27. November, abends
»Grüß Gott«, rutscht es mir raus. Ich will mir gerade noch auf die Zunge beißen, aber da kriege ich schon die Antwort, die jedem Münchner blüht, wenn er in Berlin nicht »Guten Tag« sagt.
»Haste ’nen Nagel im Kopf, du Bayer?«, blafft der junge Punk am Prenzlauer Berg zurück, als ich mich höflich nach der Adresse des italienischen Restaurants erkundige. Kimberly, meine Verlobte, knufft mich in die Seite.
»Hier gibt’s ja wirklich noch echte Punks. Aber hast du gesehen, welches Bier der Charmebolzen trinkt? Natürlich unser Münchner Augustiner!«
»Manieren hat er keine, dafür Geschmack«, lobe ich.
Zehn Minuten später erreichen wir nach einigem Suchen unser Ziel. Als Kimberly und ich das »Bella Donna« betreten, werden wir gleich überschwänglich begrüßt. Wir sind mit einem befreundeten Berliner Paar verabredet, das wir seit Jahren nicht gesehen haben. Das Wiedersehen ist euphorisch, das Essen fantastisch.
Gerade habe ich den letzten Bissen der Hauptspeise, einer hauchdünnen Salamipizza aus dem Holzofen, verputzt, da erschrecke ich bei Kimberlys Anblick: »Schatz, wie siehst du denn aus? Du hast ja drei Augen! Und sechs Arme! Ähnelst ein bisschen Shiva, also dieser indischen Gottheit.«
Kimberly blickt mich irritiert an. Bevor sie etwas sagen kann, bricht Gelächter aus.
»Du verträgst auch nichts mehr, Clemens«, sagt Stoffel, der Mann von Nina und unser Freund.
»Unverschämtheit«, antworte ich gespielt entrüstet. »Ich habe nur zwei winzige Gläschen Wein getrunken.« Ich schaue in die Runde, aber alles verschwimmt vor meinen Augen, nicht nur meine Verlobte.
»Noch ein Tiramisu, Signore?«, fragt der Kellner. Nein, um Gottes willen, denke ich und schüttele energisch den Kopf.
»Alles okay mit dir?«
»Ja, ja, alles bestens. Ich brauch nur kurz frische Luft. Hier ist alles so verqualmt.«
»Aber es raucht doch niemand, Clemens.«
Verstört stehe ich auf und gehe vor die Tür. Vor dem Lokal fühle ich mich immer noch seltsam. Irgendwie high. So stelle ich mir einen LSD-Trip vor – einen besonders schlimmen Horrortrip allerdings. Kräftig atme ich ein und aus. Ich versuche, mich zu konzentrieren. Was ist nur los mit mir? War mein geliebtes Rinder-Carpaccio, das ich als Vorspeise hatte, etwa schlecht? Oder hat mir jemand heimlich K.-o.-Tropfen in den Wein gemixt? Ratlos starre ich vor mich hin. Die an mir vorbeiziehenden Menschen sehen alle aus, als würden sie schweben. Da kommt zum Glück Kimberly. Sie nimmt mich in den Arm und redet auf mich ein. Ich verstehe nur Wortfetzen. »Taxi«, »Hotel«, »Bett.« Ihr drittes Auge und die vielen Arme sind immer noch da. Als ich wieder halbwegs zu mir komme, sitze ich auf dem Hotelbett.
»Was war denn eben im Restaurant los?«, frage ich Kimberly verstört.
»Das wollte ich eigentlich dich fragen. Du hast dich vor Nina und Stoffel total komisch benommen. Was sollte der Scherz mit dem dritten Auge?«
»Aber ich sehe es doch genau! Da, über deiner Nase! Du musst mir glauben, Schatz, bitte, auch wenn alles seltsam klingt.«
Kimberly sieht mich noch irritierter an als vorhin im Lokal.
Immer wieder drückt Clemens seinen Finger an meine Stirn. Dann torkelt er durchs Zimmer, bewundert minutenlang die psychedelisch gemusterte Tapete mit den konzentrischen lila Kreisen. Er wirkt wie fremdgesteuert. Hat er heimlich die gesamten Grappa-Bestände beim Italiener vernichtet? So habe ich ihn noch nie erlebt. Im Gegenteil: Normalerweise übersteht er selbst die wildesten Partys ohne Ausfallerscheinungen. Ich überlege, ob ich den Notarzt rufen soll. Doch was soll ich dem sagen? Nach zwei Stunden beim Italiener hat er den totalen Indien-Flash und sieht überall dritte Augen? Keine wirklich präzise Diagnose …
Kimberly bringt mir ein Glas Wasser und ein Aspirin. Ernst sage ich: »Du, jetzt weiß ich, was mit mir nicht stimmt: Jemand will mich vergiften.«
»Aber wer soll dich denn vergiften? Und vor allem – warum? Du wirst sehen, morgen geht’s dir wieder besser.«
In diesem Moment wird mir hundeübel. Ich renne ins Bad, schließe gerade noch die Tür, dann muss ich mich übergeben. Ich speie einen Schwall rötliches Erbrochenes aus. Das muss das verfluchte Carpaccio sein, bin ich mir sicher. Wenigstens bin ich es jetzt los. Ich werfe einen Blick in den Spiegel und bekomme einen Schock. Meine Sommerbräune ist einer aschfahlen Gesichtsfarbe gewichen. Trotzdem fühle ich mich etwas erleichtert und gehe zurück zu Kimberly.
