2.1. Psilocybe semilanceata
Der Klassiker unter den Psychoaktiven Europäern
1799 berichtete E. Brande über eindrucksvolle Intoxikationen mit Pilzen aus London, die am 3. Oktober des gleichen Jahres im St. James Green Park von einer armen Familie gesammelt, danach zubereitet und verspeist wurden (Abb. 9 S. 17).
Nach dem Essen begannen die Symptome beim Vater und seinen vier Kindern sehr schnell, wobei unbegründetes Lachen, Delirien und ausgeprägte Pupillenerweiterungen bei wellenförmig auftretendem Verlauf beschrieben wurden. Der Vater sah zusätzlich noch alle umgebenden Gegenstände in schwarzer Farbe und befürchtete seinen baldigen Tod.
Schon geringe Pilzmengen erzeugten bei zwei Personen (12 und 18 Jahre alt) die gleichen Symptome wie die grossen Portionen der andern Familienmitglieder. Nach wenigen Stunden gingen die Psychosen folgenlos vorüber, dazwischen lagen Therapieversuche mit Brech- und Stärkungsmitteln, denen dann ein Behandlungserfolg zugeschrieben wurde.
Es ist für heutige Betrachtungen ein Glücksumstand, dass neben der Beschreibung dieses typischen Psilocybinsyndroms J. Sowerby die Pilze in sein Buch „Coloured Figures of English Fungi or Mushrooms“ (London 1803) aufnahm (Abb. 3 S. 10).
Dabei fungierte nur die Pilzvarietät mit den kegeligen Hüten als Verursacher der Intoxikationen. Die Darstellung stellt sehr typisch die Psilocybe semilanceata dar, den Spitzkegeligen Kahlkopf, der in der zeitgenössischen Beschreibung als „Agaricus glutinosus Curtis“ auch völlig mit heutiger Kenntnis übereinstimmend erscheint. (Abb. 4 S. 10).
1818 erwähnte dann der berühmte schwedische Mykologe E. Fries den „Agaricus semilanceatus“ in „Observationes Mycologicae“. Der gleiche Pilz wird später auch Lanzenförmiger Düngerling, Coprinarius semilanceatus Fr. oder Panaeolus semilanceatus (Fr.) Lge. genannt bis schliesslich um 1870 die Art von Kummer bzw. von Quelet in die Gattung Psilocybe eingeordnet wurde. So findet man beide gültigen Bezeichnungen in der Literatur: Psilocybe semilanceata (Fr.) Kumm. oder (Fr.) Quel.
Um 1900 nennt M.C. Cooke dann zwei oder drei Gelegenheiten, bei denen Kinder sich in England erneut versehentlich mit der Pilzart intoxierten und wies interessanterweise darauf hin, dass es sich nur um die blauverfärbende Varietät (var. caerulescens) gehandelt hatte. Er fragte sich als erster Mykologe, ob nur diese Varietät giftig wäre bzw. ob diese Verfärbung aus externen Faktoren herrühre, welche die chemische Zusammensetzung in Richtung Gift modifizieren könnten.
Frühe Beschreibungen
In seiner Fragestellung kommt Cooke der Wahrheit schon recht nahe (siehe Kap. 4). Psilocybe semilanceata ist mit den mexikanischen psychotropen Arten sehr eng verwandt. Im Erscheinungsbild steht der Pilz Psilocybe semperviva Heim & Cailleux und Psilocybe mexicana Heim nahe und kommt wie diese bevorzugt auf Weiden vor. Diese Ähnlichkeit und die ebenfalls nur diskret auftretende Blauung der Pilze regte die Untersuchung von Fruchtkörpern schweizerischer und französischer Herkunft durch die Gruppe um A. Hofmann und R. Heim in Zusammenarbeit mit dem Pilzfreund Furrer an. 1963 wurde dann über den papierchromatographischen Nachweis von 0,25% Psilocybin in den Trockenpilzen erstmalig berichtet. Die Befunde stellten eine Sensation dar, weil bisher in europäischen Arten das Alkaloid noch nie nachgewiesen werden konnte. Bis zu dieser Zeit lagen nur positive Nachweise der Substanz in Psilocybe-Arten aus Mexiko, aus Asien und Nordamerika vor.
Abb. 10
Die vorzügliche Psilocybe semilanceata – Beschreibung von Michael/Schulz (1927).
Vor 1963 wurden die Pilze jedoch auch schon regelmässig in verschiedenen deutschsprachigen Standardwerken der Mykologie beschrieben. Dazu noch einige Beispiele: In Abb. 6/7 (S.11) stehen sich zwei Beschreibungen im Abstand von etwas mehr als sechzig Jahren gegenüber. Interessant, dass die zweite Beschreibung aus dem Jahre 1962 die Anmerkung „wertlos“ trägt – aus heutiger Sicht eher amüsant! Aber das Wissen um die englischen Intoxikationen drang dennoch nicht dauerhaft ins deutsche Schrifttum ein. Die vorzüglichen Beschreibungen von Michael/ Schulz (1927) und von A. Ricken (1915) bilden eher die Ausnahme. (S. 19). Interessanterweise ist aber in der hier vorgestellten ältesten Quelle vor 1900 das Buch von Sowerby aus dem Jahre 1803 noch als Referenz zitiert. Die Beschreibung der Pilzart im Jahre 1977 zeigt, dass bis auf zusätzlich erwähnte mikroskopische Details die Pilzart heute eher wieder flüchtiger differenziert wird. (Abb.12 auf S.21).
Abb. 11
Rickens Definition der Psilocybe-Art (1915).
