2 Typen von Nationalismustheorien
2.1 Klassen von Typologien und die nationalismusgeschichtliche Forschung
Komplexitätsbewältigung durch Typologien
Es scheint eine direkte Reaktion auf die Unübersichtlichkeit und Gemengelage der Nationalismusforschung zu sein, dass sie lange Zeit zum Ordnungsschema der Typologisierung geneigt hat. Ein genuin neuzeitgeschichtliches Instrument sind typologische Systeme nicht. Das verhindert schon Leopold von Rankes historistische Formel über die Aufgabe des Historikers: sagen, wie es eigentlich gewesen. Das verweist immer wieder auf die Einzelfalluntersuchung und den Vergleich von Einzelfällen von unten nach oben, aber nicht auf die Bildung von Modellen, Idealtypen oder Argumentklassen, bei denen die Versuchung groß ist, ihnen eine historische Wirklichkeit passend zuzuordnen. Die Gefahr bei Verzicht auf typologische Ordnungsmodelle liegt darin, in der diffusen Empirie von Fallstudien jede Übersicht zu verlieren und der orientierungswissenschaftlichen Aufgabe der Geschichte nicht mehr gerecht werden zu können. Damit das nicht passiert, muss das, wofür »es« und »eigentlich« in Rankes Diktum steht, immer wieder neu bestimmt und ausgehandelt werden: Welche hidden agenda ist damit jeweils gemeint, deren virtuose Berücksichtigung eine Historikerinterpretation des Gewesenen von jeder anderen unterscheidet? Wie ist sie konstruiert? Wie lange ist sie wirksam?
Da es selbst für den Nationalismushistoriker praktisch ausgeschlossen ist, alle Nationalismustypologien und -modelle überhaupt zu kennen, ist es erst recht unmöglich, sie hier zusammenzufassen. Angestrebt ist eine Orientierungshilfe zu besonders häufig vorkommenden Typologisierungen und Modellen. Das Verständnis der Begriffe Typologie und Modell umfasst in dieser Darstellung auch herausragende Beispiele für ein bestimmtes Argumentationsmuster mit typologischen Elementen, z. B. den Voluntarismus oder Essentialismus. Diese methodische Unschärfe scheint inhaltlich gerechtfertigt, weil auf diese Weise lange Kontinuitäten in der Argumentation sichtbar gemacht werden können.
Sowohl bei einer typologischen wie meta-ideologischen wie sozialkommunikativen Nationalismusanalyse sind immer wieder quellennahe Fallstudien wichtig, um die Kontextgenauigkeit zu gewährleisten. Deshalb wird hier in Exkursen auf solche problemgeschichtlichen und historiographischen Zusammenhänge eigens hingewiesen.
Ein Grundproblem der Nationalismusforschung ist, dass Kontroversen um den Nationalismus in der Regel nicht intra- oder transdisziplinär, sondern politisch geführt werden. Tatsächlich sind echte Forschungskontroversen mit direkt aufeinander bezogenen Positionen die Ausnahme.149 Diversität und Positionalität beherrschen das Bild. Außerdem wirkt in der Nationalismusgeschichte ein weitgehender Konsens bzw. die hidden agenda einer Abgrenzung von erwünschtem konstruktivem und unerwünschtem destruktivem Nationalismus. Die folgenden Abschnitte der Nationalismusforschung seit Ernest Renans Sorbonne-Vortrag von 1882 lassen sich identifizieren:
Bis zur Andersonschen Wende 1983 dominieren die Gegensatzmodelle von Nationalismus. Ein prominentes Beispiel dafür ist Friedrich Meineckes Unterscheidung von Kultur- und Staatsnation von 1908 als Teil der Gegensatzbildung von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation. Der Soziologe und Volkswirt Werner Sombart (1863–1941) hat diesen Gegensatz, bezogen auf die Volkscharaktere Großbritanniens und Deutschlands, dann in seinem Weltkriegspamphlet »Händler und Helden« im Jahr 1915 vertieft.150 Solche ›us and them‹-Gegensatzbildungen mit offensichtlich identitätspolitischer, nicht analytischer Funktion151 sind heute Quellen der Nationalismusgeschichte.
Seit den 1970er Jahren dominieren die Phasen- oder Stufen-Interpretationen, idealtypisch entwickelt bei Peter Alter und Heinrich August Winkler. Sie unterlegen dem Nationalismus verschiedene Genre-Narrative, z. B. von Befreiung oder Verteidigung, Expansion oder Wiederauferstehung, die bausteinartig zu einer großen Meistererzählung verbunden werden können.
