InhaltsverzeichnisGestern
Regenzeit
Die Evolution muss außerordentlich zufrieden gewesen sein. So zufrieden, dass sie drei Milliarden Jahre weitestgehend verschlief.
Vielleicht blickte sie auch einfach voller Stolz auf ihr Werk, ohne sich zu Höherem berufen zu fühlen. Sicher, dieser Membransack mit dem Supermolekül im Kern hatte sich als Husarenstück erwiesen, auf das man sich durchaus was einbilden konnte. Aber dreieinhalb Milliarden Jahre nichts als Einzeller? Keine komplexeren Lebensformen, keine Beine, Zähne und Augen oder wenigstens was Kriechendes mit einem halbwegs erkennbaren Vorne und Hinten? Warum bloß hat sich die Evolution so lange Zeit gelassen, bevor sie daranging, das Experiment Leben fortzusetzen – um dann hastig immer komplexere Organismen zu entwerfen, als sei ihr plötzlich eingefallen, dass die Fertigstellungstermine überschritten sind: Hier bitte, der Auftragszettel, ich hatte für Anfang Kambrium einen Tyrannosaurus Rex bestellt. Was, Sie sind erst bei Muscheln und Schnecken? Jetzt aber dalli!
In der Geschichte des Lebens liest man nichts von Auftraggebern. Man kann die Frage darum auch anders stellen. Warum hat die Evolution überhaupt komplexeres Leben hervorgebracht? Denn einen Trend zur Komplexität im Sinne eines erkennbaren Fortschritts gibt es in der Natur eigentlich nicht, auch wenn wir es gerne so hätten und manches danach aussieht. Menschen sind intelligenter als Einzeller, gut, aber auch bei weitem anfälliger. Unsere hohe Komplexität lässt uns mental wie körperlich schwächeln, sobald es ein paar Grade zu kalt oder zu warm wird oder unerwartet die Börsenkurse fallen. Bakterien haben Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge überstanden, verkraften Hitze- und Kälteschocks und fühlen sich im Umfeld kochend heißer Tiefseequellen ebenso zu Hause wie in der Antarktis, im Innern von Gebirgsgestein oder auf Ihrem Frühstücksbrötchen. Gemeinhin machen sie sich weniger Sorgen als Menschen. Im Grunde sind sie das perfekte Endprodukt. Dennoch muss die Evolution Gründe gefunden haben, eine Entwicklung in Gang zu setzen, an deren Ende Zellkonglomerate Bücher schreiben, die von anderen Zellkonglomeraten gelesen werden.
Zum besseren Verständnis hilft es, die Evolution als das zu begreifen, was sie ist: ein einfallsreiches Opfer der Umstände, weit davon entfernt, Wesen mit Beinen, Zangen, Stielaugen oder Armani-Krawatten zu erschaffen, wie es ihr gerade passt. Zellen zur Serienreife zu entwickeln war eine schöpferische Meisterleistung, unbestritten. Doch was immer die Evolution bis heute unternahm, geschah als Folge vorgegebener Bedingungen. Und die diktierte der Planet – launisch wie eine Diva, mal unberechenbar bis destruktiv, dann wieder ein Muster an Fürsorge. Mitunter forderte er dem Leben Lösungen ab, die ihn selber nachhaltiger veränderten, ohne je Zweifel an seiner Autorität aufkommen zu lassen. Immer waren es klimatische, geologische und kosmische Einflüsse, die der Evolution Handlungsbedarf abforderten. Dass sie rund drei Milliarden Jahre lang erfolgreich Einzeller produzierte, verdient angesichts dessen uneingeschränkte Bewunderung. Denn an Versuchen, sich des aufkeimenden Lebens mit allen nur erdenklichen Tricks wieder zu entledigen, ließ es vor allem die junge Erde nicht mangeln. Außerdem ist Zelle nicht gleich Zelle, und da ist ja noch die Sache mit der Zeitgeschwindigkeit und dem Kausalitätenfilz, und überhaupt …
Langsam.
Gehen wir erst mal zurück, weit zurück, noch vor den Urknall. Was sehen Sie? Richtig, nichts. Erstens, weil es noch kein Universum gibt, zweitens, weil eben dieser Umstand das sofortige Ende Ihrer Existenz nach sich zieht. Der Mensch bemisst sich nun mal nicht allein nach Höhe, Breite und Länge. Auch aus Dauer ist er gemacht, so wie alle Materie. Zeit existierte aber vor dem Urknall nicht, oder sagen wir, sie war noch nicht geschlüpft. Und ohne Zeit kein Zeitreisender.
Dann plötzlich, vor etwa 13,7 Milliarden Jahren, geschieht etwas so Unfassbares, dass selbst Stephen Hawking in schwitzende Erklärungsnot gerät: Aus dem blanken Nichts expandieren Raum und Zeit und dehnen sich rapide aus. So vieles vollzieht sich in derart schneller Folge, dass alleine die ersten drei Sekunden im Leben des jungen Universums Bücher füllen. Vorsicht allerdings, wenn Sie nun glauben, damals sei einfach mehr los gewesen. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass die Zeit selbst mit weit höherer Geschwindigkeit dahinraste als heute. Stellen Sie sich einfach einen Film im Zeitraffer vor. Sie sehen dieselbe Handlung wie in Originalgeschwindigkeit, nur dass alles dreimal schneller vonstatten geht. Das flottere Abspieltempo ist vergleichbar einer höheren Zeitgeschwindigkeit, ohne dass die Personen im Film dadurch in Stress gerieten. Für sie vollzieht sich alles ganz normal. Vielmehr würden sie – vorausgesetzt, sie wären sich ihrer filmischen Existenz bewusst – beim Blick auf uns Zuschauer den Eindruck gewinnen, in unserer Welt geschähe alles dreimal so langsam wie in ihrer. Zeit ist ein relatives Phänomen. Sie ist diversen Einflüssen unterworfen, Gravitation kann sie zerdehnen oder stauchen, krümmen und in sich selbst zurückführen. Auch heute verstreicht die Zeit in den einzelnen Regionen des Universums unterschiedlich schnell. Bewohner verschiedener kosmischer Zeitzonen empfinden ihre jeweilige Zeit als absolut, ein unabhängiger Beobachter hingegen würde erhebliche Unterschiede registrieren.
