Kapitel 1
Männlich, weiß, gestrandet
Neun Monate zuvor. Sommer 2012, das Leben ist schön. Ich bin 51 Jahre alt, lebe glücklich verheiratet in einem Bostoner Vorort, habe zwei kleine Kinder und liebe meinen Job. Newsweek bezahlt mich dafür, dass ich interessante Leute interviewe und über Themen schreibe, die mich faszinieren: Fusionsreaktoren, Bildungsreform, Supercomputer, künstliche Intelligenz, Robotik, den wachsenden Konkurrenzdruck durch die Chinesen, die globale Bedrohung staatlich gesteuerter Hackerangriffe. Newsweek ist für mich mehr als ein Unternehmen – diese Zeitschrift ist eine Institution, und für eine Zeitschrift zu schreiben ist überhaupt der beste Job der Welt.
Bis eines Tages, ohne Vorwarnung und schlagartig, das Ende kommt, und zwar an einem Freitagvormittag im Juni. Die Kinder sind schon in der Schule und ich sitze gerade mit Sasha, meiner Frau, am Küchentisch. Wir trinken Kaffee und sprechen noch einmal die Planung für die kommende Urlaubsreise durch. Es geht drei Wochen nach Österreich – das können wir uns zwar kaum leisten, aber mit Einsatz aller Vielflieger-Bonusmeilen und Beschränkung auf bescheidene Hotels geht es gerade so. Die Kinder – es sind Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen – werden in ein paar Wochen sieben und sind damit alt genug für so ein Abenteuer. Sasha hat gerade ihre Stelle als Lehrerin aufgegeben, weil sie an chronischer Migräne leidet und viel zu oft deswegen ins Krankenhaus musste. Sie braucht mehr Zeit für sich, um zur Ruhe zu kommen. Einige Wochen in den Alpen sind da genau der richtige Anfang. Ihr Gehalt und ihre erstklassige Sozialversicherung werden uns natürlich fehlen, aber ich kann uns auch über Newsweek ziemlich gut versichern, und neben meinem Redakteursgehalt verdiene ich noch ein bisschen was als Vortragsredner dazu.
Es läuft also alles ganz gut. Wir können eine Fernreise machen, obwohl Sasha gerade aufgehört hat zu arbeiten. Es wird ein großartiger Urlaub, so versichern wir einander, während wir die Webseite für eines unserer Ziele aufrufen, eine Feriensiedlung – Hütten am Hang über einem einsam inmitten der Berge gelegenen Dorf. Es gibt dort Bergführer, die Wanderungen für Touristen und Kletterkurse für Kinder anbieten, und einen Ponyhof, wo uns stämmige kleine Haflinger mit struppigen blonden Mähnen erwarten. In drei Wochen geht’s los.
Mein Smartphone piepst. Eine Mail von Abby, meiner Chefin in der Redaktion. Ob ich wohl ans Telefon kommen könne? Ich rufe sie vom Arbeitszimmer im Obergeschoss aus in New York zurück. Wahrscheinlich will sie mich auf dem Laufenden halten, wie weit wir mit dem neuen Hightech-Blog sind. Leider irre ich mich.
»Schlechte Nachrichten«, erklärt sie. »Es gibt Einsparungen. Deine Stelle gehört auch dazu.«
Ich weiß erst gar nicht, was ich sagen soll. Einerseits sollte mich das nicht überraschen. Newsweek macht seit Jahren Verluste. Vor zwei Jahren hat die Zeitschrift den Besitzer gewechselt; der neue hatte versprochen, sie wieder in die Gewinnzone zu führen. Stattdessen sind die Verluste nur noch gewachsen. Abonnenten und Anzeigenkunden bröckeln weg. Irgendwie habe ich wohl schon gewusst, dass dieser Anruf einmal kommen würde. Aber doch nicht gerade heute.
Abby sagt, es sei nicht ihre Entscheidung gewesen, mich zu feuern. Wessen denn?, frage ich. Sie sagt, sie wisse es nicht, aber irgendjemand irgendwo da oben habe so entschieden, und an ihr bleibe es hängen, es mir beizubringen. Sie könne leider überhaupt nichts machen und es gebe auch niemanden, an den ich mich wenden könne. Das ist natürlich Quatsch. Abby weiß ganz genau, wer mich gefeuert hat. Wahrscheinlich war sie es selbst.
Abby ist ein alter Hase bei Newsweek. Kurz bevor ich dazustieß, hatte sie aufgehört, aber vor drei Monaten ist sie als Chefredakteurin zurückgekommen. Ich habe mich ehrlich gefreut, als ich hörte, dass sie meine Chefin wird. Wir sind alte Freunde, kennen uns seit 20 Jahren. Sobald sie angefangen hatte, waren wir auch schon dabei, diesen neuen Hightech-Blog zu planen, das ich betreuen soll. Ich hatte mir ausgerechnet, dass es etwa ein Jahr dauern würde, es auf die Beine zu stellen und zum Laufen zu bringen – und dass mein Arbeitsplatz zumindest so lange noch sicher wäre. Deshalb sitze ich jetzt hier, starre aus dem Fenster und fühle mich, als hätte ich eins über den Schädel bekommen.
