3.2 Was kennzeichnet guten Lese- und Schreibunterricht?
Was macht guten Lese- und Schreibunterricht aus? Diese einfache Frage ist nur schwer zu beantworten, und deshalb werden in diesem Kapitel auch zwei verschiedene Ansätze zur Beantwortung vorgestellt. Eine erste Perspektive besteht darin, die Ergebnisse von Beobachtungsstudien ausgezeichneter Lehrkräfte zu konsultieren. Eine zweite Sichtweise speist sich aus den Ergebnissen von Interventionsstudien, die metaanalytisch ausgewertet wurden.
Ergebnisse aus Beobachtungsstudien
Am eindeutigsten fällt guter Unterricht dadurch auf, wenn man ihn mit weniger gutem Unterricht vergleicht. Das passiert an dieser Stelle anhand zweier Porträts. Beide Fälle stammen aus derselben Studie rund um den US-amerikanischen Forscher Michael Pressley (Pressley, Wharton-McDonald, Mistretta-Hampston & Echevarria, 1998). Die beiden Lehrkräfte aus der Untersuchung stehen prototypisch für zwei Arten von Unterricht, den Kinder erleben. Bitte lesen Sie die beiden nachstehenden Beispiele und notieren Sie sich gesondert, welche Differenzen Sie im Unterricht von Mr. Smith und Mrs. Kurtz festgestellt haben.
Beispiel 1: Mr. Smith
Der Lehrer, der eine vierte Klasse unterrichtet, lässt relativ einfache Geschichten im Klassenverband lesen oder diskutieren. Dabei stellt vor allem Mr. Smith die Fragen. Wöchentlich werden diese Leseaktivitäten mit kürzeren Lesezeiten gemischt, in denen die Kinder Fragen der Art beantworten, von denen Mr. Smith glaubt, sie könnten am Jahresende in den Abschlusstests vorkommen. Die Schülerinnen und Schüler schreiben bis auf diese Minitests kaum, und sie lesen kaum ganze Bücher, obwohl sie drei Bücher innerhalb von zehn Wochen lesen sollten. Was die Kinder lesen, steht weder innerhalb der gelesenen Texte noch außerhalb des Muttersprachenunterrichts in Verbindung mit weiteren curricularen Inhalten.
Die Schülerinnen und Schüler arbeiten typischerweise still in Reih und Glied und beflissen an den Texten bzw. Arbeitsblättern. Diese Art der Aufgabenbearbeitung scheint von der Art der Reaktion bestimmt zu sein, die auf Abweichungen folgt: Mr. Smith neigt dazu, Fehlverhalten oder aus seiner Sicht ungenügende Leistungen öffentlich zu kritisieren. Insgesamt wirkt der Unterricht darauf angelegt, Leistungsunterschiede zu betonen. Dabei sanktioniert Mr. Smith Leistungsschwäche, lobt aber kaum gute Leistungen.
Beispiel 2: Mrs. Kurtz
Im Zentrum des Unterrichts von Mrs. Kurtz stehen thematische Einheiten, die Lesen, Schreiben und Diskussionen zum Thema umfassen. Die Themen (wie Mysterien, historische Fiktion, der Unabhängigkeitskrieg oder Überleben) werden bis zu einen Monat lang behandelt und mit anderen Themen des Curriculums vernetzt, zum Beispiel wird das Thema Unabhängigkeitskrieg auch in den sozialwissenschaftlichen Fächern unterrichtet, und beim Thema Überleben gibt es starke Anleihen an den Naturwissenschaftsunterricht.
Während einer typischen Einheit lesen Kleingruppen jeweils einen einzelnen Roman, der zum Thema passt. Die Schülerinnen und Schüler treffen sich mit Mrs. Kurtz, um über das Gelesene zu diskutieren. Diese Gespräche werden mit schriftlich festgehaltenen Reaktionen vorbereitet. Die Gruppendiskussionen hat die Lehrerin vorbereitet und sich hinsichtlich der Prozeduren an einem Lesestrategietraining (Reziprokes Lehren) orientiert, in dem die Teilnehmer verschiedene Rollen haben und verschiedene Fragen generieren. Neben den Diskussionen beinhalten die Stunden viele Schreib- und künstlerische Aktivitäten sowie die gemeinsame Entwicklung eines Schwarzen Bretts zum Thema.
Mrs. Kurtz ermutigt ihre Fünftklässler, ihr Lernen zu planen (zum Beispiel bei bevorstehenden Präsentationen) und hilft bei Entscheidungen. Sie bietet den Kindern Gelegenheit, ihre Arbeitszeit selbst zu strukturieren, indem sie eine Liste mit Aktivitäten zur Verfügung stellt, die bis zum Ende der Einheit erledigt werden müssen. Die Entscheidung, was sie wann tun, liegt dann bei den Schülerinnen und Schülern. Außerdem ermutigt die Lehrerin ihre Klasse, stets bewusst über ihre Aktivitäten nachzudenken. So evaluieren die Kinder ihre Teilnahme an den Lesezirkeln. Oder sie überprüfen mittels des Schemas Planen-Verfassen-Überarbeiten ihren Schreibprozess. In jeder Minute wissen die Schüler, was sie tun sollen, weil sie selbst planen, und sie verschwenden kaum Zeit. Dies erwartet die Lehrerin auch, und typischerweise sieht man sie am Rande der Klasse mit Schülern diskutieren, an Projekten arbeiten oder lesen. Derweil lesen die Schüler autonom und vertiefen sich in die Texte. (Quelle: Übersetzung von Pressley et al., 1998, S. 181–183)
Was haben Sie festgestellt, als Sie beide Falldarstellungen gelesen haben? Welche Atmosphäre schaffen die Lehrkräfte: die einer Lerngemeinschaft oder die einer Kaserne? Wie viel Autonomie lassen sie zu? Welche Ziele verfolgen Mr. Smith und Mrs. Kurtz mit ihrer Instruktion? Und: Welchen Unterricht halten Sie für förderlicher?