Auch die farbige Zeichnung der Pilze aus dem Jahre 1927 kommt dem tatsächlichen Habitus der Fruchtkörper sehr nahe (erste Umschlagseite).
1967 und 1969 konnte das Psilocybin auch in Pilzproben aus Schottland und England nachgewiesen werden. Michaelis berichtete 1977 dann über die Detektion des Alkaloides in Extrakten aus deutschen Aufsammlungen. (Abb. 13 S. 22).
Ab 1979 wurden in verschiedenen Ländern quantitative Untersuchungen des Alkaloidgehaltes der Pilzarten unter Anwendung modernster Methoden (HPLC) durchgeführt, auf die an anderer Stelle noch eingegangen wird.
Man kann heute sagen, dass die Psilocybe semilanceata der psychoaktive Pilz Europas hinsichtlich Verbreitung, Erforschung und Anwendung ist. Guzman schätzt in seiner Monographie 1983 ein, dass die Art die weltgrösste Verbreitung unter allen psychoaktiven Psilocyben hat. Der Pilz kommt in Amerika, Europa, Australien und Asien vor. In vielen Ländern ist die Pilzflora so mangelhaft erforscht, dass über die Verbreitung solcher kleiner Arten erst recht nichts ausgesagt werden kann.
Es werden Funde aus folgenden europäischen Ländern beschrieben: Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland, Schweiz, Österreich, Niederlande, Belgien, Frankreich, Russland, Polen, Ungarn, Rumänien, Schottland, England, Wales, Italien, Spanien, Irland und die frühere Tschechoslowakei.
Hier muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass für solche kleinen europäischen Arten, die neben vielen ähnlichen Pilzen wachsen, keine umfassenden Verbreitungskarten existieren. Der sarkastische Satz „Die Pilze kommen häufig vor, wo auch die Mykologen häufig sind“ trifft besonders auf die Psilocybe-Arten zu. Die Gattung fristete vor der Entdeckung des Psilocybins eher ein Schattendasein in der Literatur, und heute beschäftigen sich auch nur wenige Mykologen mit ihr. Daran ändert auch nichts, dass Psilocybe semilanceata wahrscheinlich die häufigste und auffälligste Sippe unter den Arten darstellt. Pilzfreunde mit anderer Intention (Kapitel 6.4.) lassen ihr Wissen gewöhnlich nicht in Verbreitungskarten verewigen.
Jedoch existiert aus dem Jahre 1986 auch eine Verbreitungskarte über das Vorkommen der Pilzart in Deutschland (S. 11).
Aus Ostdeutschland sind kaum Fundorte der Psilocybe-Art publiziert worden. Ich fand den Pilz in den verschiedensten Gebieten, so im Vorharz bei meiner Heimat Mansfeld, in der Dübener Heide, in weiteren Heidelandschaften sowie in Thüringen. Funde aus den anderen Landesteilen sind mir von befreundeten Mykologen bekannt. Schon Buch berichtete 1952 detailliert über Funde aus Sachsen (Abb. 15, S. 23).
Das üppigste Wachstum der Psilocybe-Art lässt sich auf im Wald gelegenen feuchten Weideflächen feststellen. Nach meinen Erfahrungen findet man die Art von Ende September bis Oktober in den meisten grösseren Waldgebieten auf sauren Böden im Gras, an Wald- und Wegrändern, meist zu wenigen Exemplaren oder in kleinen Trupps bis zu 30 Pilzen. An solchen Stellen lässt sich dann regelmässig auch Tierkot wie z.B. von Rehen nachweisen. Die Pilze wachsen nie direkt auf frischem Dung. Ausgesprochene Kümmerformen können an Chausseerändern im Gebirge gefunden werden.
Die Myzelien können alte Kuhweiden im Wald ausgedehnt durchziehen, wie sich an der Grösse der Areale der Fruchtkörper dann ablesen lässt. Bei entsprechender Feuchtigkeit ist mit einer maximalen Fruktifikation der Art zu rechnen, wenn wenige Wochen zuvor die Grasflächen noch einmal mit Kühen beweidet werden.
Jedoch wachsen die Pilze auch auf entsprechend gelegenen Pferde- oder Schafweiden. Sehr häufig sind auch diese im Wald gelegenen Grasflächen ebenfalls Weideplatz von Rehen, die den Boden noch zusätzlich düngen. Jedoch kommen die Pilze nicht an Standorten vor, wo Kunstdünger zum Einsatz gelangte. Solche Weiden sind oft von Bächen oder Mooren begrenzt, die den Boden stark durchnässen. Im Sommer bewirkt das gleichzeitig hohe Wärmeangebot in diesen feuchten Schneisen ein optimales Wachstum der Myzelien. Die Pilze kommen von den Meeresküsten bis ins Hochgebirge vor, eine Angabe aus 1720 m NN stammt auch aus Deutschland (Messtischblatt-MTB-8443, 1985). Die Fundhöhen streuen in der früheren Tschechoslowakei von 330-1000 m Höhe, einmal 1400 m, ohne dass eine bestimmte Höhenlage bevorzugt erscheint. Hier sind 54 Aufsammlungen aus 44 Orten bekannt (letzter Stand 1986). Im Gegensatz zu anderen Pilzarten wie dem Zuchtchampignon hat die Psilocybe-Art offensichtlich einen grösseren Temperaturbereich, indem sie fruktifizieren kann.
Man kann davon ausgehen, dass die Pilze in allen deutschen Bundesländern ziemlich verbreitet sind, wenn auch nirgends wirklich sehr häufig und dicht. Eine Grenze für das Wachstum der Art ist offensichtlich das limitierte Vorkommen von Dung in den für die Verbreitung...