Vorwort
Das Thema Sexualität hat mich schon immer interessiert und fasziniert. Am Anfang der Entdeckung meiner eigenen Sexualität überwogen die direkte Erfahrung und der Genuss dieses ursprünglichen und schöpferischen, aufregenden und intimen Erlebnisses. Ich hatte das Glück, einfühlsame Partner auf meinem Weg kennenzulernen, die achtsam, offen und liebevoll die Welt der Sexualität mit mir erforscht und mir dabei intensive und glückliche Momente beschert haben. Anders als viele von mir, die ich als Italienerin in Italien aufgewachsen bin, annehmen, bin ich in einem sehr aufgeschlossenen familiären Umfeld groß geworden. So konnte ich mich in Bezug auf meine Körperlichkeit frei entfalten und meine Erfahrungen altersgerecht mit viel Freude am Entdecken machen.
Später wurde meine Haltung „wissenschaftlicher“ in dem Sinne, dass ich das Interesse verspürte, das Thema Sexualität über meine eigene Erfahrung hinaus zu erforschen und zu reflektieren – womit eine spannende Reise begann, die noch lange nicht abgeschlossen ist! Dieser Forschergeist hat mich zu unterschiedlichen Abenteuern und besonderen Lehrern geführt, die sich wie ich dieses Themas angenommen hatten und mir ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergaben.
So habe ich vor vielen Jahren die Welt der fernöstlichen Kulturen kennengelernt und über eine Tausende von Jahren alte Tradition, das Tantra-Yoga, viele Anregungen bekommen, die mir einen für mich damals neuen Umgang mit Sexualität ermöglichten. Hier habe ich vor allem gelernt, die untrennbare Verbindung von Sexualität und Spiritualität bewusst wahrzunehmen und in meinem eigenen Leben tiefer und sicherer zu verankern: Sexualität als Urkraft und lebensspendende Energie, als Medium zur innigen körperlichen und emotionalen Vereinigung mit dem Partner und auch als eindeutig triebhafter, genitaler Aspekt sowie Spiritualität als Sehnsucht nach Verbindung und Integration der künstlichen Trennung zwischen „oben“ und „unten“, zwischen Körper und Geist – eine Spiritualität, die von vornherein die Überwindung der Dualität von Mensch und Göttlichem postuliert, weil sie das göttliche Prinzip als immanent im Menschen vorhanden anerkennt und zelebriert.
Bald entstand der Wunsch, meine Erfahrung und mein Wissen über einen so wesentlichen Bereich des Lebens weiterzugeben und mit anderen zu teilen. Gemeinsam mit meinem Partner begann ich Selbsterfahrungsgruppen zu organisieren und anzubieten. Wir erfuhren dabei von Anfang an eine so gute Resonanz, dass wir unsere Angebote mehr und mehr ausweiteten. Heute laufen unsere Kurse zweimal wöchentlich während des ganzen Jahres. Hinzu kommen thematische Workshops und intensive Wochenseminare.
Der Schwerpunkt in den Gruppen war und ist die Praxis der Achtsamkeit, der Fähigkeit der unmittelbaren, wertfreien und liebevollen Wahrnehmung dessen, was gerade ist. Die gesteigerte Achtsamkeit dient dazu, uns unserer tatsächlichen Befindlichkeit, ob geistig, seelisch oder körperlich, bewusst zu werden. Zu spüren, wie es uns wirklich geht, d.h. welche Bedürfnisse, Hoffnungen und Sehnsüchte uns bewegen und welche Glaubenssätze, Projektionen und unterdrückten Gefühle uns daran hindern, unsere Wünsche zu erfüllen, ist der Schlüssel zur Akzeptanz der Dinge, die wir nicht ändern können – aber auch zur Veränderung all dessen, was verändert werden kann. Dabei spielt der Körper die Hauptrolle, da wir mit ihm über einen „Anker“ verfügen, der uns davor schützen kann, den Kontakt mit der Gegenwart zu verlieren. Über die Wahrnehmung des Körpers verankern wir uns im Hier und Jetzt, der einzigen zeitlichen Dimension, in der wir Einfluss ausüben können, in der es möglich ist, etwas zu tun und ggf. zu ändern.
Später drängte mich mein Wissensdurst, meine eigenen Erfahrungen mit Ansätzen zu ergänzen, die mehr dem therapeutischen Umfeld entstammen. Hier fand ich viele Parallelen zu den von mir bereits eingeschlagenen Wegen:Die körperorientierte Sexologie und die davon abgeleitete Sexualtherapie formulieren in einer wissenschaftlichen Sprache, was ich zuvor mithilfe fernöstlicher Spiritualität gelernt hatte. Was dort ohne weitere Erklärungen als „sexuelle Energie“ beschrieben wurde, wird hier „Vitalitätsgefühl“ genannt. Gemeint ist nichts anderes als – auf der physischen Ebene – eine erhöhte Durchblutung, die insgesamt ein wohliges lebendiges Gefühl beschert. Es mag trivial und zu selbstverständlich erscheinen, um hier ausdrücklich erwähnt zu werden, aber Sexualität hat tatsächlich auch etwas mit unserem Körper zu tun – und damit, wie wir mit ihm umgehen und ihn „bewohnen“. In meiner Praxis und in den Gruppen treffe ich immer wieder auf Menschen, denen diese scheinbar banale Tatsache nicht bewusst zu sein scheint, mit der Konsequenz, dass sich bestimmte Gewohnheiten und Körperhaltungen verfestigen, die für ein lustvolles Sexualleben nicht wirklich förderlich sind.
