Zur Einführung
Birgitta Annette Weinhardt / Joachim Weinhardt
Der Konstruktivismus hat seit zwei Jahrzehnten Hochkonjunktur, gleichzeitig bezeichnet dieser Begriff aber keinen wohlumrissenen Standpunkt, sondern eine recht diffuse Denkströmung. Gemeinsam ist den Spielarten des Konstruktivismus die Betonung der Subjektivität von Erkenntnis und Handeln. Dabei wird aber meist nicht klar, worin eigentlich das Neue der Konstruktivismen besteht etwa im Verhältnis zur Erkenntnistheorie Kants, zum kritischen Rationalismus, zur Hermeneutik, zu den psychodynamischen Anschauungen des frühen 20. Jahrhunderts und zu anderen Theorien.
Im vorliegenden Band stellen Natur- und Geisteswissenschaftler Phänomene und Theorien (also Konstrukte) aus ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich vor und beschreiben die Wirklichkeiten, derer sie mit ihren Methoden ansichtig werden. Die ersten drei Beiträge kreisen um die erkenntnistheoretische Kernthese des sog. radikalen Konstruktivismus. Nach dieser These sind Organismen – auch Menschen – informationell geschlossene Systeme, nehmen also keine Information aus ihrer und über ihre Umwelt auf. Das neuronale System erkennt deswegen nicht die Welt, sondern nur sich selbst und seine eigenen Zustände. Bernhard Pörksen (Der Blick des Kritikers. Einwände gegen den Konstruktivismus) skizziert die Geschichte des radikalen Konstruktivismus und arbeitet als Ergebnis heraus, dass die erkenntnistheoretischen Spitzenthesen Maturanas, von Glasersfelds und von Foersters genau dann eine zeitweilige Berechtigung haben, solange es „dogmatisch gewordene Objektivitätsansprüche“ und „ideologische Fixierungen“ gibt, die aufgebrochen werden sollen. Damit ist aber auch ein Hauptanliegen des kritischen Rationalismus ausgedrückt. Dieser impliziert durchaus keinen naiven Realismus. Denn das Prinzip der Annäherung eines Wirklichkeitsmodells an die Wirklichkeit setzt nicht voraus, dass man zur Feststellung der Annäherung das Modell mit der Wirklichkeit selbst vergleichen müsse, die man doch nur im Modell abgebildet hat. Die Annäherung des Modells an die Wirklichkeit kann auch retrospektiv im Vergleich der Vorläufer-Modelle unter einander festgestellt werden. So ist das heutige Bild des Universums näher am „wirklichen“ Universum als das altbabylonische, obwohl das Modell sich auch zukünftig niemals in ein Double der Wirklichkeit verwandeln wird. Ulf Dettmann (Über einige Widersprüche konstruktivistischen Denkens) weist auf dieser Linie die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus durch eine logische und erkenntnistheoretische Analyse des Informationsbegriffs zurück. Er stellt fest, dass radikalkonstruktivistische Autoren sich an einer objektivistischen Erkenntnistheorie abarbeiten, die in der Gegenwart von niemandem mehr ernsthaft vertreten wird. Der kritische Realismus bzw. Rationalismus habe alle antiobjektivistischen Argumente schon vorweggenommen.
Vielleicht ist es an dieser Stelle sinnvoll, noch einmal so holzschnittartig wie nötig auf die Linie hinzuweisen, die von Kant aus auf den kritischen Rationalismus zuläuft. Kant hat die Wirklichkeit an sich, die uns prinzipiell nicht erkennbar ist, von der Wirklichkeit unterschieden, wie sie uns erscheint. Im Hintergrund steht dabei die Vorstellung, dass die erscheinende Wirklichkeit sich vollständig an unsere Formen der Anschauung und unsere Verstandesbegriffe anpassen müsse. Die uns erscheinende Wirklichkeit ist ein Abbild, eine Repräsentation, ein Modell der Wirklichkeit an sich. Eine vollständige Analyse der uns erscheinenden Wirklichkeit führte dann zu einem vollständigen Modell oder einem vollständigen Bild der Wirklichkeit an sich. Ein Bild bzw. ein Modell ist niemals eine Kopie, ein Klon der Wirklichkeit an sich. Es ist ja auch ein Bild von einem Menschen (etwa eine Fotografie) nicht identisch mit dem abgebildeten Menschen. Von keinem Bild einer Person wird erwartet, dass es aus organischen Molekülen besteht, die identisch sind mit den organischen Molekülen der abgebildeten Person (und was daraus emergiert). Von solchen Intuitionen geht aber der radikale Konstruktivismus aus, wenn er sich einen naiven Realismus konstruiert, der heute von niemandem vertreten wird. Alle realistischen Theorien nehmen vielmehr an, dass es eine Wirklichkeit außerhalb der menschlichen Subjektivität gebe und dass es möglich sei, diese Wirklichkeit in Bildern, Modellen oder Repräsentationen darzustellen. Aus dieser Voraussetzung folgt dann auch die Möglichkeit einer indirekten Annäherung des Modells oder des Bildes an die Wirklichkeit an sich. Das Modell z. B. des Universums kann verbessert werden, wenn die Komplexität dieses Modells zunimmt und wenn durch die Komplexitätszunahme die daraus abgeleiteten Prognosen über das zukünftige Verhalten des Universums oder seiner Teile immer stimmiger werden. Ein ideales Modell oder Bild des Universums bestünde darin, dass alle seine an-sich-seienden Elemente (Entitäten und Strukturen) durch je ein repräsentierendes Element im Modell bzw. im Bild vertreten wäre. Selbst in diesem Falle wären das Bild und das von ihm repräsentierte Universum nicht identisch miteinander, sondern kategorial voneinander unterschieden. Aber ein Modell A, das doppelt so viele Elemente des Universums an sich repräsentiert wie Modell B, wäre auch indirekt näher am Universum an sich als B. Modell A entspricht in der Quantität der repräsentierten Elemente mehr dem Universum an sich als B, was man als einen numerischen, wenn auch nicht geometrischen Annäherungsprozess bezeichnen kann. Als Modell bleibt aber auch A kategorial unterschieden vom modellierten Universum an sich, was durch das Attribut der Indirektheit dieser Annäherung ausgedrückt wird.
