AMBIVALENZ
Um einen inneren Konflikt zu kreieren, basieren viele „New School“-Modelle auf der Idee, Hauptfiguren ins Zentrum eines psychologischen Dilemmas zu stellen. Figuren verkörpern zu Beginn der Geschichte ein falsches Selbstbild oder leben nach einer angelernten Haltung, die aufgrund ihrer Einseitigkeit zu dauerhaften Schwierigkeiten führt: „If we believe love will make us complete, we might set out on a search for love and misinterpret each relationship that does not make us feel complete as an absence of love.“36 Das Dilemma als solches ist unlösbar. Keith Cunningham schreibt, dass es gerade darum geht, die Figur mit ihrer gegenteiligen Seite zu konfrontieren: „It is a paradox. In fact, what is missing occupies a sort of negative space. [...] What the character needs to learn about life turns out to be a value that is the inverse of the dominant value that informs her mode. The two values form a pair of opposites: innocence/experience, control/passion, or distrust/ friensdship, for example.“ 37 Am Ende entwickelt sich die Figur, indem sie sich durch eine Selbsterkenntnis von ihrer ursprünglichen Haltung befreit und damit über das Dilemma erhebt.
Beispielhaft führt dies auch Laurie Hutzler vor, die angelehnt an das spirituelle Symbol des Enneagramms die psychologischen Pole in neun Charaktertypen verankert. Sie beschreibt jeden Typus mit seiner Maske, seinen Stärken und Schwächen, seiner größten Angst, seiner unbewussten Sehnsucht und seiner dunklen Seite.38 All diese Elemente greifen ineinander, sobald eine Figur im Laufe der Handlung erkennt, dass sie mithilfe ihrer Stärken ein falsches Bild von sich aufrechterhält. Sie muss sich vielmehr ihren Schwächen annähern und ihre Angst grundsätzlich überwinden, um bis zum Ende zu lernen, was sie wirklich braucht.
Typenmodelle wie dieses bedienen sich zumeist spiritueller Ordnungen wie dem Enneagramm.39 Sie gehen davon aus, dass sich Menschen in Typen klassifizieren lassen und, übertragen auf Filmgeschichten, dass die Anlehnung an diese vermeintlich real existierenden Typen bei der Stoffentwicklung hilfreich ist, um psychologisch interessantere Charaktere zu erschaffen.40
Die zunehmende Verbreitung solcher Modelle zeigt, dass die Angst davor zu schwinden scheint, Typen als Ausgangspunkt für individualisierte Figuren zu nutzen. Gründe dafür könnten sein: Sie schlagen eine Brücke zwischen dem sehr abstrakten, in der Ausführung wenig hilfreichen Modell der Archetypen – eine Figur in der archetypischen Funktion des Mentoren ist noch lange kein Charakter – hin zu einer Konkretisierung, die zumindest etwas näher an die Entwicklung individueller Züge heranreicht.41 Und sie beziehen die Stärken und Schwächen des jeweiligen Typus’ und das daraus resultierende Dilemma derart mit ein, dass sich eine innere Entwicklung ableiten lässt. Die negative Seite des Dilemmas hat also letztlich die Funktion einer Achillesferse, die zu einem inneren Konflikt führt, den es im Laufe der Geschichte zu überwinden gilt.
In allen Modellen wird dabei die äußere Handlung durch ein Desire oder Plot Goal eng mit der inneren Entwicklung verknüpft. Zumeist stellt das Handlungsziel einer Figur die Konkretisierung der anfänglichen Haltung, des Mode (Cunningham) oder False Belief (Watt), dar. Figuren sind gezwungen, die Handlung character-driven, also aus einer psychologischen Notwendigkeit heraus, voranzutreiben.
Doch das Dilemma ist nicht nur ein psychologisches Problem. Von John Truby und anderen wie Alan Watt wird es auf eine moralische Ebene gehoben. Der innere Konflikt, den die Protagonistin durchlebt, hat Auswirkungen auf seine Welt und prägt die Aussage der Geschichte. Truby schreibt: „In the hero’s moral development, the endpoints are your hero’s moral need at the beginning of the story and his moral self-revelation, followed by his moral decision, at the end. This line is the moral frame of the story, and it tracks the fundamental moral lesson you want to express.“ 42 Es gilt, die ganze Welt der Geschichte um das Dilemma der Figur herum aufzubauen.
