2 Leitsymptome und ihre Differenzialdiagnosen
2.1 Floppy-infant-Syndrom
Definition
Das »Floppy-infant«-Syndrom beschreibt eine Skelettmuskelhypotonie im ersten Lebensjahr. Zu unterscheiden ist die chronische Symptomatik, die im Folgenden besprochen wird, von der akuten Skelettmuskelhypotonie, die durch Traumen oder andere akute systemische Erkrankungen in jedem Lebensalter auftreten kann.
Symptome
Klinisch ist das »Floppy-infant«-Syndrom charakterisiert durch die Kombination von:
• Auffälliger Haltung mit »Froschhaltung« der Beine (abduzierte und außenrotierte Beine auf der Unterlage) und »Henkelstellung« der Arme (die in Beugung auf der Unterlage nach oben geschlagen sind)
• Vermindertem oder fehlendem Widerstand gegen die Schwerkraft (in Rückenlage kein Anheben der Extremitäten von der Unterlage möglich)
• überstreckbaren Gelenken
Zusätzlich können ein Durchschlupfphänomen (in axillärer Hängelage klappen die Arme des Kindes nach oben und es rutscht durch die Hände des Untersuchers nach unten), eine unzureichende Kopfkontrolle und Rumpfinstabilität vorhanden sein.
Anamnestisch müssen Daten zur Schwangerschaft, Geburt und postnataler Entwicklung, einschließlich der Dynamik der Symptome, erhoben werden; zusätzlich sind Erkrankungen bei der Mutter und in der weiteren Familie zu erfragen.
Einteilung
Die für die weitere Diagnostik entscheidende Frage ist, ob die Ursache des »Floppy-infant«-Syndroms:
• Zentralnervös (Störung des ersten motorischen Neurons) oder
• Peripher (Störung des neuromuskulären Systems) ist.
Der Anteil zentralnervöser Störungen beim »Floppy-infant«-Syndrom wird in der Literatur mit 60–80 % angegeben.
Für die klinische Unterscheidung ist wichtig, ob das Kind nur hypoton oder sowohl hypoton als auch schwach ist, ob die Rumpfmuskulatur stärker betroffen als die Extremitätenmuskulatur ist und wie Hypotonie und Kraft auf Stimulation reagieren.
Symptome bei zentralnervöser Genese in unterschiedlicher Konstellation:
Es findet sich zumindest in Muskeln, die dem Bewegungsmuster (also z. B. dem Antigravitationsmuster) entsprechen, ein normale Muskelkraft. Die Muskeleigenreflexe sind erhalten oder gesteigert. Der Muskeltonus ist im Rumpfbereich häufig erniedrigt bei normalem bis erhöhtem Tonus in den Extremitäten. Bulbäre und respiratorische Störungen können zusätzlich auftreten.
Symptome bei peripherer Störung in unterschiedlicher Konstellation:
Es findet sich generalisiert ein herabgesetzter Muskeltonus und eine Muskelschwäche, normale, herabgesetzte oder fehlende Muskeleigenreflexe. Bei Traktion bleibt der Kopf deutlich zurück, die Beine werden nicht vor den Körper gebeugt und von der Unterlage angehoben, bulbäre und respiratorische Störungen können wie bei zentralen Ursachen zusätzlich auftreten.
Cave: Mischformen sind möglich! Kinder mit peripherer Störung haben ein höheres Risiko, eine hypoxisch-ischämische Enzephalopathie als Folge einer Asphyxie zu entwickeln, die zusätzliche zentralnervöse Störungen verursacht. Bei systemischen Erkrankungen können »alle Etagen« des motorischen Systems betroffen sein.
