1 Entstehung und Entwicklung der Tagespflege
Seit nunmehr vierzig Jahren gibt es das Angebot der Tagespflege in Deutschland. Nachfolgend wird der Entwicklung von den Anfängen bis in die heutige Zeit nachgegangen. Dabei wird aufgezeigt, in welchem Ausmaß die Tagespflege von den pflegebedürftigen Menschen genutzt wird und warum die teilstationäre Versorgung immer noch eine eher marginale Rolle im System der Altenhilfe spielt. Ideen und Anregungen zur Weiterentwicklung lassen sich möglicherweise mit einem Blick in andere Länder gewinnen, die bereits über eine längere Tradition der Tagespflege verfügen. Am Beispiel der USA soll in einem Exkurs ein solcher »Blick über den Tellerrand« vorgenommen werden.
1.1 Gründung der ersten Einrichtungen
»Hufeland-Haus«
Die erste Tagespflege in Deutschland wurde im Jahr 1973 in Frankfurt-Seckbach im »Hufeland-Haus«, einer Vorzeigeeinrichtung im Bereich der Altenhilfe, eröffnet. Auch heute noch gehört die dortige Tagespflege zum Angebot der in Trägerschaft des Evangelischen Vereins der Inneren Mission in Frankfurt/Main betriebenen Einrichtung (Hufeland-Haus 2013). Angeregt wurde die Gründung der Tagespflege durch Vorbilder aus England, Skandinavien, der Schweiz, den Niederlanden sowie den USA. Die Verbreitung der Idee wurde maßgeblich forciert durch das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA), welches sich seit jeher für die Entwicklung neuer Versorgungskonzepte einsetzt (vgl. KDA 2010; Großjohann 1989). Neben der fachlichen Beratung von interessierten Trägerorganisationen leistete das KDA zeitweise auch finanzielle Starthilfe, um weitere Einrichtungen auf den Weg zu bringen.
Entwicklung bis heute
Von Beginn an zeigte sich, dass ein wirtschaftlicher Betrieb von Tagespflegeeinrichtungen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Einige Zentren mussten aufgrund mangelnder Auslastung und fehlender Kostendeckung den Betrieb wieder einstellen. Dennoch wuchs die Zahl der Zentren langsam aber stetig an. 1989 gab es ca. 60 Einrichtungen, im Jahr 2001 waren es schon mehr als 1.000 und heute bieten schätzungsweise 2.000 Tagespflegeeinrichtungen in Deutschland mit insgesamt ca. 33.000 Plätzen ihre Dienste an (vgl. Statistisches Bundesamt 2013; KDA 2010).1 Diese auf den ersten Blick hoch erscheinende Anzahl an Einrichtungen nimmt sich angesichts von 12.300 ambulante Pflegediensten und 12.400 Pflegeheimen (vgl. Statistisches Bundesamt 2013) dennoch eher bescheiden aus. Ein Problem stellt zudem die ungleichmäßige geografische Verteilung in Deutschland dar. So sind auch heute noch ländliche Regionen im Vergleich zu Ballungsgebieten eher unterversorgt.
Die »typische« Tagespflege verfügt über zwölf bis vierzehn Plätze. Häufig besteht eine Anbindung an eine stationäre Einrichtung. Andere sind verknüpft mit einem ambulanten Dienst oder fungieren als eigenständige Einrichtung (Solitäreinrichtung). Immer häufiger finden sich Tagespflegen innerhalb größerer Institutionen als Baustein einer Versorgungskette, bestehend aus verschiedenen ambulanten, teilstationären und stationären Angeboten.
1.2 Nutzung der Tagespflege
Tagespflegeeinrichtungen werden von älteren Menschen in Anspruch genommen, die in der Regel als pflegebedürftig im Sinne des Gesetzes anerkannt sind. Sie werden üblicherweise als »Gäste« bezeichnet (während im Unterschied dazu Krankenhäuser und ambulante Pflegedienste vom »Patienten« und vollstationäre Einrichtungen vom »Bewohner« sprechen). Mit dem Terminus des »Gastes« wird zum einen der Besuchscharakter der Tagespflege deutlich. Zum anderen spiegelt sich in ihm die Haltung der Einrichtung, den Besucher freundlich aufzunehmen und professionell zu versorgen.
»Profil« der Nutzerinnen und Nutzer
Die Mehrzahl der Tagespflegegäste ist von somatischen und psychischen Einschränkungen betroffen. Nahezu 60 % von ihnen leiden unter gerontopsychiatrischen Erkrankungen oder affektiven Störungen, wie beispielsweise Demenzen unterschiedlicher Genese, depressive Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Weyerer et al. 2004). Etliche Einrichtungen richten sich als »gerontopsychiatrische Tagespflege« explizit an diese Zielgruppe der Menschen mit Demenz.
