KAPITEL 1
NAHRUNG FÜR DEN GEIST
Das Bedürfnis nach Kreativität
Was ist Kreativität?
„Sage mir, was du isst, und ich will dir sagen, was du bist.“
Jean Anthelme Brillat-Savarin, französischer Gourmet
Die Frage, die Tom vergessen hatte zu stellen, lautete:
Was genau ist eigentlich kreatives Denken? Selbst Kayla hätte darauf vielleicht nicht so leicht eine Antwort gefunden.
Kreativität ist ein vertrauter Fremder. Sie zu definieren gleicht dem Versuch, eine Rauchwolke mit den Fingerspitzen einzufangen. Wir erkennen kreative Vorstellungskraft in allen Dingen, sei es in Kunstwerken oder in ausgeglichenen Bilanzen, aber wir wissen nicht, wie sie funktioniert. Aus diesem Grund stellen wir uns Kreativität gerne als einen geheimnisvollen und unkontrollierbaren Ausbruch von Inspiration vor, in dessen Genuss nur wenige privilegierte Menschen kommen.
Dennoch ist kreatives Denken eine ganz normale Erfahrung. Jedes Mal, wenn plötzlich eine neue Idee in Ihren Gedanken auftaucht, sind Sie kreativ. Kreativität lässt sich auch willkürlich in Anspruch nehmen, wenn man sie braucht. Versuchen Sie es einmal mit der folgenden Übung: Sie werden vielleicht von Ihren eigenen schöpferischen Fähigkeiten überrascht sein.
Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften …
Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit zum Entspannen und sammeln Sie sich. Lockern Sie Ihre Muskeln und atmen Sie tief und gleichmäßig.
Stellen Sie sich nun eine leuchtend rote Rose vor, in allen Einzelheiten, lebendig und klar, als sei sie wirklich da.
• Wenn das Bild klar und deutlich vor Ihren Augen steht, ändern Sie ein einziges Merkmal der Blume. Denken Sie sich die Rose in Blau.
• Anschließend ändern Sie noch ein Merkmal. Stellen Sie sich vor, die Blütenblätter wären lauter Schmetterlingsflügel. Wie sieht die Rose jetzt aus?
• Ändern Sie weiter ein Merkmal der Rose nach dem anderen. Vergrößern oder verkleinern Sie sie. Stellen Sie sich die Blüte rau oder behaart vor oder auch ganz weich. Ändern Sie die Form der Blütenblätter in Seerosenblätter oder Rauten.
• Variieren Sie das Bild weiter, wie es Ihnen gerade einfällt, bis Sie eine ganz neue Blume vor sich sehen, die weder Sie noch sonst jemand je zuvor erblickt hat.
• Gehen Sie dabei so übertrieben oder so feinsinnig vor, wie Sie wollen, aber lassen Sie Ihrem Verstand die Freiheit, etwas völlig Neues zu erfinden. Welches Gefühl verschafft Ihnen diese kreative Erfahrung?
Was haben Sie denn während dieser Phase des kreativen Denkens gemacht?
Wie unterschied sich diese Aktivität von anderen Arten des Denkens? Bei der Antwort auf diese Frage hilft Ihnen kein Lexikon. In meinem Wörterbuch ist Kreativität als Originalität, Erfindungsgabe, Fantasie und als Akt der Schaffung von etwas Neuem definiert.
Alltägliche Definitionen von Kreativität vermitteln uns ein besser nachvollziehbares Verständnis dieser Erfahrung. Man sagt beispielsweise, Kreativität sei die Fähigkeit, ein Problem einmal von der anderen Seite zu betrachten. Eine kreative Idee ist eine Vision oder eine Erleuchtung, ein Augenblick der Inspiration, wenn sich die Gedanken plötzlich auf die richtige Weise zusammenfügen. Kreativität zeigt sich in einer überraschenden Lösung für ein Problem oder ein Dilemma. Kreative Projekte sind elegant, sie lösen eine Aufgabe mit möglichst wenig Ressourcen. Im Allgemeinen verbinden wir Kreativität mit Qualität.
Wir sprechen von der visionären Eigenschaft kreativer Personen. Sie sehen bei der Betrachtung eines Gegenstandes etwas völlig anderes als andere Menschen. Ein Produktdesigner dachte beispielsweise beim Anblick einer Muschelschale plötzlich „Lampe“. Einem Modedesigner fiel bei der Betrachtung des Eiffelturms dagegen ein: „neuer Hut“. Ein Chemiker blickte auf die Ergebnisse eines fehlgeschlagenen Experiments mit Klebstoff und dachte an selbst klebende Notizblätter, was zur Erfindung der „Post-It“-Blöcke führte. Kreative Menschen kombinieren ursprünglich zusammenhanglose Teile zu einem intelligenten Ganzen.
„Kreativität“ ist, kurz zusammengefasst, ein Eintopf aus verschiedenen Begriffen, die für jeden Menschen eine andere Bedeutung haben. Trotzdem spielt sie im Leben eines jeden Menschen eine Rolle.
