1. Die „jüdische Kollektivschuld“ nach der Shoah
1.1 Jules Isaac und die Vorstellung von der jüdischen Kollektivschuld
Kann man ein ganzes Volk für Verbrechen verantwortlich machen, die nur eine Minderheit begangen hat? Muss eine Nation für die Taten ihrer Führer haften? 1946, kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs, erschien in Frankreich ein Buch, das diese Fragen stellte. Der Autor war der jüdische Historiker Jules Isaac. Das Buch trägt den Titel Jesus et Israél. Das Verbrechen, mit dem sich der Autor auseinandersetzte, war die Kreuzigung Jesu. Isaac schrieb als Anwalt der Angeklagten. Fast 200 Seiten widmete er der Frage, „ob die Anklage wegen Gottesmordes, die dem jüdischen Volk seit mehr als fünfzehn Jahrhunderten ins Gesicht geschleudert wird, gerechtfertigt ist oder nicht.“68
Wer heute diese Seiten liest, gewinnt den Eindruck, dass die Vorstellung einer jüdischen Kollektivschuld am Tod Jesu in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts fest und unhinterfragt im christlichen Bewusstsein verankert war.69 Ausführlich und in kritischer Auseinandersetzung mit zahlreichen christlichen Theologen versucht Isaac diese Vorstellung zu widerlegen. Dabei rekonstruiert er ein historisches Szenario, das sich heutzutage in vielen Varianten in der exegetischen Literatur wiederfindet. Nach Isaac lag die Entscheidung über die Kreuzigung Jesu auf jüdischer Seite in der Hand einer sehr spezifischen Gruppe innerhalb der jüdischen Elite: der sadduzäischen Oligarchie in Jerusalem. Isaac schreibt: „Die jüdische Nation darf unter keinen Umständen mit dieser Kaste gleichgesetzt werden.“70 Die breite Bevölkerung Jerusalems war, so Isaac, noch nicht einmal über die Entwicklungen informiert, die zur Kreuzigung führten. Die sadduzäischen Führer handelten, so Isaac, „ohne Wissen des Volkes, gegen dessen Willen und in Furcht vor ihm.“71
Trotz der historischen Plausibilität dieser These geht Isaac davon aus, dass sich die Vorstellung einer jüdischen Kollektivschuld nicht ohne weiteres aus den Köpfen seiner Leserinnen und Leser vertreiben lassen würde – auch deswegen, weil es in den Evangelien Stellen gibt, nach denen das jüdische Volk als Ganzes in die Kreuzigung verstrickt war. Die einschlägigste dieser Stellen ist jene Überlieferung im Matthäusevangelium, die nahelegt, dass sich die Bevölkerung Jerusalems gegen Ende des römischen Prozesses von der Aggression gegen Jesus anstecken liess und sich sozusagen in letzter Minute doch noch für das Verbrechen mitverantwortlich machte. Höhepunkt der Szene im Gerichtshof des Pilatus ist, in Isaacs Worten, der „wilde Schrei“72, mit dem das Volk seine Forderung nach der Kreuzigung Jesu bekräftigt: „Und die ganze Menge schrie: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“73
Dieser Vers ist in Isaacs Augen der Hauptgrund dafür, dass sich die Vorstellung einer kollektiven jüdischen Verantwortung für die Kreuzigung im christlichen Bewusstsein bis in die Gegenwart hinein verbreiten konnte. Isaac bietet seinen Leserinnen und Leser eine lange Liste an Kommentaren protestantischer und katholischer Theologen von Johannes Calvin bis François Mauriac, die die jüdische Kollektivschuldthese anhand von Mt 27,25 auf die eine oder andere Weise fortschreiben und neu deuten. Beispielsweise wurde – wie Isaac zeigt – wiederholt behauptet, dass der sogenannte Blutruf zu einem unwiderruflichen und über die Jahrhunderte wirksamen Fluch geführt habe. Etliche Kommentatoren verstanden die Gewalt gegen jüdische Menschen in ihrer eigenen Zeit als Strafe Gottes für die Kreuzigung Jesu. Sogar der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts wurde von manchen als Folge des „Blutrufes“ gedeutet.74
