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DAS INNERE DREIECK UNDDER FALL
Das Enneagramm ist eine Figur, die aus einem inneren Dreieck mit den Punkten Neun, Sechs und Drei sowie einer äußeren Form besteht, welche die Punkte Eins, Vier, Zwei, Acht, Fünf und Sieben verbindet. Diese beiden Formen stehen nicht miteinander in Verbindung (siehe Diagramm 4), wodurch das innere Dreieck eine gewisse Eigenständigkeit besitzt. Auf der Ebene des Enneagramms der Persönlichkeit stellt das innere Dreieck auslösende Faktoren und Stadien des archetypischen Prozesses dar, in welchem wir den Kontakt zu unserem grundlegenden oder essenziellen Wesen verlieren und schließlich eine Ichstruktur entwickeln. Wenn wir uns selbst frei von allen vergangenen Einflüssen wahrnehmen, sind wir identisch mit unserem essenziellen Wesen, unserem angeborenen und unkonditionierten Bewusstseinszustand. Es ist unser frühkindlicher Zustand, der mit der jeweiligen Eigenart unserer Seele wie Freundlichkeit, Aufgewecktheit, Robustheit und so weiter korrespondiert. Als Kleinkinder können wir unsere Erfahrung allerdings nicht als solche erkennen, weil wir noch nicht zur Selbstreflexion fähig sind.
Der Prozess, in dessen Verlauf wir die Verbindung zu unserem wahren Wesen verlieren, ist universal: Jeder, der ein Ich entwickelt, macht ihn durch – im Grunde also jeder Mensch auf diesem Planeten, es sei denn, er wird als Heiliger geboren oder als Narr, das heißt als jemand, der keine Ichstruktur entwickelt. Jeder Enneatyp des Dreiecks „spezialisiert“ sich sozusagen auf einen der drei archetypischen Verlustmomente und entwickelt sich in dessen Umfeld. Genauso könnte man sagen, dass die drei Typen die drei entsprechenden Phasen im Prozess der Ich-Entwicklung beleuchten und präzisieren, während die restlichen Punkte des Enneagramms diesen Prozess weiterverfolgen. Indem wir den durch das innere Dreieck dargestellten Prozess verstehen, gewinnen wir nicht nur tiefere Einsichten in das Enneagramm der Persönlichkeit, sondern erkennen auch, was wir in uns konfrontieren müssen, um uns wieder mit unserem essenziellen Wesen zu verbinden. Da ich hier die Phasen eines universellen Prozesses und nicht die drei Enneatypen als solche beschreibe, werde ich mich auf Punkt Neun, Sechs und Drei beziehen, anstatt die Namen der zugehörigen Enneatypen zu verwenden.
Diagramm 4
DAS INNERE DREIECK
Wie seine Position an der Spitze des Enneagramms schon andeutet, repräsentiert Punkt Neun das grundlegende Prinzip, welches die Ich-Entwicklung einleitet, den eigentlichen Verlust des Kontakts zu unserem wahren Wesen. Dieser Kontaktverlust wird in der spirituellen Literatur oft als Schlaf bezeichnet, der einen Zustand von Unwissen und Dunkelheit mit sich bringt. Der Prozess, in dem wir den Kontakt zu unseren angeborenen und noch nicht konditionierten Anteilen verlieren, vollzieht sich als allmählicher Vorgang während der ersten Lebensjahre, und im Alter von vier Jahren haben wir meist schon keinen bewussten Zugang zur Essenz mehr. Und damit, dass wir uns unseres wahren Wesens nicht mehr bewusst sind, beginnt der Bau des Gerüstes, der Aufbau unserer Ichstruktur.
Für unsere spirituelle Entwicklung ist der Aufbau dieser Struktur eine notwendige Vorbedingung, da das sich selbst reflektierende Bewusstsein eine Errungenschaft des Ich ist. Ohne es könnten wir keine Wahrnehmung unseres eigenen Bewusstseins entwickeln. Verschiedene Traditionen erklären diese anscheinend unvermeidliche und offensichtlich beklagenswerte Entwicklung auf ganz unterschiedliche Weise. In ihrem Kern bleibt sie ein Geheimnis, und unsere Vorstellungen über die Gründe, die dazu geführt haben, sind letztendlich bedeutungslos. Es ist einfach so wie es ist, und wir können uns entweder mit unserer Entfremdung auseinandersetzen oder weiterschlafen, ohne sie zu erkennen.
Es gibt eine Anzahl von Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass wir den Kontakt zur Essenz verlieren. Der erste hat damit zu tun, dass wir uns mit unserem Körper identifizieren und ihn für das halten, was oder wer wir sind. Nach Heinz Hartmann, dem Vater der Ich-Psychologie und einem der bedeutendsten post-freudianischen Psychoanalytiker, kann man unser Bewusstsein kurz nach der Geburt unter anderem als undifferenzierte Matrix beschreiben, in der die psychologischen Strukturen, die erst später in Erscheinung treten – das Ich, das Über-Ich und die Triebe –, weder eine Form angenommen haben noch sich voneinander unterscheiden. Rene Spitz, in etwa ein Zeitgenosse Hartmanns und einer der ersten, der sich der analytischen Erforschung der Mutter-Kind-Beziehung widmete, erweiterte dieses Konzept um den Begriff der Nichtdifferenziertheit, wo nicht zwischen Innen und Außen, dem Selbst und dem Anderen, Psyche und Soma unterschieden wird und demnach auch keine Wahrnehmung (kein Erkennen) stattfindet.