Es ist durchaus möglich, dass es verschiedene, aber gleich ideale Bilder vom Universum gibt. Schließlich kann auch niemand je feststellen, dass ein bestimmtes Bild des Universums eines der idealen Bilder sei. Denn es könnte Strukturen des Universums geben, die prinzipiell niemals für uns in Erscheinung treten und für die wir deswegen auch kein repräsentatives Element im Bild des Universums entwerfen und auf seine Stimmigkeit hin überprüfen können. Dies alles aber hält sich im Rahmen des kritischen Rationalismus, und der radikale Konstruktivismus müsste entweder zeigen, worin seine spezifische Differenz zu jenem liegt, oder sich selbst als besondere Erkenntnistheorie verabschieden.
Eine Hypothese zur Erklärung der Diskrepanz zwischen der antiobjektivistischen Polemik der Radikalkonstruktivisten und dem Nichtvorhandensein real existierender Objektivisten kann aus dem Beitrag von Annette Scheible (Piaget und der radikale Konstruktivismus) erschlossen werden. Sie geht in ihrer Untersuchung der Piaget-Interpretation durch von Glasersfeld der Frage nach, ob bei Piaget eine kantianische Erkenntnistheorie vorliege (also eine Art intersubjektiver Konstruktivismus), auf die sich auch von Glasersfeld zubewegte, oder ob beide Gelehrte eine individuell-subjektive Welterzeugung und Weltsicht vertraten. Was Scheible über die Biografien der Begründer des radikalen Konstruktivismus berichtet, erweckt den Anschein, als hätten sie sich von Wittgensteins frühem Positivismus loskämpfen wollen, ohne eine gründliche philosophische Schulung durchlaufen zu haben oder eine solche nachzuholen. So hätte ein blinder Fleck entstehen können, der sie an der Wahrnehmung etablierter nicht-positivistischer Wissenschaftstheorien hinderte.
Dirk Evers (Wirklichkeit – „Was der Fall ist“ oder „Wie es Euch gefällt“?) entwickelt einen Zugang zur Wirklichkeit, indem er drei gleichursprüngliche Perspektiven unterscheidet, in welchen sie uns gegeben ist und in deren Zusammenschau sie zumindest in Ansätzen rekonstruierbar ist. In der einen Perspektive erscheint uns die Wirklichkeit als das Objekt unserer theoretischen Beschreibung. In dieser Perspektive der dritten Person („es verhält sich so und so“) können wir an der Wirklichkeit scheitern, wenn unser Handeln, das wir aus der Theorie ableiten, misslingt. Hier ist nicht nur, aber an prominenter Stelle auch die Naturwissenschaft am Werk mit ihrer Hypothesenbildung, ihren Falsifikationsmechanismen und ihrer technischen Handlungspotenz. In einer anderen Perspektive erfahren wir die Wirklichkeit als die Dynamik, die uns selbst hervorgebracht hat. Diese Perspektive ist die der ersten Person. Wir haben von Innen her einen Blick auf die Wirklichkeit, die uns in der Dritten-Person-Perspektive äußerlich ist. Beide Perspektiven hängen zusammen, weder ist die Erste-Person-Perspektive ein bloßes Epiphänomen noch die Dritte-Person-Perspektive ein bloßes Konstrukt. Die dritte Perspektive auf die Wirklichkeit schließlich nimmt dieselbe als eine Dynamik von kontingenten Verwirklichungsprozessen des Möglichen vor. Nicht nur für den religiösen Menschen eröffnet dieser Blick auf die Wirklichkeit einen Bereich des Transzendenten, welches für uns noch nicht wirklich ist, uns aber neue Wirklichkeiten eröffnet. Zumindest für den religiösen Menschen ist dieser Blick auf die Wirklichkeit eine Perspektive der zweiten Person, insofern er sich in einen Dialog mit der transzendenten Wirklichkeit begeben kann.
Es zeigt sich in den bisher genannten Beiträgen, dass die Naturwissenschaften es sind, die über besonders tragfähige Wahrheitskriterien verfügen. Weltanschauliche Orientierungssysteme (z. B. Philosophien und Theologien) auf der Basis des kritischen Rationalismus sollten also daran...