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Evolutionär
»Wir vermögen mehr, als wir glauben. Wenn uns das bewusst wird, werden wir uns wahrscheinlich nicht mehr mit weniger zufriedengeben.«
Kurt Hahn
Evolutionärer Hintergrund
Stell dir vor, du gehst draußen in der Natur spazieren, vielleicht mit einer Gruppe enger Verwandter und Freunde, nur eben nicht jetzt, sondern vor 50 000 Jahren. Die Struktur deines Körpers sieht nicht anders aus als heute, aber deine Umgebung ist eine völlig andere. Alles ist wild, es gibt keine Straßen, keine Autos, keine Städte, keine Restaurants oder Einkaufszentren und keine Flugzeuge am Himmel. Du bist ein Jäger und Sammler, manchmal sogar ein Aasfresser, und deine hungrige Truppe will so viele nahrhafte Lebensmittel wie möglich auftreiben.
Zur Verfügung stehen dir nur primitive Hilfsmittel, aber dein Körper selbst ist eine erstaunlich leistungsfähige biologische Maschine. Vielleicht ist er ganz schlank und durchtrainiert – fit, wie man heute sagen würde –, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist er aber kräftig, flink, agil und widerstandsfähig. Zusätzlich zu diesen beneidenswerten physischen Qualitäten verfügst du außerdem über extrem scharfe Sinne, akute Wachsamkeit und mentale Stärke. Und nicht zuletzt verfügst du über Scharfsinnigkeit und Erfahrung, die bei der Planung effektiver Überlebensstrategien unerlässlich und der Kombination aus roher Kraft und stumpfem Geist weit überlegen sind. Unter Umständen musst du ein weitläufiges Gebiet erkunden und mit verschiedenen Umwelt- und Wetterbedingungen zurechtkommen, um zu jagen oder zu sammeln, was deine Gruppe zum Überleben benötigt. Was immer deine Überlebensstrategie auch sein mag, du brauchst effektive natürliche Bewegungen, um opportunistisch, anpassungsfähig und vor allem erfolgreich zu sein.
Deine Art zu leben zwingt dich ständig zu vielen verschiedenen, manchmal äußerst intensiven körperlichen Anstrengungen. Zwar sind auch längere Phasen der Ruhe und Erholung eine unerlässliche Komponente langfristigen Überlebens, für notorische Faulpelze ist in dieser wilden Zeit und Welt jedoch kein Platz. Deine Gruppe besteht deshalb aus ungezähmten, wilden und ursprünglichen Individuen. Mit anderen Worten: Du bist ein natürlicher Mensch und das Ausüben natürlicher Bewegungen ist für dich ein Muss und tägliche Realität. So sah der Alltag von Menschen und frühmenschlichen Lebewesen rund drei Millionen Jahre lang aus.
Bis vor etwa 12 000 Jahren etwas passierte, das die Überlebensstrategie der meisten Menschen auf der Erde radikal veränderte und ihr Leben tief greifend beeinflusste: die Erfindung der Landwirtschaft. Zwar war der Ackerbau in Verbindung mit Fischen, Jagen und dem Sammeln wilder Früchte zweifellos ein Vorteil im Kampf ums Überleben und entwickelte sich – gemeinsam mit der Viehzucht – schnell zur wichtigsten Methode der Lebensmittelversorgung, verursachte aus Sicht der Bewegungslehre aber auch zusehends physische Probleme.
Es dauerte nicht bis zum Beginn des Informationszeitalters oder gar der Industrialisierung, bis die Menschheit ihr physisches Verhalten dramatisch veränderte. Tatsächlich begann diese Veränderung bereits in der Ära von Ackerbau und Viehzucht. Weil wir uns plötzlich um Felder, Ernten und Tiere kümmern mussten, die sich auf räumlich begrenzten Flächen befanden, sanken die Distanzen, die wir täglich zurücklegen mussten, auf einmal erheblich. Niemand musste mehr kilometerweit laufen, um zur Arbeit zu gelangen. Die Veränderungen betrafen nicht nur die bloße Strecke, die wir täglich zu Fuß zurücklegten, sondern reduzierten auch die Vielfalt der Bewegungen, die wir regelmäßig ausführten, massiv. Felder wurden aller natürlichen Variablen beraubt und so zu künstlichen Anlagen. Bäume (lebend oder tot), Stümpfe, ungewünschte Vegetation und selbst Hügel und Senken im Boden wurden entfernt, sodass das Land vollständig kontrolliert und bewirtschaftet werden konnte. Felder waren nun flach, linear und berechenbar, natürliche Komplexität und Diversität gab es nicht mehr. Diese drastischen Veränderungen des Terrains zogen auch drastische Veränderungen unserer natürlichen Bewegungsmuster nach sich.
