Innere Zerrissenheit
Ich kenne diese innere Zerrissenheit, das Chaos in mir, mein Leben lang. Fing es in der Kindheit an, in der Jugendzeit? Ab wann wurde es wirklich schlimm? Ich kann es nicht sagen. Ich kann es auch schwer in Worte fassen. Vielleicht lässt es sich mit einer Achterbahn vergleichen, einer emotionalen Berg- und Talfahrt: Mal konnte ich die Aussicht genießen, nahm meine Umgebung war, war glücklich – bis mich etwas Unerklärliches überkam das mich drohte, in den Abgrund zu reißen.
Es war, als wenn mir mein Verstand den Krieg erklärt hätte. In meinem Kopf bewegte sich eine Schlange, nein, Gedankenschlangen, die jederzeit bereit waren, mich anzugreifen, mich mit Pfeilen zu beschießen. Ich gab mir die Schuld, wertete mich ab, haderte. Ich kämpfte gegen etwas Unsichtbares, Diffuses. Was auch immer ich machte oder schaffte, nie war es gut genug. Ist es etwas in mir? Ist es im Außen? Ich wusste keine Antwort darauf. Ich war gefangen in einem inneren Kampf, den ich nicht gewinnen konnte.
Es waren auch nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Gefühle. Vielleicht ist es eine Hochsensibilität, aber ich fühlte förmlich Worte, Sätze, Gestiken. Ich fühlte, wenn sie nicht stimmig sind, wenn das eine gesagt wurde, aber der Körper, die Stimme, die Worte eine andere Geschichte erzählten. Wenn auf Schönwetter und Fröhlichkeit gemacht wurde, obwohl im Inneren Trauer und Schmerz herrschten. Wenn jeder wichtiger war als man selbst. Wenn Wut nicht gezeigt werden konnte und Wahrheiten nicht ausgesprochen wurden. Ich merkte, wenn andere nicht authentisch waren, wenn sie Vorstellungen und Glaubenssätze wie Masken vor ihr sich trugen, ja, manchmal sogar aufsetzten, um sich dahinter zu verstecken. Manche redeten sich sprichwörtlich um Kopf und Kragen. Ich merkte auch, wenn Spiritualität wie ein Schutzschild benutzt wurde, um ja den eigenen Körper und den eigenen Schmerz nicht mehr zu spüren.
Als wenn das nicht reichen würde, fühlte ich mich oft, als wenn ich gleichzeitig Mitspieler, Beobachter und Zensor wäre: Ich unterhielt mich mit der Person und gleichzeitig beobachtete ich mich von außen: „Was sage ich? Wie sage ich es? Was habe ich an?“ Während ich mich beobachtete und sezierte, bewertete und zensierte ich gleichzeitig: „Das fühlt sich nicht richtig an.“ „Da muss es etwas anderes geben.“ „Das bist nicht du.“ „Warum bin ich nicht authentisch?“ „Der andere versteht dich wieder nicht.“ Ich kämpfte gegen Windmühlen.
∞
Wie kann etwas sein was doch nicht ist? Wie kann etwas bekannt sein und gleichzeitig so fremd? Der Kopf dampft, raucht, wirft Schatten, kreiert Illusionen, grollt, faucht, jault. Ich will es nicht und gleichzeitig bin ich es.
„Nein. Ich bin es nicht.
Das bin nicht ich.
Das ist unmöglich!“
Was, zum Teufel, ist mit mir los? Kann man die Vergangenheit nicht einfach wie einen abgetragenen Mantel ablegen, weglegen? Kann ich nicht alles einfach hinter mir lassen, es loslassen? Könnte es nur so sein wie bei Aschenputtel: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Aussortieren, einfach so. Geht das? Und wenn ja, wie?
Warum finde ich keine Ruhe? Weshalb fehlt mir diese Zuversicht, diese tiefe Gewissheit und Zufriedenheit? Warum fühle ich mich so oft fehl am Platz, alleine, nicht zugehörig? Wovor laufe ich davon? Warum fühle ich mich in Beziehungen nie angekommen? Nie bin ich wirklich von ganzem Herzen verliebt. Bin ich es wert? Bin ich es überhaupt wert, geliebt zu werden?
Weniger lustig, weniger weiblich, weniger hübsch, weniger klug, weniger erfolgreich, weniger, weniger, weniger. Bin ich überhaupt wert zu leben? Ich suche und weiß nicht was. Gewissheit und Zweifel. Energie und Lethargie. Schuld, nicht schuldig. Leben, Sterben, Lachen, Weinen,
Zuversicht, Hoffnungslosigkeit. Kann man seine eigene Seele suchen, in den eigenen Seelenspiegel blicken? Man muss doch nicht alles wissen, oder? Wann ist genug genug? Wie oft muss mir das Leben noch einen Spiegel vors Gesicht halten? Kann mir keiner helfen? Muss ich ständig den Weg alleine gehen? Gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich müsste anderen helfen. Das ist so anstrengend!
„Dich will doch sowieso keiner hören.“ „Wer denkst du, wer du bist?“ „Und du glaubst, etwas zu sagen zu haben?“ „Du bist zu dumm.“ „Du bist da, um Befehle auszuführen, aber nicht, um eine eigene Meinung zu haben.“ „Wozu brauchst du eine gute Ausbildung als Mädchen?“ „Du wirst sowieso am Fließband von Siemens arbeiten.“ „Du musst aufs Gymnasium.“ „Du bist wie dein Vater.“ „Du bist wie deine Mutter.“ Ich bin schuld. ICH BIN SCHULD! Weinen, vor lauter Tränen sich zusammenkrampfen, in sich einrollen, keinen Ausweg finden.
