Einführung *
Die gegenwärtige Situation: Unbehagen mit der Theoriebildung im Bereich der Sozialen Arbeit
Das Niveau des professionellen und wissenschaftlichen Denkens und Handelns im Bereich der Sozialen Arbeit wird heute von vielen Beteiligten als unbefriedigend empfunden. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie liegen aber nicht nur im (vermeintlichen) Desinteresse der Praxis an Theorie, dem dünnen Netz an überwiegend sozialpädagogisch und damit disziplinär eher einseitig ausgerichteten universitären Lehrstühlen oder den strukturellen Schwächen des Fachhochschulsystems, sondern vor allem in der theoretisch und praktisch nicht bewältigten „diffusen Allzuständigkeit“ der Sozialen Arbeit. (so z. B. Bommes/Scherr 1996, S. 93, Ferchhoff 1993, S. 708)
Dieser ungeklärten Zuständigkeit zufolge erscheint es – so die Argumentation von Bommes/Scherr – außergewöhnlich schwierig, „eine singuläre wissenschaftliche Theorie der Sozialen Arbeit“ (Bommes/Scherr 1996, S. 93) zu entwickeln. Gelingt dies aber nicht, stellt sich die Frage, ob es sich beim Begriff der Sozialen Arbeit lediglich um ein historisch etabliertes Einheitsetikett für heterogene Praktiken handelt, „deren Zusammenhang nur noch darin besteht, daß sie als Soziale Arbeit die berufliche Ausbildung zum Sozialarbeiter/Sozialpädagogen voraussetzen“. (ebd.)
Will man sich nicht mit einer solch orientierungsschwachen weil theorielosen Beschreibung der Sozialen Arbeit zufrieden geben, so gilt es, sie nicht tätigkeitsspezifisch, sondern formal zu bestimmen. Bommes/Scherr schlagen dazu vor, Soziale Arbeit bezüglich ihrer gesellschaftlichen Funktion zu begrenzen. Eine Möglichkeit dazu bietet ihrer Ansicht nach die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Im Rahmen dieser Theorie sind Individuen „zu ihrer psychischen und physischen Selbsterhaltung darauf angewiesen, am Kommunikationsprozeß sozialer Systeme teilzunehmen“, und setzen alle Funktionssysteme „eine bestimmte Selbstdisziplinierung der Individuen zu erwartungsstabilen Personen voraus und sehen Möglichkeiten der Exklusion von Individuen vor“. (ebd., S. 103) Da wo dies geschieht und wo Exklusion aus wichtigen Teilsystemen der Gesellschaft bzw. Exklusionsrisiken vom Einzelnen nicht mehr bewältigt werden können, werden wohlfahrtsstaatliche Interventionen erforderlich.
Wohlfahrtstaatliche Leistungsverwaltungen regeln dann im Rahmen von Sozialversicherungen den Einsatz dieser Hilfemaßnahmen. Neben diesen, meist monetär ausgerichteten Versicherungsleistungen, denen der Rang einer Erstsicherung zukommt, treten Bommes/Scherr zufolge in der modernen Gesellschaft außerdem Formen der Zweitsicherung auf, insbesondere in Gestalt von Sozialhilfe und Sozialer Arbeit.
„Sozialhilfe und soziale Arbeit als Zweitsicherung im Wohlfahrtsstaat sind daher zuständig für die Organisation von ‚Hilfe‘ in der Form der Geldzuteilung, Beratung, Erziehung, Bildung und stellvertretendem Handeln, die jeweils auf spezifische Fälle zugeschnitten ist und dann einsetzt, wenn generalisierte Absicherungen entweder nicht greifen oder aber einsetzende Exklusionsdynamiken nicht aufzuhalten in der Lage sind. Soziale Arbeit fällt dann die stellvertretende Inklusionsvermittlung und Exklusionsvermeidung auf der einen sowie auf der anderen Seite auch Exklusionsverwaltung zu.“ (ebd., S. 106f., Hervorhebung im Original)
Positioniert man die Soziale Arbeit auf diese Weise, wird es möglich, „ein einheitliches Bezugsproblem, auf das alle Bereiche der Sozialen Arbeit bezogen sind, und die zugehörigen Operationsweisen“ (ebd., S. 110) darzustellen. Damit aber verliert die Soziale Arbeit ihre Allzuständigkeit; als „organisierte unspezifische Hilfebereitschaft“ (Bommes/Scherr 2000, S. 62) ist sie jetzt nur noch da zuständig, wo es um Probleme sozialer Inklusion/Exklusion geht.
„Man kann nicht erwarten, daß dies Problem innerhalb der einzelnen Funktionssysteme gelöst werden kann; denn einerseits ist eine Inklusion nur vor dem Hintergrund möglicher Exklusionen denkbar, und andererseits läßt sich das Problem der wechselseitigen Verstärkung von Exklusionen keinem einzelnen Funktionssystem zuordnen. Deshalb wäre eher damit zu rechnen, daß sich ein neues, sekundäres Funktionssystem bildet, das sich mit den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befaßt – sei es auf der Ebene der Sozialhilfe, sei es auf der Ebene der Entwicklungshilfe. Die Ressourcenabhängigkeit dieser Bemühungen – wirtschaftlich, politisch und auch religiös gesehen – ist jedoch so stark, daß man zweifeln kann, ob es sich um weit verstreute Bemühungen auf der Ebene von Interaktionen und Organisationen handelt. Deutlich erkennbar ist, daß es nicht mehr um caritas oder um Armenpflege im Sinne der Tradition geht, sondern um Bemühungen um strukturelle Veränderungen (Stichwort: Hilfe zur Selbsthilfe). Vielleicht können wir hier ein Funktionssystem im Entstehen beobachten.“ (Luhmann 1997, S. 633 ff.)
