wahrnehmung der Realität des Lebens, die den Tod als Konsequenz in sich schließt. Die Ägypter vertrauten auf den ewigen Kreislauf von Leben und Tod im Sinne einer zusammengehörenden Ganzheit. So wird nachvollziehbar, dass der Tod als scheinbar dramatisches und grausames Ende des Lebens kein Erschrecken bedeutete, sondern ganz selbstverständlich die Tür zu einer neuen Form des Seins öffnete.

Ein eindrucksvolles Beispiel für dieses Wissen, das Leben und Tod zusammengehören, stellte sich mir im Kontakt mit einem dreijährigen kleinen Jungen dar. Er hatte den Tod seiner 95-jährigen Urgroßmutter sehr bewusst miterlebt und verarbeitete ihn auf folgende Weise:

Mit lauter Stimme verkündete er: »Du bist jetzt gestorben!« Dabei musste ich mich auf den Boden setzen, die Augen schließen, den Kopf auf die angewinkelten Beine legen und diese mit den Armen umschließen. Dann ergriff er einen großen Blumentopf mit einer üppig blühenden rosa Azalee und rief: »Jetzt bist du wieder aufgewacht«! Dieses Spiel wiederholte er während der ganzen Stunde. Ich durfte dabei kein Wort sagen und musste mich genau an seine Handlungsanweisungen halten. Dabei kam ich mir vor wie im Mythos von Orpheus und Eurydike. Ein Tun entgegen seinen Anweisungen hätte das Geheimnis der Wiedergeburt als Neubeginn zerstört. Er beendete die Stunde mit den Worten: »Und jetzt bist du wieder ganz lebendig, aber du lebst im Himmel und schaust auf mich ’runter und dann bist du froh.«

In der Übertragung war ich seine Urgroßmutter. An mir machte er seine Überzeugung fest, dass Tod und Leben eine Einheit bilden und letztlich das Leben, wenn auch in einer verwandelten Form, Ende und Neubeginn ist.

In diesem Beispiel zeigt sich ein Wissen, das dem des mythischen Denkens der Ägypter entspricht und die Weisheit des Seins umschließt.

In Bewusstsein der alte Ägypter war der Glaube an die Fortdauer des Lebens eng mit Bild der Sonne verbunden. Das Motiv der Sonne symbolisiert das Tagesbewusstsein. Mit ihr wird gleichzeitig auf den ständigen Wandel des Lebens hingewiesen: Am Morgen (des Lebens) steigt Chepre im Symbol des Skarabäus am Himmel auf. Er ist die Morgenröte des Bewusstseins, Ausdruck des jungen Lebens. Am Mittag steht Re am Himmel, Symbol für das aktive, vitale handelnde Tun in der Mitte des Lebens. Am Abend neigt sich die Sonne in Gestalt des Atum gegen den Horizont. Es ist die Stufe der ruhigen Erkenntnis, der Weisheit aufgrund einer langen Tages- und Lebenserfahrung. Sodann beschreibt die Sonne den unteren Halbkreis. Es geht um die von den Ägyptern so bezeichnete »Nachtmeerfahrt«.

2.1.2     Die Notwendigkeit, ins Dunkel zu gehen, die Wahrnehmung des Schattens


Hier ist das Schattenreich des Osiris, der als Fruchtbarkeitsgott vor der Ermordung durch seinen neidischen Bruder Seth Wachstum und Leben garantierte. Im Totenreich liegen aber auch die Bedrohungen durch die gewaltige Schlange Apophis, die die Sonne zu verschlingen droht. Eine Entsprechung findet sich im Wechsel von Tag und Nacht, von Wach- und Schlafbewusstsein. Nachts kann Schreckliches passieren, das dem kontrollierenden Bewusstsein nicht zugänglich ist.