Differenzialdiagnose
• ZNS-Erkrankungen: hypoxisch-ischämische Enzephalopathie nach ante- oder peripartaler Asphyxie, Hirnfehlbildungen, neurometabolische Störungen (z. B. nicht-ketotische Hyperglycinämie, Störungen des Neurotransmitter-Stoffwechsels, Enzephalomyopathien bei mitochondrialen Erkrankungen), neurodegenerative Prozesse (z. B. Leukodystrophien, lysosomale Speicherkrankheiten)
• Erkrankungen des Rückenmarks: Fehlbildungen, degenerative Prozesse
• Periphere Erkrankungen (2. Motorneuron, peripherer Nerv, neuromuskuläre Endplatte und Muskel): z. B. autosomal-rezessive proximale spinale Muskelatrophie, Neuropathien, kongenitale transiente Myasthenie, kongenitale myasthene Syndrome, infantiler Botulismus, kongenitale Myopathien und Muskeldystrophien, kongenitale myotone Dystrophie (DM1), schwere Form des M. Pompe,
• Syndromale Erkrankungen: z. B. Trisomie 21, Prader-Willi-Syndrom, Zellweger-Syndrom
• Metabolische, endokrine Erkrankungen: Hypothyreose, Störungen des Kalzium- und Magnesiumstoffwechsels, Bindegwebsstörungen, Defekte im Aminosäuren-/Organosäurenstoffwechsel, Neurolipidosen, Lipomukopolysaccharidosen, Störungen der O-Glykosylierung (CDG-Syndrome)
• Andere: »benigne Hypotonie« im Säuglingsalter, postnatale Intoxikation durch an die Mutter verabreichte Medikamente, Intoxikation durch eigene Medikation (z. B. Phenobarbitalüberdosierung), chronische Erkrankungen anderer Genese, z. B. kardial oder gastrointestinal
Die klinische Abgrenzung der Krankheiten erfolgt durch die ausführliche Untersuchung (typische Symptome für zentral vs. peripher plus für die einzelnen Erkrankungen wegweisende Zusatzbefunde). Die weiterführenden Spezialuntersuchungen werden durch die Verdachtsdiagnosen geleitet.
2.2 Muskelschwäche
Definition
Muskelschwäche im Zusammenhang mit neuromuskulären Erkrankungen entspricht in der Regel einer schlaffen Parese mit vermindertem Muskeltonus. Der Schweregrad der Muskelschwäche wird am besten entsprechend der MRC-Klassifikation festgelegt:
• 0 = keinerlei Bewegung
• 1 = Anspannung der Muskulatur ohne Bewegungseffekt
• 2 = Bewegung unter Aufhebung der Schwerkraft
• 3 = Bewegung gegen Schwerkraft
• 4 = Bewegung gegen mäßigen Widerstand
• 5 = normale Bewegung
Beim kleinen Kind kann es allerdings sinnvoller, den Bewegungsumfang anzugeben, da hier gerade die Frage, was ein adäquater mäßiger Widerstand ist, nicht gut eingeschätzt werden kann.
Einteilung
Muskelschwäche ist das Kardinalsymptom sämtlicher neuromuskulärer Erkrankungen. Wesentlich für die Einordnung des Syndroms Muskelschwäche sind:
• Manifestationsalter
• Lokalisation
• Zeitlicher Verlauf/Abhängigkeit von Belastungen
• Begleitsymptome (Sensibilitätstörungen, Hauterscheinungen, andere neurologische Symptome)
Manifestationsalter:
• Ein pränataler Beginn mit verminderten Kindesbewegungen, Gelenkfehlstellungen (Arthrogryposis multiplex) findet sich bei:
– Kongenitalen Muskeldystrophien
– Kongenitalen Myopathien mit Strukturbesonderheiten
– Intrauterinen neurogenen Schädigungen (SMA-0, neurogene Arthrogryposis multiplex)
• Ein Beginn kurz nach der Geburt bzw. in den ersten Lebensmonaten findet sich häufig bei:
– Kongenitalen Myopathien
– Kongenitaler Muskeldystrophie
– Spinaler Muskelatrophie (Werdnig-Hoffmann-Erkrankung)
– Kongenitalen myasthenen Syndromen
– Einigen wenigen metabolischen Erkrankungen (Morbus Pompe, Mitochondriopathie)
– Seltenen früh beginnenden Neuropathien
• Ein späterer Beginn (variabel vom Kleinkindalter bis in die Adoleszenz) findet sich bei:
– Den meisten progressiven Muskeldystrophien
– Milderen Formen der spinalen Muskelatrophie (Typ II und Typ III)
– Hereditären Neuropathien
– Metabolischen Myopathien
Autoimmunerkrankungen (Guillain-Barré-Syndrom, Myositis, Myasthenia gravis) können grundsätzlich in jedem Lebensalter vorkommen, sind allerdings in den ersten beiden Lebensjahren eher...