Der neue Blick auf Figuren durch die „New School“ zielt auf deren innere Entwicklung. Doch lässt sich daraus auch ableiten: Ein charakterlicher Zwiespalt macht es grundsätzlich leichter, psychologisch schlüssige Ambivalenzen zu erzählen. Sie müssen nicht zwingend am Ende der Geschichte eine Auflösung erfahren. Dies zeigt sich weniger in der Theorie als in der Praxis. Vermehrt treten Figuren auf, die neben allgemein als positiv bewerteten Eigenschaften nicht nur unter einer Achillesferse leiden, sondern grundsätzlich zweischneidig angelegt sind. Augenfällig wird dies vor allem im Serienbereich, wo Tony Soprano (THE SOPRANOS), Walter White (BREAKING BAD) und Francis Underwood (HOUSE OF CARDS) Kultstatus erreicht haben. Gerade daran, dass sich diese Charaktere im Rahmen der ausgedehnten Erzählzeit über viele Folgen hinweg nur langsam und nicht unbedingt zum moralisch Besseren entwickeln, zeigt sich die gestiegene Akzeptanz von Ambivalenzen beim Zuschauer. Es scheint, dass das Interesse an Serienfiguren mit negativen Seiten zumindest bei einer bestimmten Zielgruppe an Gewicht gewinnt.
Immanent ist dieser Erzählweise oft, dass die Eigenschaften der Figuren in einzelnen Szenen sehr konkret und konsequent zum Ausdruck kommen. So arbeitet sich Walter White zu Beginn der ersten Episode der ersten Staffel BREAKING BAD an seinem 50. Geburtstag als Chemielehrer und Autowäscher ab, er lässt sich von seinen Schülern verspotten, seine Frau Skyler traktiert ihn mit veganer Wurst, einer Überraschungsparty und einer misslungenen Sex-Massage (letztere während sie mit dem Laptop auf dem Schoß an einer Ebay-Auktion teilnimmt). All dies macht klar, dass Walter gelernt hat, sich und seine Bedürfnisse geduldig unterzuordnen – aber auch dass diese vielleicht umso gewaltiger zum Ausbruch kommen und er sich von seiner anfänglichen Haltung weg zu einem Menschen entwickeln wird, der Macht über Leben und Tod anderer ausübt. Solche Ambivalenzen bis hin zu einem ausgeprägten Interesse an der dunklen Seite einer Figur werden zunehmend vom Zuschauer respektiert. Die Film- und Theaterwissenschaftlerin Sabrina Eisele stellt fest: „In den letzten Jahren häufen sich aber insbesondere auch in der empirischen Forschung Beobachtungen, die von einer Wertschätzung des Rezipienten gegenüber den moralisch und/oder strukturell als ‚böse‘ gekennzeichneten Figuren berichten.“ 43
Auch populäre Einzelfilme können als Beispiel dafür gelten, dass Charaktere mit Abgründen eine wachsende Akzeptanz erfahren. So entwickelt sich die Filmfigur Batman im Laufe der Zeit zu einem immer brutaleren Charakter, der zwischen Gut und Böse changiert und in THE DARK KNIGHT „auf dem Polizeirevier extra einen Raum versperrt, um ungehindert auf den Joker einschlagen zu können.“ 44
36 Watt, Alan: The 90-day screenplay: from concept to polish. Los Angeles 2014, S. 12.
37 Mit „her“ ist die Figur Loretta Castorini aus dem Film MOONSTRUCK gemeint. Cunningham, Keith: The Soul of Screenwriting, S. 105.
38 Vgl. Hutzler, Laurie: http://www.etbscreenwriting.com/ (für diesen und alle folgenden Links gilt: abgerufen am 09.10.2017).
39 Jens Becker entwickelt ebenfalls ein Drehbuch-Tool nach dem Modell des Enneagramms: http://www.jensbecker.info. Darin bezieht er sich auf: Gallen, Maria-Anne und Neidhardt, Hans: Das Enneagramm unserer Beziehungen. Verwicklungen, Wechselwirkungen, Entwicklungen. Reinbek bei Hamburg 2014.
40 Eine Begründung, warum die ein oder andere Klassifizierung für die Betrachtung von Filmfiguren geeigneter ist oder ein Abgleich mit bereits vorhandenen dramaturgischen Überlegungen zur Ensemble-Entwicklung findet dabei nicht statt. Insofern sind diese Modelle weniger als Theorien, sondern eher als subjektiv wählbare Tools zu verstehen, die die Entwicklung von Figuren erleichtern können.
41 Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf die Begriffsgeschichte des in der Dramaturgie häufig negativ besetzten Stereotyps. Geprägt wurde der Begriff erstmalig 1922 durch den Politiker Walter Lippmann. Er sah die Welt als „großes, blühendes, summendes Durcheinander“, das der Mensch kaum erfassen kann. Stereotype als Kategorien der menschlichen Vorstellung helfen beim Sortieren und Verstehen der Welt. Das Stereotyp war also zunächst etwas Positives. Auf Film bezogen können stereotype Elemente, derart kognitiv verstanden, der Zuschauerin nutzen, um in eine Geschichte mit begrenzter Zeitökonomie einzusteigen und sofort zu assoziieren, wie die dargestellte Welt zu verstehen ist. Erst viel später wurde der Begriff des Stereotyps weniger kognitiv als soziologisch verwandt. Seitdem ist er negativ konnotiert als die bildhafte Vereinfachung von Eigenschaften oder Verhaltensweisen einer Personengruppe auf ein Individuum wie der verrückte Wissenschaftler, die lustige Dicke, der...