1 Gurken und Granaten. Vom Rhein in den Spreewald
Es war eine ereignisreiche Woche in Köln. Wenn auch von der Taufe Christa Päffgens nur wenige etwas mitbekamen, das Splittern der Schaufensterscheiben zwei Tage später und das Brennen der Synagogen wird jeder Kölner gehört oder gesehen haben, und viele hatten dazu beigetragen. Weitere zwei Tage später wurde die staatlich sanktionierte Haltung den Juden gegenüber dann noch einmal lautstark gefeiert. Die Karnevalssaison hatte begonnen, und der neue Karnevalsschlager ging so:
Hurra mer wäde jetz die Jüdde loß,
die janze koschere Bande, trick nohm jelobte Land.
Mir laachen uns für Freud noch halv kapott.
Der Itzig und die Sahra trecke fott.
Denkbar unchristlich war das Verhalten den jüdischen Mitbürgern gegenüber in dieser so katholischen Stadt Köln, nicht nur im November 1938, als die Tochter von Wilhelm und Grete Päffgen auf den so christlichen Namen Christa getauft wurde (der zu allem Überfluss so ähnlich klingt wie das in der Pogromnacht zu Bruch gegangene «Kristall»).
Unchristlich war auch das Verhalten des Vaters, der sich noch vor der Geburt seines ersten und einzigen Kindes von der Mutter getrennt hatte. Grete war zwar keine Jüdin, aber sie war – aus Sicht der alteingesessenen Brauereifamilie Päffgen fast genauso schlimm – eine Protestantin. Warum Wilhelm Päffgen diese Grete überhaupt erst geheiratet hat, lässt sich nicht mehr sagen: War es Überschwang? Klammheimlich, die Reaktion der Eltern vorausahnend? Aber warum ließ Wilhelm die Ehe dann noch vor Christas Geburt wieder annullieren? Wurde Druck auf ihn ausgeübt? Oder war Druck gar nicht mehr nötig, bereute er die eigene Tat schon? Hatte er erkannt, dass Grete nicht die Richtige war, hübsch zwar, aber vielleicht labil? Nicht in der Lage, Kinder großzuziehen und gleichzeitig für die Kunden zu kochen? Denn zum Kölsch muss man essen, den halve Hahn etwa, den biermarinierten Schweinebraten oder die Dreiviertel-Meter-Bratwurst. All das steht noch heute auf der Speisekarte des Brauhauses Päffgen.
Päffgen – kleiner Pfaffe. Religion allüberall, und das in einer Zeit, als die Kirche und auch der Glaube einen schweren Stand hatten. Den Namen wurde Grete, eine geborene Schulze, nicht mehr los, so sie ihn überhaupt loswerden wollte. Womöglich hoffte sie auf eine Wiederverheiratung. Christa jedenfalls glaubte daran. Ihre Eltern hätten sich sehr geliebt, sagte sie später, als sie längst Nico hieß. Es habe eine Vater-Tochter-Beziehung zwischen Wilhelm und Grete bestanden, «wegen der unterschiedlichen Größe». Es sei der Krieg gewesen, der das Familienglück, die erneute Heirat der beiden, vereitelt habe.
Außer dem Nachnamen und der gemeinsamen Tochter blieb Grete Päffgen von ihrem Ehemann nichts. Nicht einmal ein Foto von Wilhelm ist erhalten. Seine Neigungen unbekannt. War er musisch veranlagt? Liebte er das selbstgebraute Obergärige? Oder bevorzugte er Rheinwein? Kölsch, sagte Nico später, sehr viel später und immer wieder, Kölsch könne sie nicht trinken, auf keinen Fall. Pils, Lager, Export, okay, bloß kein Kölsch.
Aber noch sind wir im Jahr 1938. Der Anschluss Österreichs liegt nur ein paar Monate zurück, die Annexion des Sudetenlands hat wenige Wochen vor Christas Geburt stattgefunden, die auf den 16. Oktober fällt, denselben Tag, an dem auch Enver Hoxha das Licht der Welt erblickt. Weder Nico noch den albanischen Herrscher würde man gleichwohl mit den klassischen Eigenschaften der Waage in Verbindung bringen. Ausgeglichen und aufgeschlossen sind andere. Eher könnte man sie für Widder halten: Führungspersönlichkeiten mit Tendenz zur Herrschsucht. Bei Adolf Hitler, der an einem 20. April geboren wurde, kommt die Astrologie der Sache näher.
Im Jahr 1938 sieht für den Führer noch alles bestens aus, und daran ändert sich wenig, bis im Juni 1941 mit dem «Unternehmen Barbarossa» auch noch Russland erobert werden soll. Bei diesem Versuch kommt Wilhelm Päffgen zu Tode – durch die Kugel eines vorgesetzten Offiziers. Nicht, weil er desertiert wäre oder den Befehl verweigert hätte. Nicht, weil er in Widerstandspläne verwickelt gewesen wäre oder Geheimnisse verraten hätte, nein. Eine feindliche Kugel hatte ihn am Kopf getroffen. Er hätte wohl, wenn auch mit einem Hirnschaden, überleben können. Aber in den Augen der Nazis wäre das wertloses Leben gewesen. Also kurzer Prozess.
So zumindest die nicht nur von Nico ersonnene, sondern auch in der Familie kolportierte Version. Laut Nico, der Nico eines anderen Tages, starb ihr Vater außerdem im Konzentrationslager. Laut Nico war Wilhelm Anhänger des Sufismus, reiste nach Indien und wurde ein enger Freund Mahatma Gandhis. Da ihr Vater schon nach Indien gereist sei, müsse sie es nicht mehr tun (und sie tat es trotzdem).
