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Neun Autorinnenporträts - von Aichinger bis Zürn

AutorInge Stephan, Regula Venske, Sigrid Weigel
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783105619254
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Der Band enthält Porträts von Ilse Aichinger, Hilde Domin, Geno Hartlaub, Marlen Haushofer, Marie Luise Kaschnitz, Ilse Langner, Johanna Moosdorf, Ruth Rehmann, Unica Zürn. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Inge Stephan war Professorin am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg und am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen zur Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts und zu Frauenbildern und Frauenliteratur.

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Leseprobe

2.


Für die heutige Lektüre von Aichinger-Texten scheint es mir unergiebig und unangebracht, zuerst nach der Rolle und Darstellung der Frau in ihrer Literatur zu fragen. Die Bedeutung, die ihre Texte für die Tradition weiblicher Ästhetik haben, liegt auf einer anderen Ebene. Sie ergibt sich aus ihrer Sensibilität für die Funktionsweise von Sprache und ästhetischen Formen und aus ihrer Opposition gegen die herrschende Ordnung, die von ihr allerdings nicht als männliche bezeichnet wird. Obwohl sie sehr selten nur geschlechtsspezifische Aussagen macht, gibt es auffällige Berührungen zwischen ihrer literarischen Position und einigen Überlegungen von Frauen aus dem letzten Jahrzehnt: z.B. mit Hélène Cixous’ Überlegungen über »Weiblichkeit in der Schrift«, außerdem mit neueren Bewertungen von Phantasie, Mythos und Mystik für die Imagination von Frauen, mit Christa Wolfs Kritik am abendländischen Logik- und Wirklichkeitsverständnis und mit der zunehmenden Konzentration von Frauen auf die Bedeutung der Sprache als eigenständige ordnungsstiftende Instanz. Der zeitgeschichtliche Kontext, in dem Aichingers schriftstellerische Entwicklung begann, war von Männern bestimmt. Sie gehört zu der zahlenmäßig kleinen Generation von Autorinnen, deren Karriere nach 45 anfing und die sich in den 50er Jahren durchgesetzt haben. Das kulturpolitische Klima in der Nachkriegszeit muß für Frauen besonders ungünstig gewesen sein, denn es sind unter den bekannteren Autorinnen neben Aichinger nur Bachmann und Mayröcker, deren schriftstellerische Anfänge in diese Zeit fallen[26] – drei Schriftstellerinnen mit auffällig anspruchsvollem ästhetischen Programm und alle drei Österreicherinnen.

Ilse Aichinger ist 1921 in Wien geboren. Sie lebte nach der Scheidung der Eltern bei der Mutter, einer Jüdin. Die Mutter überlebte den Faschismus aufgrund der Bestimmung, daß Mütter halbarischer Kinder geduldet wurden. Seit dem 21. Geburtstag Ilse Aichingers 1942 lebte diese aber ständig in der Angst, daß die Mutter abgeholt würde, ebenso wie die Großmutter, die 1942 tatsächlich deportiert und im Konzentrationslager umgebracht wurde. Ilse Aichinger selbst durfte noch das Abitur machen, aber nicht mehr studieren. Nach 45 begann sie mit einem Medizinstudium, das sie aber nach fünf Semestern abbrach, um ihren Roman zu beenden. 1950 dann begann sie als Lektorin beim S. Fischer Verlag.

Der Roman erhielt zu seiner Zeit nicht »die ihm gebührende Aufnahme« (Härtling). Mir scheint, daß man, um die Direktheit des Textes abzuwehren, die Autorin nicht ernst nahm. Eine solche Haltung spricht selbst noch aus dem wohlwollenden erinnernden Bericht des Verlegers Gottfried Bermann Fischer:

 

»Eines Tages meldete sich bei uns, auf Empfehlung des Kritikers und Journalisten Hans Weigel, ein bildschönes, dunkelhaariges Mädchen, krampfhaft ein Papierbündel unter dem Arm haltend … Es war Ilse Aichinger mit ihrem Roman ›Die größere Hoffnung‹, den sie, fast noch ein Kind, in den vergangenen Leidensjahren geschrieben hatte.«[27]

 

Ilse Aichinger war, als das Buch erschien, immerhin 26 Jahre alt. Es mag sein, daß diese Reaktionen auf ihre schriftstellerischen Anfänge sie darin beeinflußt haben, sich in Zukunft mehr auf die formal-ästhetische Seite ihrer Schreibarbeit zu konzentrieren. Die weitere Entwicklung ihrer Literatur ist durch einen deutlichen Zug zum Abstrakten und Begrifflichen gekennzeichnet, die konkreten Stoffe der Erfahrung verflüchtigen sich dabei immer mehr.

Ihren eigentlichen Durchbruch als Autorin hatte sie 1952, als sie für ihre »Spiegelgeschichte« den Preis der »Gruppe 47« erhielt. Es handelt sich dabei um eine sehr artifizielle Erzählung, deren poetische Bedeutung darin besteht, daß sie das Ende, den Tod einer jungen Frau, zum Ausgangspunkt macht und die Heldin ihren eigenen Weg zurückgehen läßt – wobei das Zurück wie ein Vorwärts erscheint. Die Stationen der Heldin sind: Grab, Leichenhalle, Krankenhaus, der Besuch bei der Alten (einer sog. Engelmacherin) – von der sie jetzt fordert: »Mach mir mein Kind wieder lebendig!«[28] – das Gespräch mit dem jungen Mann – »Er hat schon wieder keine Tränen, gib ihm von deinen«[29] – dann das Zusammensein mit ihm, auch das erste, schließlich die Kindheit, in der die Bedeutung der Sprache hervorgehoben ist – »Das Schwerste bleibt es doch, das Sprechen zu vergessen.«[30] Diese Umkehr der Chronologie in der literarischen Darstellung stellt die Ordnungsprinzipien der Erzählung in Frage; statt der Abtötung des Lebendigen in der Beschreibung wird eine Bewegung der Verlebendigung in der Schrift inszeniert. Der Fluchtpunkt dieser Bewegung ist ein Zustand vor der Sprache.

