Niederösterreichs Wirtschaft: Land der begrenzten Möglichkeiten
Prägendes Erbe (bis 1918)
„Kann man unter diesen Umständen noch von einem Land Niederösterreich sprechen?“ Diese – tendenziell mit „nein“ beantwortete – Frage der Historikerin Andrea Komlosy führt zum Leitmotiv des folgenden Kapitels. Die Umstände, von denen hier die Rede ist, sind die inneren und äußeren Grenzen Niederösterreichs, die – zusammen mit anderen Bedingungen – den Manövrierraum des Wirtschaftens abstecken. Diese Grenzen lassen das Bundesland nicht als einheitlichen Wirtschaftsraum, sondern als buntes Konglomerat von Regionen erscheinen. Zwar können diese mit Verwaltungseinheiten zusammenfallen; doch meist verlaufen sie quer zu Bezirks-, Landes- und Staatsgrenzen. Eine Region zeichnet sich durch ein bestimmtes Maß an Verfügungsgewalt über Ressourcen aus; mächtige und reiche Regionen steigen zu Zentren auf, abhängige und arme Regionen bilden Peripherien. Ob eine Region eine zentrale oder periphere Stellung im Gefüge des Wirtschaftsraums einnimmt, hängt einerseits von der Art ihrer Einbettung in das politisch-ökonomische System, andererseits von den Deutungen und Handlungen der dortigen Akteure ab. Folglich betrachten wir Niederösterreich als ein Gefüge ungleicher Regionen, das durch über die jeweiligen Grenzen hinausgehende Macht- und Austauschbeziehungen sowie regionale Aktivitäten aufrechterhalten und verändert wird.
Die regionale Vielgestaltigkeit Niederösterreichs ist zu einem Gutteil ein Erbe der Habsburgermonarchie. Das Kronland Niederösterreich umfasste eine breite Palette an naturräumlichen Lagen, die Möglichkeiten und Grenzen der „Urproduktion“ – der unmittelbaren Nutzung des Landes durch Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei und Bergbau – festlegten: „Lage, Boden und Klima bedingen in Niederösterreich die ganze Reihe von Bewirtschaftungsarten, welche sonst nur in Ländern von grosser Ausdehnung vertheilt gefunden werden“, bemerkte der Agrarfachmann Joseph Roman Lorenz Mitte des 19. Jahrhunderts. Da die Verwaltungseinteilung Niederösterreichs auf die naturräumlichen Eigenarten kaum Rücksicht nahm, legten Agrarstatistiker ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechende Einteilungen fest. Diese wurden im 20. Jahrhundert weiter verfeinert, so etwa in den nach Kleinproduktionsgebieten gegliederten Hauptproduktionsgebieten Niederösterreichs: Voralpen, Alpenostrand, Waldviertel, Alpenvorland sowie nordöstliches Flach- und Hügelland. Jedes Produktionsgebiet umfasst charakteristische Formen der Landnutzung: Im Produktionsgebiet Voralpen entfiel der größte Teil der Betriebe auf Grünlandwirtschaften, die verhältnismäßig hohe Waldanteile aufwiesen. Der kleinere Teil umfasste die Acker-Waldwirtschaften des Wechselgebietes, bei denen der Waldanteil zurücktrat und die Dauergrünlandflächen einem stärkeren Ackerfutterbau Platz machten. Diese Betriebe ähnelten jenen des Produktionsgebietes Waldviertel, das sich aus Futterwirtschaften mit größerem Waldanteil und vorwiegend den Getreidebau betonenden Ackerwirtschaften zusammensetzt. Zwischen Waldviertel und Voralpen schob sich das Produktionsgebiet Alpenvorland, welches dieselben Landnutzungsformen wie im Waldviertel erkennen ließ; hier begünstigten die vergleichsweise bessere Verkehrs- sowie klimatische Lage die Intensivierung der Betriebe. Im Produktionsgebiet östliches Flach- und Hügelland mit stark pannonischem Klimaeinfluss machten die Dauerfutterflächen dem Feldfutterbau Platz. In den besseren Lagen gewann der Hackfruchtbau an Bedeutung, und in den Gunstlagen wurde Weinbau betrieben. Etwa je ein Drittel der Höfe entfiel auf die Getreide-, Hackfrucht- sowie Weinbauwirtschaften mit oder ohne nennenswerten Ackerbau. Neben den Klima-, Boden- und Reliefbedingungen des Landes bildeten die Gewässer Niederösterreichs – die Donau als überregionale Verkehrsverbindung zwischen Nordwest- und Südosteuropa sowie die ihr aus den niederschlagsreichen Alpen zuströmenden Flüsse als Energiequellen – entscheidende Voraussetzungen des Wirtschaftens. Zudem schlummerten im Wiener Becken und im Weinviertel Erdöl- und Erdgasvorräte im ansonsten an Bodenschätzen armen Land.