»Das wird schon wieder«, beruhige ich uns beide und erzähle etwas von Lebensmittelvergiftung. »Vielleicht werde ich ja doch noch zum Vegetarier«, versuche ich sogar einen müden Scherz. Wir ziehen uns aus, legen uns ins Bett. Erschöpft blicke ich in Kimberlys Gesicht. Das dritte Auge ist weg. Endlich. Ich schlafe beinahe auf der Stelle ein. In der Nacht wälze ich mich viel herum und wache am nächsten Morgen schweißnass auf. Die Dusche erfrischt mich. Trotzdem fühle ich mich kraftlos und zittrig.
Später am Frühstücksbuffet versuche ich, mir meinen Zustand nicht anmerken zu lassen. Irgendwann muss sich das Gammel-Carpaccio doch aus meinem Magen verabschiedet haben. Ich nehme mir eine große Schüssel mit Joghurt und Früchten. Kimberly blickt mich an, als sei ich ein Außerirdischer.
»Du und Früchtejoghurt? Geht’s dir doch noch so schlecht?«
»Vielleicht geben mir die Vitamine die Power für den Vortrag«, versuche ich, meine exotische Wahl zu erklären. Insgeheim hoffe ich das auch. In einer Stunde muss ich nämlich topfit sein. Ich soll mein neues Buch einer handverlesenen Runde wichtiger Buchhändler vorstellen. Ich soll eloquent sein, spritzig und witzig. Aber ich fühle mich gerade so, als hätte mir jemand mit einer überdimensionalen Spritze die ganze Kraft aus dem Körper gesaugt. Da hilft auch mein Früchteexperiment nicht. Im Gegenteil. Nach einer zweiten Portion eile ich zurück auf unser Zimmer, um mich erneut zu übergeben. Wieder hat das Erbrochene eine rötliche Farbe. Als ich zurück in den Frühstücksraum komme, sieht mich Kimberly besorgt an.
»Wollen wir nicht besser zum Arzt gehen? Sorry, du siehst schrecklich aus, mein armer Schatz.«
»Geht schon«, antworte ich schwach. »Aber zum Arzt? Kommt nicht infrage!«
28. November, mittags
Mitleidig sieht sie mich an, Maja, meine Lektorin.
»Na, Clemens, gestern ’ne lange Nacht gehabt?«
Mädchen, wenn du wüsstest, denke ich und schüttele den Kopf.
»Dann ist’s sicher das Lampenfieber«, forscht Maja weiter. Bevor ich antworten kann, sagt sie: »Mach dir nichts draus, Clemens, ich bin auch immer total nervös, wenn ich vor vielen Leuten reden muss.« Wir stehen mit einigen anderen Verlagsmenschen um einen runden Tisch herum und warten auf meinen Auftritt vor den Buchhändlern. Immer wieder suche ich Kimberlys Blick. Ihre Anwesenheit beruhigt mich. Während mir ein anderer Autor enthusiastisch von seinem epochalen Werk zum Thema Burn-out erzählt, werden meine Beine schwach. Da rettet mich Kimberly aus der Situation.
»Komm, setz dich. Atme noch mal tief durch, du packst das schon!«
Ich verziehe mich in die hinterste Ecke des Vorraums. Mein Wasserglas muss ich mit beiden Händen umfassen, so sehr zittere ich. Kimberly legt mir ihre Hand auf die Stirn.
»Sollen wir deinen Auftritt lieber absagen?«
»Auf keinen Fall. Du weißt doch: einmal Rampensau, immer Rampensau!«
Da kommt schon Maja auf uns zu und sagt aufgeregt: »Clemens, schnell, schnell, du bist dran.«
Ich folge ihr in den großen Vortragsraum, nehme in der Mitte des Podiums Platz und blicke in etwa fünfzig gespannt dreinblickende Augenpaare. Da höre ich plötzlich die Sirene eines Krankenwagens, der draußen auf der Straße vorbeirast. Der Lärm geht mir durch Mark und Bein. Merkwürdig, ich frage mich plötzlich, welches arme Schwein da wohl gerade drinliegen mag. Eigentlich habe ich aber jetzt gar keine Zeit für solche Gedanken. Aufgeputscht durch das Adrenalin, das automatisch mit der Aufregung kommt und alle körperlichen Beschwerden für den Moment in den Hintergrund drängt, beginne ich meinen Vortrag. Die Witze, zuvor an Kimberly erfolgreich ausprobiert, sitzen. Mein Publikum lacht und applaudiert, nachdem ich ein Probekapitel aus meinem neuen Buch vorgelesen habe.
Das wäre geschafft, denke ich erleichtert. Ich stehe auf, verbeuge mich kurz. Dabei habe ich Angst, mich vor allen übergeben zu müssen. Ich verlasse das Podium, so schnell es geht.
»Kimberly, Schatz, bloß raus hier jetzt«, sage ich, zurück im Vorraum. Meine Beine tragen mich gerade noch bis in ein Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Schwer atmend lasse ich mich dort in einen Sessel auf der Terrasse plumpsen. Die frische Luft tut gut. »Kimberly«, sage ich, »aus unserer Shopping-Tour wird heute nichts. Ich bin total alle.« Sie nickt verständnisvoll. Dann muss ich mich auf den Steinboden übergeben.
»Ist das Blut? Um Himmels willen!«
Fatalerweise haben wir den letzten Flug nach München gebucht. Umbuchen ist unmöglich, wie sich nach einigen Telefonaten mit der Fluggesellschaft herausstellt. Da es erst früh am Nachmittag ist, bleiben uns noch einige Stunden Zeit bis zum Abflug.
»Wollen wir in die Charité fahren, Clemens? Nur zur Sicherheit?«
»Bloß nicht. Die behalten mich am Ende gleich in der Klinik. Ich will einfach nur nach Hause....