Weiterhin spielt in meiner Arbeit die Beobachtung des Körpers, seiner Haltung und seiner Veränderungen eine wesentliche Rolle. Wie Menschen sich mit und in ihrem Körper „zu Hause“ fühlen, ob und inwiefern sie sich erlauben, ihre innere Lebendigkeit über den Körper zum Ausdruck zu bringen, ihre Gefühle auszudrücken, und schließlich, wie und inwiefern sie ihren Körper „bewohnen“, ist Gegenstand meines Interesses. Hilfestellung zur Verankerung und Vertiefung dieser Beziehung zum eigenen Körper durch Anregungen und therapeutische Interventionen ist ein Hauptaspekt meiner Arbeit. Meine Tätigkeit als Sexualtherapeutin und als Leiterin von Selbsterfahrungsgruppen ist bis heute sehr stark von einem körperorientierten Ansatz geprägt. Viele dieser Aspekte sowie entsprechende Übungen zur Selbstwahrnehmung werde ich in diesem Buch vorstellen.
Meine Entdeckungsreise ging jedoch noch weiter und ich kam in Kontakt mit anderen Methoden, die meinen Horizont erweiterten und die ich in meine Arbeit integrieren konnte:
Von großer Bedeutung bei der Entstehung von Problemen auf der sexuellen Ebene ist das jeweilige Beziehungsmuster, das sich zwischen zwei Menschen im Laufe ihrer Partnerschaft etabliert. In der Erforschung problematischer Beziehungsmuster, nicht nur auf der sexuellen Ebene, ist deshalb der beziehungsorientierte systemische Ansatz ausschlaggebend. Er veranschaulicht die Art und Weise, wie ich „in Beziehung bin“, betont die „Qualität“ der Kommunikation mit dem Partner, ob verbal oder nonverbal, direkt oder indirekt, und erklärt die Bedeutung eines bestimmten „Symptoms“ innerhalb des „Paar-Systems“ wie z. B. Lustlosigkeit. Hier ließe sich systemisch fragen: „Was habe ich davon, keine Lust auf Sex zu haben?“ Oder: „Was müsste ich tun, um noch weniger Spaß beim Sex zu haben?“ Die Antwort auf diese Frage, die meist sehr schnell kommt, zeigt, wie genau wir im Grunde wissen, was wir tun, und wie sich das, was wir tun, auswirkt. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste Schritt zur Veränderung. Die Antworten auf diese und andere, ähnliche Fragen finde ich äußerst spannend und klärend, weil sie den Betroffenen eine neue, überraschende Perspektive anbieten, durch die jeder für sich die für ihn richtige Lösung finden kann.
Genauso unentbehrlich wie der systemische Ansatz ist der psychodynamische, emotionsfokussierte Zugang zu den verschiedenen Themen und Problemen in Bezug auf unsere Sexualität. Die unterschiedliche Art und Weise, wie wir in der Kindheit durch unsere „Primärbeziehung“ zu den Eltern geprägt wurden, spiegelt sich fast unverändert und scheinbar unveränderbar in unseren erwachsenen Beziehungen wieder. Einen Blick auf dieses „Gestern“ zu werfen, halte ich für unverzichtbar, um dem auf die Spur zu kommen, was uns heute daran hindert, eine glückliche und befriedigende sexuelle Beziehung zu leben.
Diese vier Bereiche und ihre Integration – das Tantra-Yoga, die körperorientierte Sexologie, der systemische und der psychodynamische, emotionsfokussierte Ansatz – bilden die Basis meiner Arbeit, von der ausgehend ich in diesem Buch häufige Probleme der menschlichen Sexualität anhand vieler konkreter Beispiele aufgreifen und erläutern werde. Zusätzlich werden Sie Fragen und Übungen zur Selbstwahrnehmung und -reflexion finden, die Ihnen helfen können, Ihre eigene Problematik zu erkennen und möglicherweise zu lösen. Das Leitmotiv bleibt dabei die innere Achtsamkeit, die – gemäß fernöstlicher Traditionen wie Tantra, Yoga oder Buddhismus – über die Wahrnehmung des Atems geschult wird. Aus diesem Grund habe ich für meine therapeutische Arbeit und die Selbsterfahrungsgruppen den Begriff „SoHam Training“ gewählt. SoHam ist ein Mantra1 und bedeutet „Atem“. So erinnert uns die achtsame Arbeit an uns selbst fortwährend an die Essenz unserer Lebendigkeit. In diesem Sinne möchte ich mit dem...