Besonders interessant für heutige Diskussionen ist die Metapher des Spiegels in dieser Erzählung, weil sie die Differenz zwischen Aichingers geschlechtsneutralen ästhetischen Überlegungen und den aktuellen Thesen zur weiblichen Ästhetik markiert. »Der Spiegel gibt mir die Kraft. Der blinde Spiegel mit den Fliegenflecken läßt dich verlangen, was noch keine verlangt hat.«[31] Der Spiegel wird bei Aichinger damit zur Metapher für die Verkehrung der normalen, herrschenden Ordnung und Abfolge und zum Konzept einer neuen Sehweise, dem Erzählen vom Ende her, quasi spiegelverkehrt. In der aktuellen Theorie dagegen ist der Spiegel die Metapher für die vorgefundene weibliche Identität, für die Tatsache nämlich, daß das Selbstbild von Frauen zu einem großen Teil aus den Projektionen des Mannes gebildet ist: Bei dem Blick in den Spiegel trifft sie auf das Bild, das er sich von ihr gemacht hat. Weibliche Schreibanstrengung gilt nun der Zerstörung bzw. Ver-Rückung dieses Verhältnisses und will das starre (Spiegel-)Bild in Bewegung bringen.

Der erste Band mit Erzählungen Ilse Aichingers, der 1952 unter dem Titel »Rede unter dem Galgen« erschien, aber bekannter geworden ist unter dem Titel der Neuausgabe von 1953, »Der Gefesselte«, enthält einige Geschichten, die weibliche Erfahrungen thematisieren. Da ist neben der »Spiegelgeschichte« die »Mondgeschichte«, eine Erzählung, die den Zusammenhang von Schönheitsfetisch und weiblicher Verbannung in die Verlassenheit in ironischer Form beschreibt. Sie handelt von einer Schönheitskönigin, die statt des mißklingenden Titels »Miß Erde« die noblere Auszeichnung »Miß Universum« erhalten soll, die aber – um diese anmaßende Bezeichnung wenigstens in einem Fall zu überprüfen – zum Mond geschossen wird. Dort trifft sie auf die – natürlich viel schönere – undinenhafte Ophelia. An deren Aura partizipierend und deren Schönheit nachahmend, geht »Miß Universum«, als sie wieder auf der Erde ist, ins Wasser, um sich der undinenhaften Gestalt Ophelias anzunähern. Damit reagiert sie ganz konsequent auf einen gänzlich unirdischen Schönheitsbegriff, in dem Schönheit und Tod in der Unmöglichkeit eines menschlichen, unvollkommenen Lebens identisch geworden sind. Die Erzählung zeigt, daß die Frau sich in dieser Schönheitsvorstellung zum Märchenwesen verflüchtigt.

Auf einen vergleichbaren Zusammenhang von Bild und Tötung, allerdings unabhängig vom Frauenbild, geht eine andere Erzählung ein, »Das Plakat«. Sie handelt von der Gestalt eines Jungen auf einem großen Werbeplakat, das auf einem Bahnhof plaziert ist.

 

»Er war jung und schön und strahlend. Er hatte das Spiel gewonnen, doch den Preis hatte er zu bezahlen. Er war festgehalten in der Mitte des Tages (…) Vielleicht hing alles damit zusammen, daß er nicht sterben konnte.«[32]

»Aber wie sollte er tanzen, wenn er nicht sterben konnte, wenn er immer so bleiben mußte, jung und schön, die Arme erhoben, halbnackt im weißen Gischt?«[33]

 

Die Unlebendigkeit dieses Jungen wird konstrastiert mit einem kleinen Mädchen, das wiederum auf die Täuschung des schönen Scheins hereinfällt, indem es den Jungen anlacht, mit ihm tanzen will und – auf ihn zurennend – vor einen einfahrenden Zug läuft. Der Junge, aus »Angst, sie könnten ihn noch einmal erstarren lassen«[34], gerät nun ebenfalls in Bewegung. Sein Plakat löst sich durch den Wind, fällt auf die Schienen und wird vom Gegenzug zerfetzt. Die Erzählung läßt sich lesen als eine Parabel über den Zusammenhang von Erstarrung und Dauer in der Ästhetik und über die Dialektik von Lebendigkeit und Sterben, Motive, die in der neueren Literatur von Frauen – nach den autobiographischen Berichten über weibliche Alltagserfahrungen und Entwicklungen – immer stärker in den Mittelpunkt getreten sind.

Ilse Aichinger selbst hat sich gegen eine Lesart ihrer Geschichten als Parabeln gewehrt. Es scheint, daß sie sich damit einer Verallgemeinerung von Aussagen einzelner Texte bzw. deren Lektüre im Sinne einer Botschaft widersetzen wollte, vor allem aber wohl einer verbreiteten Interpretationsweise, bei der Texte zum Anlaß genommen werden, um über dahinter verborgene, unausgesprochene Bedeutungen zu spekulieren. Ihr ginge es nur um das, was sie beschrieben habe, so Aichinger mehrfach.[35] Trotzdem ist nicht zu übersehen, daß die Erzählungen des ersten Bandes in Aufbau und Erzählmodus einen lehrhaften Zug tragen. Das trifft besonders für die Titelgeschichte, »Der Gefesselte«,...

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