Die beiden kontrastreichen Beispiele stehen pars pro toto. Mrs. Kurtz und Mr. Smith sind nämlich nur zwei von Hunderten Lehrkräften, deren Unterricht in diversen Beobachtungsstudien Gegenstand der Betrachtung geworden sind. Überblickt man diese Studien (Philipp, 2012a), so schält sich ein Bündel von Gemeinsamkeiten des guten Lese- und Schreibunterrichts heraus.
Im Unterricht exemplarisch guter Lehrkräfte wie Mrs. Kurtz zielt vieles darauf ab, dass die Lernzeit (unterstützt durch ein vorbildliches Klassenmanagement und das Kreieren einer sicheren, positiv getönten Umgebung) maximal für die selbstständige und selbstregulierte Aneignung der Domäne Schrift genutzt wird. Die Schülerinnen und Schüler sollen ausdrücklich selbstständig arbeiten und lernen. Dazu demonstrieren Lehrkräfte sichtbar, was ihre Schülerinnen und Schüler lernen sollen, bzw. lassen durch kooperative Lernformen auch Mitschülerinnen und Mitschüler als Modelle fungieren. Der Unterricht ist auf Strategien und den Prozess des Textverstehens bzw. -verfassens ausgerichtet. Die Lehrkräfte fordern die Mitglieder der Klasse zur Anstrengung heraus und stellen kognitiv anspruchsvolle Fragen. Sie nehmen den Fortschritt wahr, indem sie kontinuierlich die Schüler beobachten, und auf dieser Basis setzen sie bestärkende Rückmeldungen ein, mit denen sie den Heranwachsenden auch signalisieren, dass sie aus eigener Kraft Leistungen erbringen können.
Eines der wichtigsten Ergebnisse bzw. möglicherweise sogar das wichtigste Ergebnis aus der Zusammenschau der Unterrichtsbeobachtungen besteht darin, dass ein auf Lese- und Schreibkompetenz angelegter Unterricht zugleich zahlreiche Merkmale aufweist, die unter motivationaler Perspektive günstig sind: freie Entscheidungen, Autonomie, Verknüpfungen des Themas mit anderen schulischen und außerschulischen Bereichen, positiv getönte Beziehungen und Kooperation. Anders gesagt, bilden Kompetenzvermittlung und Motivationsförderung keine Gegensätze. Effektive Lehrkräfte integrieren im Gegenteil beides auf ihre je eigene Art und Weise in einem auf die jeweilige Klasse abgestimmten Unterricht.
Und noch etwas ist wichtig: Vieles, was solche exemplarisch guten Lehrkräfte ganz selbstverständlich in ihrem alltäglichen Unterricht tun, deckt sich mit dem, was Interventionsstudien aus der Pädagogischen Psychologie unter strengen Bedingungen bei halbexperimentellen Studien herausgefunden haben. Diesem Aspekt geht der Folgeabschnitt nach.
Befunde aus Metaanalysen: die Messlatte erfolgreicher Interventionen
Im Bildungsbereich entstehen ununterbrochen Interventionsstudien, in denen man die Wirksamkeit spezieller didaktischer Arrangements („Treatments“) gegenüber normalem Unterricht (in Kontrollgruppen) untersucht. So erhält beispielsweise eine Gruppe von Jugendlichen einen Unterricht mit Strategieinstruktion, während dies bei vergleichbaren Gleichaltrigen nicht der Fall ist. Nach Ablauf der Intervention wird dann untersucht, ob sich beide Gruppen in der Schreibqualität unterscheiden. Studien dieser Couleur gibt es buchstäblich wie Sand am Meer. Ein Weg, mit dieser Vielfalt und Unübersichtlichkeit umzugehen, besteht darin, Metaanalysen durchzuführen. In Metaanalysen werden sich ähnelnde Studien nach meist sehr strengen Kriterien gesichtet und ein Korpus von Studien, das den Kriterien entspricht, neuerlich oder auch sekundär ausgewertet. Der Antrieb dahinter ist, die durchschnittliche Wirksamkeit von ähnlichen Interventionen und spezifischen Interventionsmerkmalen über eine Vielzahl von Einzelstudien zu ermitteln.
Weil in vielen Studien unterschiedliche Tests eingesetzt werden, um die Effekte der Intervention zu überprüfen, geht man in Metaanalysen einen Umweg. Man übersetzt den Erfolg der jeweiligen Intervention in sogenannte Effektstärken. Das ist meist ein Koeffizient d, der bezeichnet, um wie viele Streuungseinheiten sich die Durchschnittswerte der Kontroll- und Treatment-Gruppen unterscheiden. Zur Interpretation sind zwei Hinweise hilfreich: Wenn man den Wert d mit 100 multipliziert, erhält man einen Wert, den man mit den Punkten auf den IGLU- und PISA-Skalen vergleichen kann. Wenn sich herausstellt, dass eine bestimmte Intervention eine Erhöhung von d = .20 nach sich zieht, dann wären das 20 Punkte Differenz bei IGLU oder PISA. Ein zweiter Hinweis hilft, diese Werte angemessen zu...