Landwirtschaftliche Haupt- und Kleinproduktionsgebiete in Niederösterreich 1966
Hauptproduktionsgebiet Voralpengebiet: Waidhofen-Scheibbser Gebiet (36), Westlicher Wienerwald (37), Östlicher Wienerwald (38), Niederösterreichische Eisenwurzen (39), Gutensteiner Gebiet (40), Thermenland (41); Hauptproduktionsgebiet Alpenostrand: Bucklige Welt und Wechselgebiet (43); Hauptproduktionsgebiet Wald- und Mühlviertel: Hochlagen des Waldviertels (55), Mittellagen des Waldviertels (56), Östliches Waldviertel (57), Südliches Waldviertel (58); Hauptproduktionsgebiet Alpenvorland: Haag-Amstettner-Gebiet (75), Wieselburg-St. Pöltner Gebiet (76); Hauptproduktionsgebiet nordöstliches Flach- und Hügelland: Wachau (83), Herzogenburg-Tulln-Stockerauer Gebiet (84), Westliches Weinviertel (85), Hollabrunn-Mistelbacher Gebiet (86), Laaer Bucht (87), Östliches Weinviertel (88), Marchfeld (89), Wiener Boden (90), Baden-Gumpoldskirchner Weinbaugebiet (91), Steinfeld (92).
Die regionale Vielgestaltigkeit Niederösterreichs folgte nicht unmittelbar aus dem naturräumlichen Potenzial, sondern erst vermittels dessen Aneignung durch die Gesellschaft. Das Erzherzogtum Österreich unter der Enns mit der Haupt- und Residenzstadt Wien als überragendem Verwaltungs- und Konsumzentrum bildete jahrhundertelang das Kernland des Habsburgerreiches; daher zählte es zu den am meisten privilegierten und entwickelten Regionen im Alpen- und Donauraum. Mit der volkswirtschaftlichen Integration im absolutistischen Zentralstaat seit dem 18. Jahrhundert bildete sich nach und nach eine regionale Arbeitsteilung heraus; dabei bestimmten Ressourcenausstattung, Arbeitskräftepotenzial und Verkehrserschließung die regionalen Entwicklungsmöglichkeiten und -grenzen. Parallel zur agrarischen Arbeitsteilung – einerseits die mit harter ungarischer Konkurrenz kämpfenden Marktfruchtbetriebe rund um Wien, andererseits die stärker auf Selbstversorgung ausgerichteten Betriebe in den Rand- und Gebirgslagen – entstanden im 19. Jahrhundert gewerblich-industrielle Schwerpunkte. Die Großindustrie konzentrierte sich im Wiener Becken und entlang der 1842 eröffneten Südbahn und strahlte in die einmündenden Seitentäler des Ostalpenrandes aus. Zunächst siedelten sich an den Wasserläufen mit Privilegien ausgestattete Textilfabriken an; später folgte die Metall- und Rüstungsindustrie; schließlich bildeten die Fahrzeug-, Maschinen-, Elektro- Lebensmittel-, und chemische Industrie die Leitsektoren. Im Ersten Weltkrieg wurde der Raum Wiener Neustadt zur Waffenschmiede der Monarchie ausgebaut, was der Metall- und Rüstungsindustrie erneut Auftrieb verschaffte. In den agrarisch kargen Abschnitten des nördlichen Waldviertels wie auch der südböhmischen Nachbarregionen, seit 1869 über die Kaiser-Franz-Josephs-Bahn verkehrstechnisch erschlossen, hatte sich seit dem 18. Jahrhundert die hausgewerbliche Textilverarbeitung konzentriert. Diese Textilregion diente seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als verlängerte Werkbank von Firmen aus dem Großraum Wien, die aus Kostengründen die arbeitsintensiven Schritte der Weberei und Druckerei an Billigstandorte verlagerten. Entlang der 1858 eröffneten Kaiserin-Elisabeth-Westbahn knüpfte sich – im Schatten der dominanten Nord-Süd-Achse zwischen den durch die Kaiser-Ferdinand-Nordbahn seit 1838 erschlossenen mährischen und schlesischen Kohlerevieren und dem am Ende der Südbahn gelegenen Seehafen von Triest – kein geschlossenes Industrieband. Dazu trug auch der Niedergang der jahrhundertealten Kleineisenindustrie in den Eisenwurzen durch die großindustrielle Konkurrenz des Wiener Beckens bei, den nur isolierte Industriestandorte im Ybbs- und Erlauftal überlebten. Einzig das spät industrialisierte St. Pölten und das Traisental bildeten eine Nord-Süd-Achse der Eisen- und Metallerzeugung. Die übrigen Regionen Niederösterreichs, vor allem das Wein- und große Teile des Waldviertels sowie die nicht- und deindustrialisierten („reagrarisierten“) Abschnitte des Mostviertels, trugen ein landwirtschaftliches Gepräge. Die regional ungleiche Industrialisierung und „Reagrarisierung“ Niederösterreichs bis zum Ende der Habsburgermonarchie äußerte sich in einer Zentren- und Peripheriebildung, die der Wirtschaftsentwicklung im 20. Jahrhundert ihren Stempel aufdrückte.
Industriestandorte in Niederösterreich 1926
Jede Figur steht für 500 Beschäftigte. Wichtige Betriebe mit geringerer Beschäftigtenzahl sind in gleicher Weise dargestellt
Trotz der gewerblich-industriellen Schwerpunktbildungen im niederösterreichischen Wirtschaftsraum seit dem 18. Jahrhundert überwog auch noch in der Spätzeit der Monarchie das agrarische Hinterland: Niederösterreich ohne die Stadt Wien war 1910 mit 52 Prozent land- und forstwirtschaftlich Erwerbstätigen im...