Dieses Buch wird Ihnen dabei helfen, Ihre schöpferische Begabung zu fördern. Es regt Sie dazu an, Ihren kreativen Geist auf neue Art zu erforschen und besser zu verstehen, wodurch Ihre Fantasie in Gang gesetzt wird. Sie werden mehr neue Ideen und Perspektiven entwickeln und Ihre kreativen Fähigkeiten in zahlreichen Lebensbereichen einsetzen können.
Neues aus der Kreativitätsküche steckt ebenso wie sein Vorgänger Salto Mentale voller Übungen, Spiele und Rätsel. Neu hinzugekommen sind meine „Rezepte für hervorragende Ideen“. All dies soll Sie dazu anregen, nicht nur über Kreativität nachzudenken, sondern selbst am kreativen Prozess teilzunehmen. Man lernt am besten durch eigene praktische Erfahrung, und man macht es am besten, wenn man möglichst viel probiert.
Drei wichtige Zutaten für Kreativität
Man könnte sagen, dass im kreativen Eintopf drei wichtige Zutaten auf keinen Fall fehlen dürfen. Die erste Zutat ist Neuheit. Bei einem schöpferischen Akt wird etwas Neues geschaffen. Die Fähigkeit, neue Gedanken zu erfinden und hervorzubringen – von der Ausarbeitung eines Romans über die Erfindung eines Wortspiels bis hin zur Visualisierung einer völlig neuen Blume – ist für kreatives Denken unerlässlich. Man kopiert nicht einfach eine bereits vorhandene Arbeit, sondern konzentriert sich auf die Erfindung von etwas ganz Neuem. Daher müssen kreative Ideen und Produkte nicht einmalig sein, sie müssen nur für ihren Schöpfer neu sein.
Denken Sie kurz über die Übung mit der Blume nach. Wenn es Ihnen so geht wie den meisten Menschen, haben Sie wahrscheinlich umso mehr Variationen geschaffen, je länger Sie an die Rose dachten. Anfangs waren die Bilder vielleicht undeutlich, doch sie wurden immer schärfer und detaillierter. Im Laufe der Zeit fielen Ihnen immer mehr Veränderungen ein. Sie verglichen die imaginäre Blume mit Erinnerungen an echte Blumen. Mit jeder neuen Idee probierten Sie weitere Alternativen aus und prüften gleichzeitig, ob Ihre Schöpfung tatsächlich etwas Neues war. Wenn Ihnen die Übung richtig Spaß gemacht hat, haben Sie sich vielleicht sogar ziemlich angestrengt. Und wenn das Ergebnis wirklich überraschend war – winzige weißblaue Gänseblümchen mit knallroten Staubfäden, eine Blume aus menschlichen Fingern oder eine Venus-Fliegenfalle mit echten Zähnen –, haben Sie vielleicht eine „Heureka-Erfahrung“ gemacht und einen Augenblick der Erleuchtung erlebt.
Aber gehört zu einer kreativen Erfahrung nicht viel mehr als das Visualisieren einer Blume? Doch, sicherlich. Die zweite wichtige Zutat ist Wert. Sie können sich den ganzen Tag lang neue – sogar nie da gewesene – Blumen vorstellen, aber wenn sich Ihre Vision nicht auf irgendeine Weise realisieren lässt, sind alle Anstrengungen für die Katz. Nur ein Mensch, der seine Vision einer neuen Blume in greifbarer Form umsetzt – in Malerei, Bildhauerei, Worte, Computeranimation, Mauerwerk, Gedrucktes oder auf andere Weise –, kann als kreativ bezeichnet werden. Der Wert lässt die Menschen von der schöpferischen Arbeit Notiz nehmen.
Zur Produktion eines kreativen Werts sind Fachkenntnisse erforderlich. Dies sind Fähigkeiten wie beispielsweise Schreiben, Kochen, Mauern oder Halbleiterdesign. Man kann als Maler nur dann kreativ und gleichzeitig produktiv sein, wenn man ein gewisses Grundwissen über das Mischen von Farben und über die verschiedenen Pinselarten mitbringt. Um wirklich kreativ zu sein (d.h. um wirklich innovative und wertvolle Werke zu produzieren), müssen Sie über die entsprechenden Grundkenntnisse in Ihrem Arbeitsbereich verfügen. Ich will damit nicht sagen, dass Ihnen das Malen nicht auch einfach so Spaß machen kann, aber um produktiv zu sein, brauchen Sie das nötige Grundwissen.
Die dritte Zutat ist Leidenschaft, die Psychologen nennen sie die innere Motivation. Es ist der Wunsch, etwas zu tun, nur weil es Freude macht, und nicht, um eine Belohnung oder einen Preis zu bekommen. Externe Motivation dagegen bringt einen dazu, Dinge zu tun, nicht weil man sie gerne tut, sondern weil es erwartet wird. Man sucht dabei eine zukünftige Belohnung oder will Strafen vermeiden.
Leidenschaft – in allen Spielarten – ist eine wichtige Voraussetzung für Kreativität. Wie könnte ein Künstler träumen, ein Unternehmer ein Risiko eingehen oder ein...