Ob ein Vorgang als schnell oder langsam, eine Zeitspanne als schier endlos oder besonders kurz empfunden wird, hat also ausschließlich mit der Perspektive des Beobachters zu tun – anders gesagt mit jemandem, der in der Lage ist, Zeit überhaupt zu messen. Da unabhängige Beobachter bis heute Geschöpfe der höheren Mathematik sind, müssen wir uns mit uns selbst begnügen und im Hinblick auf ein Menschenleben feststellen, dass drei Milliarden Jahre eine verdammt lange Zeit sind. Wo wiederum niemand zugegen ist, um ein Zeitmaß anzulegen, erübrigen sich Begriffe wie »schnell« oder »langsam«. Dauer wird irrelevant. Drei Sekunden oder drei Milliarden Jahre machen keinen Unterschied. Die Zeit bemisst sich nicht in Einheiten, sondern einzig an der Fülle der Ereignisse. Ein Effekt übrigens, den wir gut an uns selbst beobachten können. In Fällen großer Langeweile – etwa bei Festreden angehender Schwiegerväter oder Antworten von Politikern auf klar gestellte Fragen – empfinden wir zehn Minuten als quälende Öde. Ein Abend beim Flirt vergeht hingegen wie im Flug. So betrachtet sind drei Milliarden Jahre Zellentwicklung vielleicht ein Klacks, hingegen drei Sekunden, in denen die Grundvoraussetzungen für das ganze zukünftige Universum geschaffen wurden, eine Ewigkeit. Es wäre sinnlos, von einem Mittagsschläfchen der Evolution zu sprechen, bloß weil sie es den größten Teil der Erdgeschichte bei Bakterien beließ. Nein, es entsprach einfach den Umständen.
Zurück zum Urknall. Raum und Zeit breiten sich weiter aus, und das Universum kühlt ab. Auch Abkühlung ist ein relativer Begriff. Immer noch 5.000 Grad Celsius ist es heiß, eine Temperatur, bei der Elektronen wild hin und her schießen, allerdings langsam genug, um dem Bann positiver Anziehungskräfte zu erliegen. Als Folge beginnt je ein Elektron ein einzelnes Proton zu umkreisen, und das Wasserstoffatom entsteht.
Vorher war das Universum unendlich dicht und homogen gewesen. Jetzt wird die Materie durchlässig, und Licht kann sich ungehindert von Materie ausbreiten. Mehr noch: Seitdem die Photonen, die Lichtteilchen, sich zwischen den festen Teilchen hindurchwinden können, müssen sie diese nicht mehr ständig anrempeln und auseinanderreißen. Erstmals kann sich Materie zu dauerhaften Strukturen zusammenballen. Wasserstoff bildet Wolken, die immer größer und mächtiger werden, bis sie unter ihrem eigenen Gewicht in sich zusammenstürzen. Sterne entstehen, Brennöfen, in deren Innerem ungeheurer Druck herrscht, sodass der Wasserstoff im Innern zu Helium verschmilzt. Drei solcher Heliumkerne verbinden sich zu Kohlenstoff. Der Kohlenstoffkern nimmt weiteres Helium auf und wird zu Sauerstoff. Damit sind die wesentlichen Bestandteile des heutigen Universums versammelt, und der Weltraum lichtet sich.
Mit zunehmender Abkühlung verwandeln sich weite Teile des Alls in öde Wüsten. So viel Leere, so wenig freie Atome, die sich im interstellaren Raum treffen. Was dennoch zueinander findet, wird vom harten Ultraviolett des Sternenlichts gleich wieder getrennt. In den Gaswolken hingegen herrscht das andere Extrem. So dicht sind die Materieteilchen dort gepackt, dass weder ultraviolettes noch anderes Licht eindringen kann. Darum sind die Wolken dunkel. Und kalt! Minus 240 Grad Celsius, das ist auf alle Fälle kalt genug für die Bildung von Molekülen, und dicht genug, um Sterne zu gebären.
Neugeborene sind unberechenbar. So stürzen viele der jungen Sterne unter ihrer eigenen Anziehungskraft unaufhaltsam in sich zusammen, bis ihre Masse sich nicht weiter verdichten kann. Ihnen bleibt nur eines: fulminant zu zerplatzen. Die Explosionen schleudern heißes Sternengas ins All und mitten hinein in träge Wasserstoffwolken, die noch aus der Zeit des Urknalls stammen und die schwereren Elemente aus den verendeten Sternen dankbar in sich aufnehmen. In Milliarden embryonaler Galaxien trifft erstmals Wasserstoff auf Sauerstoff. Ununterbrochen verbinden sich die beiden Elemente, bis sich auf der Oberfläche gefrorener Staubkörner Moleküle einer völlig neuen Art...