Im Amduat wird sehr eindrücklich diese Konfrontation mit dem bedrohlichen Dunkel in Schrift und Bild dargestellt. In der analytischen Behandlung sprechen wir von der Auseinandersetzung mit dem Schatten. Dieser uns weitgehend unbewusste Persönlichkeitsanteil enthält alle ungeliebten, gesellschaftlich nicht akzeptierten Eigenschaften wie Aggression in seiner destruktiven Form, Neid, Eifersucht und Rivalität (vgl. den Band Psychodynamische Therapien von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in dieser Reihe). Diesen Schatten in die Lebensführung zu integrieren, zwingt zur Neueinstellung zu sich selbst. Dann kann sich auch der positive Aspekt von dynamischer Kraft und Aktivität, von Vitalität und Kreativität entfalten. Personahaftes Denken, wie »man« zu sein hat, wird abgelöst von einem Selbstbewusstsein, das um den eigenen Wert, um die eigenen Licht- aber auch Schattenseiten weiß. So fordert man weder von sich noch von anderen Menschen ausschließlich »Lichtträger« zu sein, Voraussetzung für Akzeptanz und Toleranz.

Es ist auch die Rolle, die überwiegend kleinen Mädchen zugewiesen wird, nämlich, süß, angepasst und freundlich zu sein

Ein kleines Mädchen wurde mir seitens der Eltern wegen Schlafstörungen vorgestellt. Gleichzeitig betonten sie eifrig: »Im Übrigen haben wir überhaupt keine Probleme mit ihr. Sie war immer pflegeleicht. Auch das Trotzalter hat sie uns erspart.«

Die kleine fünfjährige Prinzessin sagte mir im Erstkontakt mit einem bezaubernden Lächeln:

»Ich weiß schon, warum ich bei Dir spielen soll, weil ich nämlich nicht einschlafen kann«. In der Tat war die Fünfjährige oft bis Mitternacht wach. Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr sie eifrig fort: »Ich denke immer, dass eine ganz große, dicke Schlange unter meinem Bett liegt und mich auffressen will!« Als ich das Schreckliche dieser Gefahr bestätigte, ergänzte sie: »und dann leuchten Mama und Papa immer mit einer Taschenlampe unter das Bett und sagen, da ist doch...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhaltsverzeichnis6
Einleitung12
1 Der Begriff des Mythos – Versuch einer Annäherung14
1.1 Das Wesen des Mythos15
1.2 Gehalt und Inhalt der Mythen16
1.3 Wirksamkeit der Mythen18
1.4 Funktion des Mythos19
1.5 Die Verständnisebenen des Mythos Der Umgang mit Raum und Zeit20
1.6 Mythos und Sprache21
2 Die Mythen der Welt23
2.1 Die ägyptischen Mythen23
2.1.1 Die Realität von Tod und Leben als zusammengehörige Ganzheit24
2.1.2 Die Notwendigkeit, ins Dunkel zu gehen, die Wahrnehmung des Schattens26
2.1.3 Auseinandersetzung mit den chthonischen Kräften der Tiefe28
2.1.4 Krisis und Zweifel, die Gefahr der Vernichtung29
2.1.5 Erstarrung, Angst, Rückzug und kritisches Bewusstsein30
2.1.6 Nut umschließt das Zusammengehörige, die Erfahrung der eigenen Ganzheit31
2.1.7 Seth, die Konfrontation mit dem Bösen als äußere und innere Wirklichkeit32
2.1.8 Die Vereinigung von Tod und Leben ist Ganzheit33
2.1.9 Das Totengericht – Die Bedeutung der Emotionalität und die Konfrontation mit dem Angemessenen in Gestalt der Maat34
2.1.10 Die Heilung des Auges, ein neues Sehen und Erkennen35
2.1.11 Thoeris, die schwangere Göttin, die Bewältigung des Vergangenen und die Hoffnung auf Neuanfang36
2.1.12 Osiris, der Gott der Toten, erlaubt Auferstehung und Neuwerdung37
2.2 Die griechischen Mythen40
2.2.1 Macht und Ohnmacht: Die Genealogie der ersten griechischen Götter Uranus, Kronos und Zeus41
2.2.2 Bindung und Loyalität gegenüber der Mutter:Apoll, Artemis, Leto und Niobe42
2.2.3 Schuld und Sühne in der Mehrgenerationenperspektive am Beispiel des Ödipus43
2.2.4 Elterliche Fürsorge oder Zwang in die Abhängigkeit: Daidalos und Ikarus48
2.2.5 Ambivalenz in der Mutter-Sohn-Beziehung:Hera und Hephaistos50
2.2.6 Mütterliches Bindungsbedürfnis:Demeter und Kore52
2.2.7 Die Suche nach Ich-Identität: Achill53
2.2.8 Rivalität unter Brüdern und die Rolle des Tricksters: Hermes und Apoll54
2.2.9 Weibliche Rollenvorbilder: Penelope und Klytämnestra56
2.2.10 Geist contra Emotion: Dionysos und Apoll58
2.3 Die geheimnisvollen Mythen der Etrusker63
2.3.1 Die Götter der Etrusker, ihr Wille, ihre Deutung63
2.3.2 Die Disziplina und die libri ritualis65
2.3.3 Spiritualität und die Frage nach dem Sinn66
2.3.4 Die Stellung der Frau68
2.3.5 Weisheit der Kindheit, Weisheit des Alters:Tages der Kindgreis68
2.4 Die Mythen der Germanen70
2.4.1 Die Götter der Germanen70
2.4.2 Der Mythos der Weltesche Yggdrasil74
2.4.3 Der Nibelungenmythos76
2.4.4 Die Völsungensaga79
2.4.5 Der Mythos um Beowulf82
3 Die Bedeutung der Märchen in der psychodynamischen Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen87
3.1 Märchen und Märchenforschung87
3.2 Märchen und Kinder89
3.3 Gehalt der Märchen91
3.3.1 Märchen und Wunscherfüllung92
3.3.2 Märchen und Kompensation92
3.3.3 Entwicklungsmärchen93
3.3.4 Reifungsmärchen94
3.3.5 Erlösungsmärchen96
3.3.6 Die »Übersetzung« der Märchen in die psychologisch notwendigen Entwicklungsprozesse96
3.4 Beziehungen im Märchen100
3.4.1 Zwei gleich starke Partner in Machtkampf oder Übereinstimmung101
3.4.2 Ein starker Mann begegnet einer schwachenFrau und macht sie zu seinem Objekt103
3.4.3 Ein schwacher Mann ist mit einer starken Frau verbunden106
3.4.4 Eltern und Kinder109
3.5 Geschwister132
3.5.1 Schwester und Bruder133
3.5.2 Drei Schwestern135
3.5.3 Drei Brüder138
3.6 Polarität im Märchen144
3.6.1 Angst und Zuversicht144
3.6.2 Einsamkeit und Sehnsucht nach Verbundenheit147
3.6.3 Depression und Aggression148
3.6.4 Gefährdung und Errettung151
3.6.5 Verkanntsein im Wert, Erkanntwerden in Würde152
4 Mythen und Märchen in ihrem entwicklungsfördernden Gehalt – der Bezug zur Praxis157
4.1 Der Umgang mit Ohnmachtsgefühlen angesichts schicksalhafter Gegebenheiten157
4.1.1 Mythos: Odysseus zwischen Skylla und Charybdis158
4.1.2 Das Märchen vom tapferen Schneiderlein160
4.2 Umgang mit Gefühlen der Hoffnungslosigkeit in Lebensgefahr161
4.2.1 Mythos: Odysseus und Polyphem161
4.2.2 Märchen »Der Däumling« (Brüder Grimm)163
4.3 Eine schuldhaft belastete familiäre Vergangenheit wird als Erbe an die nächsten Generationen weitergegeben166
4.3.1 Mythos: Das Haus Atreus mit Tantalos, Thyestes und Agamemnon166
4.3.2 Märchen »Rapunzel« (Brüder Grimm)169
4.4 Umgang mit Loyalität und Schuldgefühl171
4.4.1 Mythos: Elektra und Orest171
4.4.2 Märchen »Die sieben Raben« (Brüder Grimm)173
5 Nachwort178
Literaturverzeichnis180
Stichwortverzeichnis184

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