Basierend auf den Erfahrungen jener Menschen, die in die tiefsten Schichten ihrer Persönlichkeitsstruktur und zu den dort eingeschlossenen Erinnerungen vorgedrungen sind, gehen wir davon aus, dass sich der Säugling in einem Zustand der Einheit befindet, der sich aus Körperempfindungen, Emotionen, Gefühlen und essenziellen Zuständen zusammensetzt. Alle Inhalte des Bewusstseins sind in einer Art Ursuppe miteinander vermischt. Es ist wahrscheinlich, dass ein Kind die Unterschiede zwischen den Dingen zwar wahrnimmt, die Dinge aber nicht wirklich als getrennt erkennt. Es mag zum Beispiel die Wärme der Mutterbrust fühlen, die rote Farbe seines Gummiballs sehen und das Hungergefühl in seinem Bauch spüren, aber höchstwahrscheinlich unterscheiden sich diese Erfahrungen in seiner Vorstellung noch nicht voneinander. Die Wärme, das Rot und der Hunger hätten alle teil an der Einheit seines Erlebens.
Die erkennende Wahrnehmung beginnt, wenn wir zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen unterscheiden und die Erinnerungsspuren dieser Eindrücke allmählich in unserem sich entwickelnden zentralen Nervensystem gespeichert werden. Die Wiederholung dieser Eindrücke führt schließlich zur Gedächtnisbildung. Zu allererst unterscheiden wir zwischen Schmerz und Freude, und aus diesem Grund bildet das Freudianische Prinzip, demzufolge wir nach der Freude streben und den Schmerz zu vermeiden suchen, die Basis unserer Ichstruktur.
Allmählich bildet sich eine weitere Differenzierung heraus: Ein Gefühl des Innen im Gegensatz zum Außen beginnt, Form anzunehmen. Die gesammelten Empfindungen aus dem Inneren unseres Körpers werden als rudimentäres inneres Identitätsgefühl registriert und bilden die Basis für unser weiterhin vorhandenes Selbstgefühl. Das sich häufig wiederholende Erlebnis, von einer mütterlichen Bezugsperson berührt zu werden, führt schließlich dazu, dass die vielfältigen Empfindungen an der Peripherie des Körpers zu einem Gefühl für die Körpergrenzen zusammenfließen. Der Körper eines jeden Menschen ist vom Körper eines jeden anderen Menschen getrennt, und wiederholter Umweltkontakt über die Haut lässt das Gefühl entstehen, ein getrenntes und eigenes Wesen zu sein. Dieses Gefühl von Getrenntsein, diese Wahrnehmung unser selbst als etwas, das eindeutige Grenzen hat, bildet eine weitere fundamentale Überzeugung und wird zu einem Charakteristikum der Ichstruktur.
Das sich selbst reflektierende Bewusstsein hat seinen Ursprung also in körperlichen Empfindungen, und unser Gefühl dafür, wer und was wir sind, wird automatisch mit dem Körper in Verbindung gebracht. „Das Ich,“ sagte Freud, „ist vor allem ein Körper-Ich.“1 Diese Identifikation mit dem Körper und seiner faktischen Getrenntheit bildet die Basis für unsere Selbstdefinition, die uns von unserem frühkindlichen Bewusstsein abschneidet, in dem alles als eine Ganzheit erfahren wird – als genau jene Einheit, die auch in tiefen spirituellen Erlebnissen erfahrbar ist, wie wir den Berichten von Mystikern aller Zeiten entnehmen können. In Momenten, wo die vorgebliche inhärente Getrenntheit aufgehoben ist, erkennen wir, dass unser wahres Wesen mit dem Wesen von allem, was existiert, eins ist. Wenn wir jedoch mit unseren Körpern und daher mit unserer Getrenntheit identifiziert sind, erleben wir uns nicht mehr als einzigartige Manifestation eines Einen oder als verschiedene Zellen im einen Körper des Universums, sondern als endgültig getrennt und deshalb vom Rest der Wirklichkeit abgeschnitten.
Der zweite Faktor, der dazu beiträgt, dass wir den Kontakt zu unserem essenziellen Wesen verlieren, hat mit Unzulänglichkeiten im kindlichen Umfeld zu tun – zum Beispiel mit Grenzüberschreitungen und einem Mangel an Einfühlungsvermögen und Verständnis von Seiten der Umwelt, besonders der mütterlichen Bezugsperson. Da Kinder ihre Bedürfnisse noch nicht verbal mitteilen können, ist dieser Mangel an Einfühlungsvermögen größtenteils unvermeidlich – die Mutter kann nur raten, ob das Kind gerade Hunger, Blähungen oder Stuhlgang hat. Auf Schmerz oder Unwohlsein, die sich zunächst körperlich äußern, reagiert das Baby, indem es versucht, sich von ihnen zu befreien. Das wird durch die Angst um das Überleben noch geschürt, und das Baby steigert sich auf Alarmstufe eins, um sich vor dem Schmerz zu...