Einleitung
In den letzten Jahrzehnten sind etliche kritische, aber noch mehr reißerische Bücher und Dokumentationen zur NS-Zeit erschienen. Auch die Schulen haben sich in den vergangenen Jahren – im Gegensatz zu früher – verstärkt der Aufarbeitung dieser Epoche gewidmet. Diese Tatsachen könnten den Anschein erwecken, als ob zum Nationalsozialismus mittlerweile alles gesagt, geschrieben und gezeigt worden sei. Wozu also noch ein Buch? Weil es gerade für den regionalen Bereich keine zusammenschauende Darstellung gibt, weil etliche interessante Einzelstudien kaum zugänglich oder schwer lesbar sind und weil sich für jugendliche LeserInnen über die oft recht abstrakt und allgemein gehaltenen Schulbücher hinaus kaum erzählende Darstellungen der regionalen Ereignisse finden.
Die NS-Herrschaft in Vorarlberg war Teil des nationalsozialistischen Systems. Nicht mehr und nicht weniger. Und das nationalsozialistische Weltbild hat hier ebenso gewurzelt wie Zustimmung gefunden. Die Fundamente, auf denen die Attraktivität des Nationalsozialismus gründete und auf denen er dann seine Herrschaft aufbaute, waren auch hier ausgelegt: Rassismus, Antisemitismus, das Streben nach einem mächtigen Großdeutschland, die Revanche für die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Annahme, dass ein einziger Führer das Allgemeinwohl besser herstellen könne als eine parlamentarische Demokratie, die lange geschürte Angst vor dem Kommunismus und die Ablehnung aller Erscheinungen der städtischen Moderne. All diese Strömungen hat der Nationalsozialismus aufgegriffen, hetzerisch propagiert und in seiner Praxis radikal umgesetzt. Österreich hat aber nicht nur ideell zum Nationalsozialismus beigetragen; es hat den „Führer“ geliefert und im Verhältnis zur Einwohnerzahl überdurchschnittlich viele NS-TäterInnen gestellt. All diese belastenden Tatsachen konnte man Jahrzehnte lang erfolgreich von sich weisen.
Bis herauf in die 1980er Jahre herrschte eine Art offizielle Übereinkunft, dass der Nationalsozialismus Österreich als Fremdherrschaft aufgezwungen worden sei. Österreich sei selbst ein Opfer Hitlerdeutschlands gewesen. Für die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, besonders für den Holocaust, konnte man unter dieser Annahme alleine Deutschland verantwortlich machen. So war es möglich, die Mittäterschaft Österreichs erfolgreich zu verdrängen und lange zu leugnen. Auch in Vorarlberg wurden für alle negativen Erscheinungen und Gewaltmaßnahmen die deutschen Besatzer verantwortlich gemacht. Die heimischen TäterInnen und DenunziantInnen wurden so gut wie möglich verschwiegen – auch die Opfer. Und diejenigen, die keine aktiven AnhängerInnen der NSDAP waren, scheuten in der Regel eine öffentliche Diskussion, weil sie dann über ihre Hilflosigkeit und ihren Opportunismus hätten reden müssen.
Diese Mauer des Schweigens verhinderte die Auseinandersetzung mit dem NS-System, und eine streng gehandhabte Archivsperre bot den einheimischen Tätern amtlichen Schutz. Die Verheimlichung des eigenen Anteils an der politischen Katastrophe sollte der Stabilisierung des notdürftig hergestellten Nachkriegsfriedens dienen. Die großen demokratischen Parteien schielten in der Nachkriegszeit auf die Wählerstimmen der 540.000 ehemaligen österreichischen NSDAP-Mitglieder und deren Familienangehörigen und halfen deshalb mit, den Mantel des Schweigens über die Zeit des Nationalsozialismus zu breiten. Eine fundierte wissenschaftliche Aufarbeitung der nationalen und regionalen NS-Herrschaft war deshalb lange nicht gewünscht, sie wurde, wo immer es möglich war, erschwert. Auch in den Schulen umgingen die LehrerInnen das „heiße Thema“, so weit sie konnten. Das Feld der jüngeren Geschichte wurde so den familiären Erzählungen überlassen, und die waren in der Regel geschönt und verharmlosend und nach Bedarf und Zuhörerschaft zurechtgebogen. Von den NS-Verbrechen wollte man nichts gewusst haben.
In und trotz dieser Situation begann eine junge Generation in den 1970er Jahren kritische Fragen an die Geschichte der Elterngeneration zu stellen. Auch in Vorarlberg wurden nun unterschiedliche Aspekte wie etwa die Situation und Haltung der Kirche, Widerstand und Verfolgung, der Antisemitismus, die so genannte Euthanasie, die wirtschaftlichen Verhältnisse, das Funktionieren des Regimes auf lokaler Ebene oder Anfang und Ende der nationalsozialistischen Herrschaft erforscht. Die Literaturliste am Ende dieses Bandes zeugt davon.