Aber wie für ihre Mutter gilt auch für Christa: Päffgen bis in den Tod. Der Name steht auf dem gemeinsamen Grabstein auf dem Waldfriedhof Grunewald-Forst in Berlin.
Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg, und zuerst gilt es, Köln zu entfliehen. Weniger dem Gerede der Nachbarn oder dem Schweigen der Päffgens als vielmehr den Bomben der Briten. Köln galt als erster deutscher Großstadt ein massiver Luftschlag. Über eintausend Flugzeuge waren in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1942 im Rahmen der «Operation Millennium» gestartet. Eigentlich sollte Bremen das Ziel sein, aber die Wetterbedingungen dort waren schlecht, also wich man nach Köln aus. Zum ersten Mal setzten die Engländer Brand- statt Sprengbomben ein. Und das vor allem gegen zivile Ziele, denn die Moral der Bevölkerung sollte untergraben werden.
Zu einem Feuersturm, wie ihn später Hamburg und Dresden erlebten, kam es in Köln nicht. Dennoch tat der Angriff seine Wirkung, einerseits, was die unmittelbaren Schäden anging (über zehntausend Gebäude wurden getroffen und teilweise komplett zerstört), andererseits, und viel entscheidender, gelang der Schlag gegen die Moral. Infolge der Angriffe verließen weit über hunderttausend Menschen die Domstadt, manche Schätzungen gehen sogar davon aus, dass hundertfünfzig- der siebenhunderttausend Einwohner Kölns die Flucht ergriffen. In weiser Voraussicht, wie man im Nachhinein annehmen könnte, denn keine deutsche Großstadt war im Zweiten Weltkrieg mehr Luftangriffen ausgesetzt als diese, insgesamt zweihundertzweiundsechzig.
Ihr seid dort nicht mehr sicher, schrieb Gretes Vater Albert Schulze aus Lübbenau. Aber das wusste seine Tochter wohl selbst. Viel hielt sie ohnehin nicht in Köln. Kurz vor dem Angriff hatte ein Brief aus Frankreich sie darüber informiert, dass ihr Mann gefallen war. Es habe, so Nico, auch noch ein Päckchen gegeben mit schicker französischer Unterwäsche und getrockneten Datteln, seither seien Datteln ihre Lieblingsfrüchte gewesen.
Zuerst ging es nach Berlin, zu Gretes älterer Schwester Helma. Auch sie war alleinerziehend, Christas Cousin Ulli um weniges älter als seine Cousine. Aber die Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Berlin war zu klein für die zwei Schwestern mit ihren schon nicht mehr ganz so kleinen Kindern. Außerdem trafen die Bombenangriffe zunehmend auch die Hauptstadt. Helma, Grete, Ulrich und Christa zogen schließlich nach Lübbenau, zu den Großeltern der Kinder. Unter der Woche fuhren Grete und Helma weiterhin nach Berlin, um dort in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten.
Albert und Bertha Schulze waren die liebenswertesten Großeltern, die man sich vorstellen kann, wie Ulli sich noch fünfundsiebzig Jahre später erinnern sollte. Ursprünglich stammte die Familie aus Bromberg in Westpreußen. Einer der Vorfahren soll Tanzlehrer gewesen sein und eine Liaison mit einer polnischen Prinzessin gehabt haben; darüber hinaus ist die Familie nicht auffällig geworden. Als Bromberg nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags 1920 an Polen fiel, verließen die meisten Deutschen die Stadt. Einige von denen, die blieben, wurden Opfer des sogenannten Blutsonntags, der unmittelbar nach Beginn des deutschen Angriffs am 1. September 1939 stattfand.
Als Grete und Christa 1942 nach Lübbenau kamen, hatte die Wehrmacht längst gründlich Rache an den Polen genommen und mehrere tausend polnische Bromberger hingerichtet. Im Oktober würde Nico vier Jahre alt werden. Sie konnte schon laufen, sprechen, vielleicht malte sie gerne, tanzte oder sang oder spielte mit den Kaninchen, die es bei den Großeltern gab, hinten im Hof des großen Mietshauses. Erinnern konnte sich Nico an die Jahre zuvor später nicht.
Aus Köln blieb ihr, wie gesagt, die Abneigung gegen Kölsch, eine Abneigung prinzipieller Natur, denn probiert haben wird sie es wohl nie. Auch die ersten Eindrücke von Berlin werden bald überlagert von denen des Jahres 1945. Das Bild der Ruinenlandschaft wird Christa prägen wie kein anderes Landschafts- oder Städtebild. Wie überhaupt Berlin die erste Großstadt ist, die sie bewusst erlebt. Den Rest ihres Lebens wird sie in Großstädten leben, abgesehen von dem einen oder anderen Sommermonat auf Ibiza. Nie wieder wird sie sich länger an einem Ort wie Lübbenau aufhalten, einem von Flüssen und Fließen durchzogenen Städtchen im Spreewald, knapp hundert Kilometer südlich von Berlin.
Die Großeltern hatten eine Parterrewohnung in einem der dreigeschossigen Zwillingsbauten der Güterbahnhofstraße, direkt an den Gleisen wie am Güter- und Personenbahnhof. Christas Großvater, Albert Schulze, war lange Zeit Streckenläufer gewesen und hatte die Gleise auf Beschädigungen untersucht, dann hatte man ihn zum Schrankenwärter befördert, mit einem Posten in der Nähe des Lübbenauer...