2. Vorlesung
Emotionsdiagnostik und Behandlungsimplikationen
Solche Schematisierungen wie im vorherigen Kapitel sind, da sehr theoretisch und komplex, für den klinischen Alltag oft nur schwer anwendbar. Es soll hier daher ein einfaches Schema vorgestellt werden, mit dem eine Hypothese über die Kern-Affekte von Patienten generiert werden kann. Im Anschluss daran werden die Implikationen für die Behandlung erläutert.
Diagnostik der Emotionsdynamik
Am besten funktioniert dieses Schema zur Diagnostik der Emotionsdynamik, wenn eine kleine Gruppe einen Videoausschnitt anschaut und dann die spontanen Antworten der Gruppenmitglieder zusammengetragen werden. Aber selbstverständlich geht das auch als Einzelperson.
Die Diagnostik der Emotionsdynamik erfolgt in fünf Schritten:
1. Spontane eigene affektive Reaktion auf den Patienten. Wichtig ist, dass hier nicht aus der Therapeutenrolle heraus gefühlt wird, sondern als »Mensch«. Wichtig ist auch, dass es keine Schranken im Kopf gibt: alle spontanen Gefühle, auch sehr negative, sollen hier auf den Tisch kommen.
2. Spontane Handlungsimpulse gegenüber den Patienten. Auch hier ist es entscheidend, dass wir ohne Tabus und nicht aus der Therapeutenrolle heraus unsere spontanen Impulse benennen. Welche Impulse hätten wir als Alltagsmensch, wenn wir mit dem Patienten zu tun hätten. Dabei geht es um die Impulse, nicht darum, was wir tatsächlich tun würden.38
3. Wie würde sich der Patient fühlen, wenn wir unseren Impulsen freien Lauf lassen würden? Da die Impulse häufig recht negativ sind, werden hier üblicherweise sehr leidvolle Affektzustände (wie Ohnmacht, Verzweiflung etc.) genannt.
4. Was wünscht sich der Patient eigentlich? Hier geht es um die für diesen Patienten zentralen Basis-Motivationen, also darum, welches Motivsystem, welche Grundbedürfnisse in diesen Patienten besonders stark wirken.
5. Was »tut« der Patient tatsächlich? Hier geht es um eine einfache Beschreibung des Verhaltens des Patienten in der diagnostischen Situation.
Abbildung 5 zeigt ein Beispiel: Es handelt sich dabei um eine ca. 50-jährige Patientin, die sich aufgrund einer depressiven Erkrankung in stationärer Behandlung befindet. Die Angaben in Abbildung 5 geben die Reaktionen einer Gruppe von Therapeuten auf einen ca. 10-minütigen Video-Ausschnitt aus einem OPD-Interview mit der Patientin wider. Die Patientin spricht in diesem Ausschnitt vor allem über ihren älteren Bruder, der sich kaum bei ihr melde, sie nicht bei der Pflege der schon recht betagten Eltern überstütze und der ihr immer wieder Vorwürfe mache, sie habe Schuld an seinen gesundheitlichen Problemen. Dies alles trägt sie in einem recht monotonen und jammernden Tonfall vor.
Abb. 5: Beispiel für eine Emotionsdynamik (Erläuterungen im Text)
Die Patientin löst überwiegend negative Gefühle aus (Feld 1): Aggression, Langeweile, Resignation, nur ein bisschen Mitleid ist auch dabei. Die aus diesen negativen Gefühlen resultierenden spontanen Handlungsimpulse (Feld 2) sind entsprechend ebenfalls sehr negativ: Man will im Wesentlichen fliehen, sie loswerden oder, wenn das nicht geht, sie aggressiv zum Schweigen bringen.39 Würden wir uns ungefiltert auf diese drastische Weise der Patientin gegenüber verhalten, wäre anzunehmen, dass die Patientin in die in Feld 3 genannten Affektzustände gerät. Die Wünsche der Patientin (Feld 4) sind als solche ganz »normal«, aber es wird sichtbar, dass sie so ziemlich das Gegenteil dessen »bekommt« (Feld 2).
Als Hypothese 1 kann angenommen werden, dass die in Feld 3 genannten Zustände die Kern-Affekte ( Abb. 3) der Patientin widerspiegeln, also die Affekte des Vergangenheitsunbewussten, deren Erleben subjektiv als nicht erträglich scheint und die daher abgewehrt werden müssen. Als Hypothese 2 kann angenommen werden, dass eine Aktivierung der Wünsche (Feld 4) eben diese unerträglichen Kern-Affekte (Feld 3) mit aktiviert, die die Patientin dann mit dem Verhalten in Feld 5 versucht »in Schach« zu halten. Dieses Verhalten löst aber bei anderen die in Feld 1 genannten aversiven Gefühle aus, aus denen dann die Handlungsimpulse in Feld 2 resultieren.