Aktivitäten, die vorher im Alltag lebenswichtig waren, wie Laufen, Springen, Balancieren, Kriechen oder Klettern, waren auf einmal nur noch selten gefragt. Sie verschwanden jedoch nicht gänzlich – kleine Kinder üben sie bis heute ganz instinktiv –, sie waren nur plötzlich nicht mehr die Norm. Es war auch nicht so, dass uns nun keine physischen Anstrengungen mehr abgefordert wurden. Im Gegenteil: Der menschliche Alltag wurde sogar noch anstrengender, weil Landwirtschaft damals ausschließlich aus körperlicher Arbeit bestand. Im Vergleich zur Bewegung der Jäger und Sammler war die Bewegungsvielfalt der Bauern aufgrund der Veränderungen an ihren Anbauflächen allerdings massiv limitiert.
Wenn man das grundsätzliche Bewegungsverhalten heutiger Jäger-und-Sammler-Kulturen betrachtet, die sich technologisch noch immer auf einem primitiven Niveau befinden, dann sehen wir, dass sie sich notwendigerweise ein breites Repertoire an Bewegungen bewahrt haben. Um genau zu sein, die gesamte Bandbreite der »natürlichen Bewegung«, inklusive Laufen, Kriechen, Springen, Balancieren, Klettern, Werfen, Fangen, Heben, Tragen und manchmal auch Schwimmen. Vielleicht üben sie nicht all diese Formen von Bewegung mit der gleichen Frequenz und Intensität aus – denn die Ausprägung und Verwendung bestimmter Bewegungsmuster hängt stets auch von den individuellen Fähigkeiten und der Umgebung ab, in der eine Menschengruppe lebt –, aber insgesamt lässt sich eine größere Bewegungsvielfalt beobachten als in Kulturen, die Ackerbau betreiben.
Es existiert ganz klar ein gravierender Unterschied zwischen unserem heutigen physischen Verhalten und dem unserer Urahnen sowie neuzeitlichen Kulturen von Jägern und Sammlern. Jahrmillionenlang wurden wir Menschen physisch und physiologisch von natürlichen Bewegungen in einer wilden Umgebung geformt. Ein paar Tausend Jahre waren für unsere Körper nicht genug, um uns genetisch an die Bedingungen neuzeitlicher Lebensverhältnisse anzupassen. Dieses evolutionäre Missverhältnis beeinflusst unseren Körper, unsere Gesundheit, unseren psychologischen Zustand und unser Leben. Die Evolution – also Millionen Jahre des Lebens in der freien Wildnis – bestimmt nicht nur, zu was wir imstande sind, sondern auch, was unsere Natur physisch und mental von uns erwartet. Menschen sind in unserer modernen Welt zwar noch nicht komplett fehl am Platz – einige unserer evolutionär bedingten Verhaltensweisen allerdings schon.
Ein evolutionäres Missverhältnis: Das Zoomensch-Dilemma
Betrachten wir das typische physische Verhalten und die Bewegungsmuster eines modernen, zivilisierten Menschen. Ich möchte an dieser Stelle noch nicht auf die Künstlichkeit moderner Lebenswelten eingehen, die auch ein Grund für das evolutionäre Missverhältnis sind und oft als »Zoomensch-Zustand« bezeichnet werden. Zunächst geht es mir nur darum, wie wir uns in einer modernen Umgebung bewegen oder nicht bewegen.
Was tun wir, wenn wir aufwachen? Wir steigen aus dem Bett und gehen einige wenige Schritte in die Küche, wo wir uns zum Frühstück an den Tisch setzen. Oder wir gehen ins Bad, wo wir uns unter die Dusche stellen. Schon bald wird es dann Zeit, uns auf den Weg zur Arbeit oder zur Schule zu machen. Vielleicht müssen wir dafür einen kurzen Weg zu Fuß zurücklegen, zum Auto, zur Bushaltestelle oder zum Bahnhof. Einige wenige, körperlich aktive Menschen fahren mit dem Rad. Doch selbst die sitzen, während sie fahren.
In der Schule oder auf der Arbeit nehmen wir sofort Platz, um mit unseren Aufgaben zu beginnen. In der Mittagspause stehen wir vielleicht kurz auf und gehen ein paar Schritte zur Kantine oder in einen Imbiss, wo wir uns wieder setzen und essen, bis wir an unseren Arbeitsplatz zurückkehren. Über den Tag verteilt unterbrechen wir unsere sitzende Tätigkeit vielleicht hin und wieder, dann stehen wir auf und gehen hinüber zum Kaffeeautomaten (wo wir mitunter kurz stehen bleiben und plaudern), oder zur Toilette, wo wir uns wieder kurz hinsetzen.
Nach Feierabend kehren wir auf dieselbe Art nach Hause zurück, wie wir gekommen sind – also vermutlich im Sitzen. Am Ende des Tages fühlen wir uns müde und setzen uns aufs Sofa, wo wir entspannen wollen und Unterhaltung suchen. Oder wir setzen uns auf einen Stuhl, um noch mehr Zeit am Computer zu verbringen – entweder, um ein paar Überstunden zu machen, oder um uns in den sozialen Medien mit anderen zu vernetzen. Physisch aktive Menschen – die in der heutigen Gesellschaft eine Minderheit ausmachen – gehen nach...