Auf den Ergebnissen dieser kritischen zeitgeschichtlichen Arbeiten fußt dieses Buch. Es versucht eine inhaltlich bündige, sprachlich verständliche und wissenschaftlich abgesicherte Zusammenschau der vorhandenen Forschungsresultate. Nur in einigen Einzelfragen wurden neue Quellen erschlossen. Dabei war das Vorarlberger Landesarchiv, das seit etlichen Jahren von seiner früheren Sperrpraxis abgerückt ist, sehr hilfreich. Auch zahlreiche Gespräche mit ZeitzeugInnen und HistorikerkollegInnen halfen, das historische Bild stellenweise zu konkretisieren und offene Fragen zu klären.
Meine Grundhaltung bei der Herangehensweise an den historischen Stoff bleibt dieselbe wie bei früheren Arbeiten: Der Historiker hat nicht Richter zu spielen, er ist Überbringer von quellenmäßig abgesicherten Botschaften; er hat sich in die Zeit und die handelnden Personen hineinzudenken, ohne ihnen zu erliegen und ohne mit ihnen abzurechnen. Die LeserInnen sollen sich anhand der Darstellung ein eigenes Urteil bilden können. Sichtbar werden sollte aber, dass der Nationalsozialismus kein zufälliger politischer Irrlauf war, sondern dass er eine Vorgeschichte hatte, auf verwurzelte Vorurteile baute und wirtschaftliche Interessen bediente. Etliche dieser Vorurteile haben die NS-Herrschaft überdauert. Der Nationalsozialismus ist laut auf die politische Bühne getreten und schleichend in das Alltagsbewusstsein der Menschen eingedrungen; er hat den Idealismus von Menschen genutzt und sie gleichzeitig dazu angehalten, Menschlichkeit und persönliche Verantwortlichkeit einer „großen Sache“ zu opfern. Getragen war der Nationalsozialismus von einer rücksichtslosen Führungsschicht, von zahlreichen willigen und gehorsamen HelferInnen; und von erheblichen Teilen der Bevölkerung, die gleichgültig wegschauten oder von den anfänglichen Kriegserfolgen fasziniert waren. Und als vielen klar wurde, dass die nationalsozialistischen Machthaber mit dem demokratischen Staat auch die Grundrechte abschafften, auf den Krieg zusteuerten und ganze Bevölkerungsgruppen systematisch zu vernichten begannen, war ein Widerstand kaum mehr möglich, weil Verfolgung und Terror immer engmaschiger wurden. Diesen Weg in die totale Diktatur gilt es aus Gründen einer demokratiepolitischen Prävention besonders zu beachten.
Das Grundkonzept des Bandes folgt den Vorgaben der Herausgeberschaft von _erinnern.at_. Gleiche Arbeiten erscheinen nämlich für alle österreichischen Bundesländer. Dem Geschäftsführer von _erinnern.at_, Dr. Werner Dreier, dem Herausgeber, Dr. Horst Schreiber, und Mag.a Ruth Mayr vom Studienverlag habe ich nicht nur für die hilfreiche Begleitung des Projekts, sondern besonders für das Vertrauen, das sie mir vorgeschossen haben, zu danken. Dr. Kurt Greussing hat den Text einem kritischen Lektorat unterzogen und Mag.a Christine Breuss die letzten Unrichtigkeiten aufgespürt. Helga Platzgummer (Stadtarchiv Dornbirn), Mag. Thomas Klagian (Stadtarchiv Bregenz), Dr. Hanno Loewy (Jüdisches Museum Hohenems) haben bereitwillig die Fotobestände ihrer Einrichtungen und Willi Rupp sein Privatarchiv durchsucht und zugänglich gemacht. Eingeflossen sind auch Bilder der umfangreichen Sammlung der Johann-August-Malin-Gesellschaft. Dankbar bin ich auch den MitarbeiterInnen des Vorarlberger Landesarchivs, besonders dem Leiter Dr. Alois Niederstätter, für Hilfestellungen und die Atmosphäre des Willkommenseins in ihrer nützlichen Institution. Eine Hilfe waren mir auch die Schülerinnen und Schüler einer vierten und einer achten Klasse des Bundesgymnasiums Bregenz Gallusstraße mit ihren interessanten Fragen.
Für mich als Autor bedeutete dieses Buch einen hohen Arbeitsaufwand, und die Herausgeber und Subventionsgeber haben etliche finanzielle Mittel dafür aufgebracht. Deshalb hoffen wir alle, dass es möglichst vielen LeserInnen historische Einsichten vermittelt und aktuelle Bezüge erkennen lässt; dass es mithilft, die NS-Herrschaft nicht als etwas Fernes, sondern als auch im Bundesland Vorarlberg Gewachsenes zu begreifen. Der Nährboden dafür sollte sichtbar werden. Demokratie, Rechtsstaat, soziale Gerechtigkeit und Humanität sind ideelle Güter, die es ständig zu verteidigen und zu leben gilt. Die Versuche, sie auszuhöhlen, sind vielfältig. Mächtige Interessengruppen und inhumane Ideologien drängen immer wieder auf eine Konzentration von wirtschaftlicher und politischer Macht. Demokratie lebt aber von der Machtverteilung, vom Interessenausgleich, von der Rechtssicherheit und vom Engagement der BürgerInnen.
Den Aufrechten, die trotz Unterwerfungszwangs Haltung bewahrten, den Mutigen, die gegen das staatliche Unrecht aufbegehrten oder die Waffe verweigerten, den...