In einer Vergleichsstudie zwischen Tagespflegegästen und Heimbewohnern in acht badischen Städten stellen Weyerer et al. (2004) fest, dass Klienten der Tagespflege weniger stark in ihren Alltagsfähigkeiten, vor allem im Bereich der Mobilität, eingeschränkt sind als Heimbewohner. Dies spiegelt sich auch in der Pflegestufe wider. Die meisten Gäste der Tagespflege sind in der Pflegestufe I oder II, deutlich seltener in der Pflegestufe III (vgl. Statistisches Bundesamt 2013).
Inanspruchnahme der Tagespflege
Der überwiegende Teil der Gäste ist weiblich, das Durchschnittsalter liegt bei ca. 80 Jahren. Im Jahr 2011 nutzten unter den 1,76 Millionen zu Hause versorgten Pflegebedürftigen etwa 43.000 Personen das Angebot der Tagespflege. Im Vergleich zu 2009 ist dies ein Anstieg um 39,5 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2011), der auf den ersten Blick hoch erscheinen mag. Bei Betrachtung der absoluten Zahlen und ihrer Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre ( Tab. 1.1) wird jedoch erkennbar, dass nach wie vor ein nur geringer Teil des anspruchsberechtigten Personenkreises die Tagespflege in Anspruch nimmt. Während 1998 ein Prozent der Pflegebedürftigen in Privathaushalten teilstationäre Leistungen nutzten, waren es im Jahr 2010 zwei Prozent (vgl. BMG 2011). Bei der Häufigkeit der Inanspruchnahme zeigen sich große Unterschiede, längst nicht alle Gäste besuchen die Tagespflege täglich. Die schwankende Auslastung erschwert auch heute noch eine wirtschaftliche Betriebsführung bei etlichen Einrichtungen.
Tab. 1.1: Nutzung der Tagespflege (vgl. Statistisches Bundesamt 2013, 2011, 2009, 2007, 2005, 2003, 2001)
An der geringen Nutzung der Tagespflege hat sich in den vier Jahrzehnten seit Gründung der ersten Einrichtungen in Deutschland nur wenig geändert. Zwar hat sich mit Schaffung des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes in 2008 sowie dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz 2012 und damit ausgeweiteter Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Leistungen der Pflegeversicherung ein Aufschwung ergeben (vgl. Glaser et al. 2013) (Näheres zu den gesetzlichen Regelungen und der Finanzierung unter Kap. 3). Gleichwohl führt die Tagespflege immer noch ein »Schattendasein« in der bundesdeutschen Versorgungslandschaft.
1.3 Gründe für das »Schattendasein« der Tagespflege
Problem der Finanzierung einer Inanspruchnahme
Seit Gründung der ersten Tagespflegeeinrichtungen wird über die Ursachen der geringen Inanspruchnahme diskutiert (vgl. ex. KDA 2010; BMFSFJ 2002; Kirchen-Peters 1999; Großjohann 1989). Als wesentliches Hemmnis wurden immer wieder finanzielle Gründe genannt, da es über lange Zeit an einer regelhaften, sicheren Finanzierung der Inanspruchnahme von Tagespflege fehlte und der Aufenthalt von den Nutzern selbst bezahlt werden musste. Für Menschen mit geringer Rente war die Tagespflege nicht bezahlbar, außer ggf. über einen Antrag auf Leistungen der Sozialhilfe. Mit Einführung der Pflegeversicherung in 1995 besserte sich die Situation, da von Beginn an teilstationäre Leistungen der Tages- und Nachtpflege aufgenommen waren. Allerdings konkurrierte die Tagespflege mit der Geldleistung und mit der ambulanten Sachleistung. Vor die Entscheidung gestellt, Pflegegeld bzw. Sachleistungen oder die Tagespflege in Anspruch zu nehmen, entschieden sich viele Familien gegen die Tagespflege.
Verbesserung durch gesetzliche Neuerungen
Erst mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) im Jahr 2008 konnte die Finanzierung der Inanspruchnahme der Tagespflege auf eine solide Basis gestellt werden. Als pflegebedürftig anerkannte Personen können seit dieser Zeit sowohl Pflegegeld und/oder ambulante Sachleistungen als auch Mittel für den Besuch einer Tagespflegeeinrichtung erhalten. Weitere finanzielle Verbesserungen für demenziell erkrankte Menschen wurden 2012 mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) geschaffen. Die größere Flexibilität in der Kombinierung der verschiedenen Leistungen ermöglicht eine stärker auf die individuellen Bedürfnisse ausgerichtete Versorgungsgestaltung; allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass durch die Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten das Berechnungsverfahren kompliziert und für viele Nutzer nur schwer nachzuvollziehen ist.
Ausbleibender »Boom« der Tagespflege
Die genannten...