Ein eigener Pfad der Nationalismusdeutung ist der marxistische des dialektischen und historischen Materialismus. Das Hauptproblem des marxistischen Lehrbuch-Verständnisses von Nationalismus ist der argumentativ zirkelschlüssige Reduktionismus und die ideologische Vorgabe, Nationalismus als Überbauphänomen bestimmter Klassenkämpfe interpretieren zu müssen. Nationalismus wird auf diese Weise zu einem typischen Produkt der Kapitalismus- als Klassenkampfgeschichte reduziert. Sowohl bestimmte Aspekte des imperialen Nationalismus wie der Globalisierung lassen sich allerdings sogar besonders trennscharf marxistisch beschreiben, weil es um signifikante Erscheinungen der Kapitalismusgeschichte geht. Dies gilt allerdings nur, solange daraus kein monokausaler Ansatz wird.
Räumliche Interpretation von Nationalismen haben ihr Vorbild in Theodor Schieders Unterscheidung von nation-building-Prozessen in West-, Mittel- und Osteuropa.152 Auch das Thema des Transfernationalismus aus Europa in die Welt beruht auf einer räumlichen Sicht. Diese wurde durch den ›spatial turn‹ neu plausibilisiert, wenn auch für die Nationalismusgeschichte kaum genutzt. Der Transfernationalismus untersucht die Nationalismusproliferation als Teil der Europäisierung und Globalisierung der Welt. Dies ist kein einseitiger Prozess. Transnationale und globalgeschichtliche Perspektiven der Relationalität sowie der Imitation und des Wettbewerbs auf den nationalistischen Sinnstiftungsmärkten können einen Beitrag zum Verständnis des Nationalismus leisten.
Einige Typologien sollen hier anhand ihres Leitthemas oder erkenntnisleitenden Prinzips vor der Darstellung einzelner Beispiele angesprochen werden, weil sie immer wieder auftauchende Probleme der Nationalismusgeschichte thematisieren.
Hans-Ulrich Wehler: Politische Räume
Eine räumliche Variante schlägt Hans-Ulrich Wehler 2001 vor, indem er Phasen und Räume des Nationalismus verbindet.153 Er betont dabei die Nationalisierung von bestehenden Staaten im Westen Europas und Nordamerika, den Einigungs-Nationalismus in Mitteleuropa am Beispiel Italiens und Deutschlands, den Sezessions-Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg und den Transfer-Nationalismus in der Dekolonisierung nach 1945. Dabei handelt es sich um das räumliche Modell von Theodor Schieder aus dem Jahr 1966, ergänzt um den Aspekt des Transfernationalismus.154 In einer weiteren Variante bietet Wehler als alternative Typen Immigrations- und postkolonialen Nationalismus an, gesteht allerdings ein, dass der Erkenntnisgewinn dieser Einteilung beschränkt ist.155 Zudem geht Wehler zu stark von einer rein rezipierenden Haltung der (de-)kolonisierten Räume aus.
Das Grundproblem aller räumlichen Nationalismustypen bleibt die jeweils zu kleine Fallzahl einer typologischen Klasse, was letztlich doch wieder zu Individualvergleichen zwingt. Im Übrigen sind die Zuordnungskategorien mehrdeutig.
Eugen Lemberg: Nationalismus als Strukturprinzip Europas
1950 hat der aus Pilsen stammende, sudetendeutsche Historiker und Soziologe Eugen Lemberg (1903–1976) eine Geschichte des Nationalismus in Europa vorgelegt,156 die darum bemüht ist, Nationalismus als Strukturprinzip Europas zu verstehen.157 Lembergs Entwurf einer aus der historischen Zwangsläufigkeit des Volkstums-Denkens kommenden Geschichte des Nationalismus hat nicht als typologischer Entwurf, sondern als empirische Zeitdiagnose und Steinbruch für die weitere Nationalismusforschung in den 1950er und 1960er Jahren einigen Einfluss gehabt.158
Lemberg interessieren u. a. die Ideengeschichte des europäischen Universalismus, die Übergänge Europas vom Mittelalter zur Neuzeit und die Entstehung neuer politischer Akteure, der Weg vom Territorial- zum Nationalstaat, der Zusammenhang zwischen state- und nation-building, der Kulturnationalismus, der Nationalismus der Romantik, die Nationalitätenfrage und der sog. integrale, radikale Nationalismus. Das Charakteristische an Lembergs Gesamtdarstellung ist die volkstums-geschichtliche Behandlung des Nationalismus als einheitliches europäisches Strukturprinzip; die Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Staatsbildungsprozessen der mitteleuropäischen Territorien in der frühen Neuzeit; die Zentralstellung der Volksgruppen- und Irredenta-Problematik.
Nicht durchgesetzt hat sich die Einbeziehung des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit als Gegenstand der Nationalismusforschung. Die Nationalismusgeschichte heute betont demgegenüber die strukturelle Verschiedenheit der modernen Staats-, Infrastruktur- und Kommunikationsdichte vor und nach der politisch-industriellen Doppelrevolution, die Nationalismus in der Vormoderne strukturell ausschließt. Ohne Nationalismus gibt es keine Nation als moderne imagined community.
Kenneth Minogue: Globalgeschichtliches...