»Sie wollen wohl einfach jüngeres Personal«, meint Abby. »Mit deinem Gehalt alleine können sie fünf Collegeabsolventen bezahlen.«
»Stimmt.« Ich bin nicht einmal wütend, ich bin wie betäubt. »Verstehe ich.«
Draußen brummt ein Rasenmäher. Ich schaue aus dem Fenster; es sind die Leute vom Hausmeisterservice, die unseren Rasen mähen. Ich mache eine Gedankennotiz: Der Rasenmähermann ist eine der kleinen Bequemlichkeiten, auf die wir künftig verzichten müssen. Ein Arbeitsloser kann sich ja wohl kaum leisten, seinen Rasen nicht selbst zu mähen. Ich bin noch nicht einmal ganz gefeuert und überlege schon, wo wir überall sparen können. Sollen wir das Kabelfernseh-Abonnement kündigen? Nicht mehr essen gehen? Was ist mit dem Österreichurlaub?
Abby redet weiter. Sie mag mich wirklich, sagt sie, und dieser Anruf fällt ihr wirklich schwer und sie findet es furchtbar, mir das anzutun, wo wir uns doch so lange kennen, man ruft doch keinen Freund an, um ihm so etwas zu sagen. Ich bekomme richtig Mitleid mit ihr, dabei bin ich es doch, der gerade seinen Arbeitsplatz verliert.
Ich versichere ihr, dass ich verstehe, wie sie sich fühlt. Schließlich bin ich Wirtschaftsjournalist. Ich schreibe dauernd über solche Geschichten – Traditionsunternehmen, die von neuen Technologien bedrängt werden, immer weiter an Boden verlieren und sich mit Entlassungen über Wasser zu halten versuchen. Wenn ich eine Zeitschrift hätte, die Verluste macht, müsste ich auch Kosten einsparen. Ich würde die gut bezahlten alten Leute auf die Straße setzen und dafür eifrige Kids einstellen, die nicht viel kosten. Das ist nur vernünftig.
Als ich diese Stelle angetreten habe, wusste ich schon, dass ich sie wohl nicht bis zur Rente behalten würde. Damals, 2008, bekamen die Newsweek-Veteranen, die entlassen wurden, noch Aufhebungsverträge und die Möglichkeit, in Frührente zu gehen. Es traf ja nicht nur Newsweek. Eine Zeitung, eine Zeitschrift nach der anderen gab auf, weggefegt vom Internet. Newsweek war trotzdem immer noch großartig, und selbst wenn dies die letzten Jahre des Magazins sein sollten, wollte ich dabei sein.
Jetzt also, an diesem sonnigen Freitagvormittag, ist es zu Ende.
Mein letzter Arbeitstag ist in zwei Wochen, erklärt Abby. Ich bekomme keine Abfindung, nur noch den Lohn für die letzten zwei Wochen und meinen Resturlaub ausbezahlt. Die Arbeitgeber-Krankenversicherung laufe dann auch aus, aber die Personalabteilung werde mir dabei helfen, sie auf das staatliche COBRA-Programm umzustellen, damit ich sie behalten kann.
Die Kollegen, die 2010 mit dem Besitzerwechsel entlassen wurden, erhielten noch Abfindungen in Höhe eines Jahresgehalts. Ich hatte erwartet, wenn ich an der Reihe wäre, wenigstens nicht ganz ins Leere zu fallen. Zwei Wochen – das ist ein bisschen hart. Ich versuche zu handeln. Ich frage Abby, ob ich nicht wenigstens noch ein halbes Jahr bleiben kann, um mir in der Zeit eine neue Stelle zu suchen. Damit könnte ich mein Gesicht wahren; es ist immer leichter, etwas Neues zu finden, wenn man noch nicht arbeitslos ist. Sorry, lehnt sie ab, nicht drin. Ich würde auch auf einen Teil meines Gehalts verzichten. Leider auch dann nicht, sagt sie. Ich bestehe auch nicht auf meinem Redakteursposten, flehe ich. Hauptsache, ich bleibe noch auf der Gehaltsliste und behalte die Sozialleistungen, während ich mir etwas Neues suche.
Abby lehnt ab.
»Abby, ich habe Kinder.« Meine Stimme zittert auf einmal. Ich atme tief durch. Ich will nicht klingen, als drehe ich durch. »Ich habe Zwillinge. Sie sind erst sechs.«
Sie meint, es tue ihr furchtbar leid, sie könne mich gut verstehen, aber sie könne nichts machen.
Meine Frau, erzähle ich ihr, hat gerade ihre Stelle als Lehrerin aufgegeben. Ich bin gerade mit dem Papierkram fertig, der unsere Versicherung von Sashas Arbeitgeber auf meinen umstellt. Auf Newsweek. Die Personalabteilung muss das doch wissen, es war das »spezifische Lebensereignis«, das man angeben muss, um die Arbeitgeber-Krankenversicherung von Newsweek außerhalb der jährlichen Anmeldeperiode zu bekommen.
»Schau mal«, bettele ich, »wenn du meinen letzten Arbeitstag nur ein paar Monate nach hinten verschiebst, kann ich wenigstens die Krankenversicherung behalten, und ich verspreche auch, dass ich so schnell wie möglich woanders anfange.«
Aber meine alte Freundin Abby, die ich schon kenne, seit wir beide in den Zwanzigern und noch ganz neu im Nachrichtengeschäft waren, sagt Nein. Sie kann nichts für mich tun. Es bleibt dabei: zwei Wochen.
Ich lege auf, gehe die Treppe hinunter und erzähle Sasha, was gerade passiert ist. Sie ist entsetzt. Habe ich ihr nicht gerade erst versichert, sie könne problemlos aufhören zu arbeiten, weil meine Stelle bei Newsweek sicher sei?
»Ich dachte, Abby ist deine Freundin«, meint sie.
»Dachte ich auch.«
Auf dem Tisch liegt immer noch die Mappe mit den Ferienprospekten, den Flugtickets und den Buchungen für Hotels und Mietwagen.
»Die Reise streichen wir dann wohl lieber«, sagt sie.
Das...