Nicht mehr kämpfen, nicht mehr suchen, nicht mehr fühlen. Tot sein, am liebsten tot sein. Aber nicht einmal das schaffe ich. Bin ich etwa verrückt? „Nein. Eines weißt du ganz genau: Du bist nicht verrückt.“ Aber der Krieg tobt weiter in mir, angetrieben von einer gnadenlosen Maschine, die Maschine der Gedanken und meiner Gefühle. Minute um Minute, Stunde um Stunde, angetrieben durch die ständige Frage nach dem Warum.
Laufen, laufen, immer weiter laufen.
Hör nicht auf, Natalie.
Ich kann nicht...
Hör nicht auf, Natalie!
ICH kann NICHT!
GEH WEITER, NATALIE!
WER BIN ICH?
∞
In mir sitzt ein Rebell. Nur ein bisschen Frieden? Geht nicht. Nur ein bisschen Veränderung? Unmöglich. Ich will alles. Ich will und muss in die Tiefe eintauchen, in die Untiefen, bis auf den Grund des Meeresbodens. Ich will wissen, was Leben ist. Ich will wissen, wer ich bin. So einfach und so schwer.
Wortgerüste, Fassaden, geschrieben, gesprochen, eloquent, eindrücklich, schmeichelnd, erleuchtet, gut verpackt – ich kann sie nicht glauben, ich kann sie nicht verstehen, sie berühren mich nicht in meinem tiefsten Inneren. Ich muss es zuerst selbst fühlen, erfühlen, selbst erleben, selbst durchleben, verstehen, wirklich verstehen, wirklich «be-greifen», von außen nach innen stülpen und wieder zurück.
„Es geht nicht anders, Natalie.
Gehe Deinen ganz eigenen Weg.“
Meine Biographie
Aufgewachsen bin ich in der Nähe des Chiemsees im Süden Bayerns, in Traunreut. Wunderschöne Landschaften, herrliche Berge, so viele Seen. Vater Grieche, Mutter Kroatin. Beide kamen im Zuge der Gastarbeiterbewegung nach Deutschland. „Bring mir ja kein uneheliches Kind nach Hause“ waren die Abschiedsworte meiner Großmutter gewesen, als meine Mutter mit 18 Jahren den Bus nach Deutschland nahm.
Meine Eltern lernten sich bei Bosch Siemens Hausgeräte kennen, dem damaligen größten Arbeitgeber in Süddeutschland. Traunreut war eine der drei Städte in Bayern gewesen, die nach dem Krieg neu gegründet worden sind. In Mitten von Oberbayern trafen sich hier also Flüchtlinge aus dem Sudetenland und Gastarbeiter aus Griechenland und dem ehemaligen Jugoslawien. Die meisten arbeiteten bei Siemens – am Fließband. Umgeben von tiefstem Bayrisch sprachen wir Hochdeutsch.
Hier lernten sie sich also meine Eltern kennen; aber nicht lieben. Mein Vater war wohl in meine Mutter verliebt gewesen, aber meine Mutter nicht in ihn. Sie wollte eigentlich einen anderen und dann wurde sie mit mir schwanger. Kurz vor meiner Geburt wurde geheiratet und im Juli 1970 kam ich in Traunstein per Kaiserschnitt zur Welt. Gestillt wurde ich nie und keine sechs Wochen später musste meine Mutter wieder arbeiten, in Vollzeit. Das Geld war knapp. Mein Vater verließ Siemens und arbeitete wieder auf dem Bau in München und kam somit nur noch an den Wochenenden nach Hause.
Meine griechische Oma kam kurz nach meiner Geburt zu uns, um meiner Mutter zu helfen. Dann wurde ich zu einer Tagesmutter gegeben, ganztags, und mit 3 Jahren dann in den Kindergarten bis 17.00 Uhr.
Als Kleinkind übergab ich mich ständig, sobald wir mit dem Auto irgendwohin fuhren. Wir mussten alle paar Kilometer halten und ich erbrach mich im hohen Bogen auf den Wiesen und Feldern Oberbayerns. Es stellte sich erst spät heraus, dass ich keine Milch vertrug. Bis heute kann ich Milch pur nicht trinken.
Ich war noch nicht einmal ein Jahr alt, da wurde Rachitis bei mir diagnostiziert und ich kam deswegen für zwei Wochen in die Kinderklinik nach Berchtesgaden. Ich sage angeblich, da kein Arzt danach jemals feststellen konnte, dass es hierfür Anzeichen gab. Meine Eltern erzählten mir, dass ich bei ihrem ersten Besuch so geweint hätte, dass sie von der Klinik angewiesen wurden, mich nicht mehr zu besuchen. Vielen Kindern erging es damals so wie mir. Mit ungefähr fünf Jahren war ich wieder im Krankenhaus, da ich ständig krank war. Mir wurden die Mandeln und Polypen entfernt. Ich kann mich noch erinnern, wie ich alleine auf einem dunklen Flur wach wurde. Man hatte mein Krankenbett dort abgestellt. Ich kann mich auch noch an die Schmerzen im Hals erinnern und den Durst, den ich hatte. Aber trinken durfte ich nicht.
6 ½ Jahre nach meiner...