Insgesamt ergibt sich so ein maladaptiver emotional-interaktiver Zirkel, der sich in Varianten wiederholt und der zur Aufrechterhaltung der Störung der Patientin beiträgt.
Was heißt das für die Behandlung?
Was bedeutet ein solches Verständnis psychischer Störungen, wie es in den vorherigen Kapiteln beschrieben wurde, für die Behandlung? Hierzu sind grob gesprochen zwei Fragen zu beantworten: 1) Was muss sich ändern? 2) Wie bekommen wir das hin?
1) Was muss sich ändern?
Aus psychodynamischer Perspektive werden Veränderungen in der innerpsychischen Repräsentanzenwelt, den unbewussten Konflikten und strukturellen Funktionen als zentral angesehen40.
Innerhalb der OPD-Arbeitsgruppe wurde die Heidelberger Umstrukturierungsskala41 (HSCS: Heidelberg Structural Change Scale) entwickelt, die das Niveau der innerpsychischen Veränderung jenseits der Symptomatik erfasst. Bei der HSCS werden zu Behandlungsbeginn auf der Basis der OPD-Diagnostik Foki festgelegt (Beziehungsmuster, Konfliktthemen, Strukturelle Probleme). Anhand von späteren OPD-Interviews (z. B. bei Behandlungsende) wird dann eingeschätzt, wo der Patient im Hinblick auf die Veränderung dieser spezifischen Foki steht. Die Skala der HSCS ist hier in Kurzform wiedergegeben ( Abb. 6).
Abb. 6: Heidelberger Umstrukturierungsskala (aus Arbeitskreis OPD 2014, S. 443)
Eine ausführliche Beschreibung der Heidelberger Umstrukturierungsskala mit anschaulichen Fallbeispielen findet sich in Stasch et al.42. Die Niveaus 3 und 4 werden als »Bewältigung« bezeichnet. Der Patient erkennt seine eigenen Anteile an der Problematik und versucht, diese aktiv verändern, z. B. durch bewusst geplantes verändertes Verhalten. Dies kann als wesentlicher Fortschritt betrachtet werden. Allerdings bleibt eine auf diese Weise erreichte Veränderung oftmals instabil, weil die »zugrunde liegenden« Determinanten sich noch nicht verändert haben.
Ab Niveau 5 wird von »Umstrukturierung« gesprochen, da hier ein Zugang zu den unbewussten Determinanten der Störung gelingt. Dies ist meist mit schmerzlichem Erleben verbunden, da nun die bis dato abgewehrten Kern-Affekte ins Erleben kommen. Das Erreichen des Niveaus »Umstrukturierung« sollte daher mit nachhaltigeren Veränderungen verbunden sein. Dies konnte in einer Studie bestätigt werden: Ein höheres Ausmaß der zum Behandlungsende erreichten Umstrukturierung (in Analytischen und Tiefenpsychologischen Psychotherapien) hing signifikant mit einer stärker ausgeprägten Symptomreduzierung (SCL-90), mit weniger interpersonellen Problemen (IIP) sowie mit größerer Behandlungszufriedenheit von Patienten und Therapeuten zusammen. Von den zum Behandlungsende erfassten Veränderungsmaßen (Symptomreduktion, Veränderung der interpersonellen Probleme, Umstrukturierung) erlaubte nur die Umstrukturierung eine Vorhersage der Lebenszufriedenheit drei Jahre nach Therapieende43.
Bringt man die Umstrukturierungsskala mit dem Schichtenmodell in Abbildung 3 zusammen, so könnte man vielleicht sagen, dass das Niveau der Bewältigung mit Veränderungen auf der Ebene des Gegenwartsunbewussten zusammenhängt und dass das Niveau der Umstrukturierung auch Veränderungen auf der Ebene des Vergangenheitsunbewussten erreicht.
Im Beispiel auf Seite 18 f. (Abb. 4, mit dem Kern-Affekt der Hilflosigkeit) könnte »Bewältigung« so aussehen, dass der Patient einen besseren Zugang zu seinem Dominanzstreben und der Wut erlangt, diese Aspekte selbst als problematisch ansieht, weil er erkennt, dass dadurch viel Leid und Probleme entstehen, und er daher aktiv versucht, sein Dominanzstreben »zurückzufahren« und nicht »immer gleich hochzugehen«, wenn mal etwas anders läuft, als er es geplant hat. Gelingt ihm dies, wäre das zwar ein bedeutsamer Therapiegewinn (vor allem auch für seine Umgebung), aber diese aktiven Bemühungen bleiben anstrengend, weil die darunterliegende Kern-Repräsentanz (mit dem Kern-Affekt der Hilflosigkeit) weiterhin aktiv bleibt. Eine »Umstrukturierung« könnte so aussehen, dass es dem Patienten im Rahmen der Behandlung gelingt, Zugang zu dem Kern-Affekt Hilflosigkeit zu erhalten, und dass er das Erleben von Hilflosigkeit zulassen und psychisch integrieren kann, gewissermaßen nach dem Motto:...