Um solche Vorstellungen zurückzuweisen, wählt Isaac eine Strategie, die typisch werden würde für die öffentlichkeitswirksame historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Vers.75 Der Vers sei, so Isaac, aus historischer Sicht unhaltbar.76 Isaac widerlegt die Historizität der Matthäus-Überlieferung mit Hilfe einer Reihe von inzwischen gängig gewordenen Argumenten:77 Dass sich der grausame Tyrann Pontius Pilatus in irgendeiner Weise für das Leben eines galiläischen Juden eingesetzt habe, sei – so Isaac – historisch völlig unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich sei schon allein die Vorstellung, dass Pilatus sich in seinen Entscheidungen für die Meinung der jüdischen Bevölkerung interessiert habe.78 Der Brauch, einen Gefangenen freizulassen, ist nach Isaac ausserhalb der Evangelien nicht belegt. Unwahrscheinlich sei schliesslich auch die Vorstellung, dass sich Pilatus auf den jüdischen Ritus des Händewaschens eingelassen habe. „Was soll man von einem römischen Statthalter halten, der sich in der Art von jüdischen Opferpriestern oder Rabbis ausdrückt und genauso handelt wie sie …?“79
Am ausführlichsten beschäftigt sich Isaac mit dem angeblichen Sinneswandel, den das jüdische Volk nach der Passionsgeschichte des Matthäus durchgemacht haben soll. Dass die Bevölkerung Jerusalems innerhalb kürzester Zeit von einer bewundernden oder gleichgültigen Haltung Jesus gegenüber zu Mordlust geschwankt sei, liesse sich in keiner Weise erklären. Viele, die Jesus am Anfang seines Wirkens in Jerusalem erlebt hatten, mochten von ihm enttäuscht gewesen sein. Aber es gab nach Isaacs Einschätzung überhaupt kein Motiv für das Verhalten der Menge, wie es Mt 27,25 beschreibt. „[W]oher konnten dann also diese Wildheit, diese Wut und dieser Blutdurst kommen, der sie sogar (und ohne irgendeine Notwendigkeit) ‚ihr Liebstes‘, ihre eigenen Kinder, mit einbeziehen liess?“, fragt Isaac und antwortet: „Unwahrscheinlich, unverständlich, unwahr.“80
Schliesslich weist Isaac auf einige pragmatische Umstände hin, die die matthäische Szene eines wütenden Volkes unglaubhaft machen: die vermutlich 6-stellige Zahl der Menschen, die sich in diesen Tagen in Jerusalem aufhielten, die anti-römische Stimmung des Volkes zur Zeit des Pilgerfestes und die Tatsache, dass der Platz vor dem Gerichtsgebäude schlichtweg viel zu klein war, als dass sich das „ganze Volk“ dort hätte versammeln können.81
Isaac zieht den Schluss, dass Mt 27,25 „vollkommen ausserhalb jeglicher Realität“ stehe.82 Die Vorstellung, dass das ganze Volk die Schuld für die Kreuzigung Jesu auf sich und seine Nachkommen nahm, entstand in Isaacs Augen allein in der Phantasie des Autors.83 Isaac fasst zusammen:
Nein, Pilatus hat sich nicht nach Art der Juden die Hände gewaschen. Nein, Pilatus hat nicht seine Unschuld beteuert. Nein, die jüdische Menge hat nicht geschrien: „Sein Blut (komme) über uns und unsere Kinder!“84
Mit dieser Schlussfolgerung gehört Isaacs Buch an den Anfang einer bis heute lebendigen Forschung zu den historischen Hintergründen der Kreuzigung.85 Das Buch gehört zu dem Forschungsstrang, der sich im Schatten der unheilvollen Wirkungsgeschichte der Passionsgeschichten darum bemüht, eine breitere Öffentlichkeit über den Wahrheitsgehalt dieser Texte aufzuklären. Isaac hat aus heutiger Sicht die jüdisch-christliche Diskussion über die Kreuzigung Jesu mitgeprägt und punktuell entscheidend beeinflusst.86 Insbesondere die neutestamentliche exegetische Diskussion zu Mt 27,25 wird regelmässig auf Isaac zurückgeführt und hatte in seinem Buch einen wichtigen Auslöser.87
Ein Grund für die Wirkkraft dieser Veröffentlichung ist Isaacs Identität und Biographie. Isaac mischt sich in seiner Kapazität als jüdischer Forscher in die christliche Evangelienforschung ein und steht damit in einer langen Reihe jüdischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Neuen Testaments im 20. Jahrhundert. Zu dieser Reihe gehören sowohl Claude Montefiore, Solomon Zeitlin, Chaim Cohn, Paul Winter, David Flusser, Joseph Klausner und Charlotte Klein oder auch – in neuerer Zeit – Wissenschaftlerinnen wie Paula Fredriksen, Amy-Jill Levine oder Adele Reinhartz.88 Mit seinem Anliegen, die Vorstellung der jüdischen Kollektivschuld zu widerlegen und die tatsächlichen Geschehnisse der Kreuzigung zu rekonstruieren, ist Isaac also kein Einzelfall, sondern Teil eines nachhaltigen und weitverzweigten wissenschaftlichen Trends.89
Auch wenn Isaacs Jesus und Israel in diesen Traditionen fest einzubetten ist, gibt es etwas, das dieses Buch von ähnlichen Publikationen unterscheidet: seine ungewöhnliche zeitgeschichtliche Brisanz und ein Ton der Dringlichkeit, der sich durch die Seiten zieht. Als Leserin...