Präzisiert man auf diese Weise die Funktion der Sozialen Arbeit, so wird ihr Bezugsproblem nicht nur wesentlich bestimmter, sie selbst wird zu einem unverzichtbaren Element des modernen Wohlfahrtsstaates. Eine Intensivierung und Neuausrichtung der Theoriebildung und Forschung wird jetzt möglich. Vor allem: Soziale Arbeit muss nicht mehr als konkrete Tätigkeit konstruiert werden, sondern kann sich jetzt – um ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht werden zu können – mit ihren vielfältigen Interventionen auf spezifische Problemstellungen einstellen, d. h. sie kann helfen, beraten, moderieren, intervenieren, erziehen, betreuen, Geld zur Verfügung stellen etc.
Auf diese Weise wird auch deutlich, dass die bisherige disziplinäre Verortung der Sozialen Arbeit im Bereich der Sozialpädagogik, die sich exklusiv am Erziehungs- und Bildungsbegriff orientiert (so z. B. Thiersch 1996, 2002; Hamburger 2003, S. 14 ff.), nicht länger angemessen erscheint, um die gesamte Bandbreite der Tätigkeiten, die Sozialarbeit einnimmt, zu umfassen. Erforderlich wird damit nichts weniger als eine neue Metatheorie, die in der Lage ist, die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit sowohl zu beschreiben als auch zu reflektieren (Erath 2004).
Auf der Suche nach einer Metatheorie der Wissenschaft der Sozialen Arbeit
Die Bildung einer Disziplin, die diese Reflexionsleistungen organisiert und strukturiert, kann jedoch nur gelingen, wenn sich die dafür konstitutive Perspektive nicht aus der Praxis selbst – quasi ontologisch –, sondern aus dem Wissenschaftssystem heraus, das für Disziplinbildung zuständig ist, ableiten lässt.
Mit diesem Buch wird ein solcher Versuch unternommen, wobei hier für die sich aus dieser Metatheorie ausbildenden Disziplin aus pragmatischen Gründen der Begriff „Sozialarbeitswissenschaft“ dem der „Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ (z. B. Mühlum 2000, S. 103; 2004) bzw. „Wissenschaft Soziale Arbeit“ (Engelke 2004) vorgezogen wird. Die in dieser Darstellung trotzdem oftmals verwirrende Verwendung der Begriffe Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Soziale Arbeit ist allein den unterschiedlichen Autoren geschuldet. Neue Wissenschaften entstehen jedoch nur da, wo es gelingt, erkenntnisleitende Fragestellungen oder Problemstellungen zu identifizieren und erfolgreich zu besetzen, die von anderen Wissenschaften nicht wahrgenommen werden. Nur damit erfüllen sie „die Anforderung, die in der modernen Wissenschaftstheorie formuliert wird, wissenschaftliche Disziplinen durch Bezug auf bestimmte, oft hoch selektive Probleme von anderen Disziplinen mit anderen Problemen abzugrenzen“. (Homann/Suchanek 2000, S. 3) Daher folgt dieses Buch bei der Entwicklung einer Metatheorie der Sozialarbeitswissenschaft der Argumentation des schwedischen Sozialarbeitswissenschaftlers Haluk Soydan (1999). Dieser hat im Rahmen einer ideengeschichtlichen Argumentation gezeigt, wie sich die Sozialarbeit als Wissenschaft aus der Soziologie heraus in eine grundlagen-, handlungs- und professionstheoretische Fragestellungen verknüpfende Wissenschaft ausdifferenziert hat. Demnach erscheint Sozialarbeitswissenschaft als eine komplexe Transdisziplin (Papenkort/Rath 1994), deren Besonderheit darin besteht, drei Theorieebenen untrennbar miteinander zu verknüpfen:
“to have a theory of society or of man as social being, to have a programme, a scheme for changing problematic situation, and to have a group of people committed to carrying this change through“. (Soydan 1999, S. 6)
Sozialarbeitswissenschaftliches Denken und Handeln erscheint von dieser Sichtweise aus als eine Praxis, die sich bei der Durchführung ihrer Operationen an diesen drei Theorieebenen orientiert und vor diesem Hintergrund ihre Entscheidungen vollzieht und ihr Handeln reflektiert.1
Allgemeine Sozialarbeitswissenschaft als disziplinärer Bezugsrahmen sozialarbeitswissenschaftlichen Denkens und Handelns
Akzeptiert man diese Argumentation, dann lassen sich – und darauf zielt diese Arbeit – die vorhandenen sozialarbeits- und bezugswissenschaftlichen Theorien, Modelle und Konzepte unter einem einheitlichen Gesichtspunkt systematisch zusammenzuführen. Und auf diese Weise lässt sich auch möglicherweise, entgegen der den wissenschaftlichen Disziplinen immanenten Tendenz zur weiteren Ausdifferenzierung, ein disziplinübergreifendes Wissen bewahren.
Sieht man einmal von den Handbüchern ab, die einzelne Begriffe bzw. Themenstellungen der Sozialen Arbeit/Sozialarbeit überblicksartig darstellen (so z. B. Eyferth/Otto/Thiersch 2001, Thole 2002, Kreft/Mielenz 2005), bzw. Kompendien, die verschiedene Positionen im Streit um...