III. Dialektiker unter sich (S. 103-104)
1. »Das Problem der Wissenschaft selbst«
Im Jahr 1886, also vierzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen, bringt Nietzsche sein Tragödien-Buch noch einmal heraus, nun versehen mit dem einleitenden Versuch einer Selbstkritik. Ein »fragwürdiges« Buch sei es, »wunderlich« und »schlecht zugänglich« (KSA 1,11; GT, Versuch 1), »schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig« (KSA 1,14; GT, Versuch 1), beeinträchtigt durch die »schlechten Manieren des Wagnerianers« (KSA 1,15; GT, Versuch 3). Auch die Charakterisierung des Ganzen als »Artisten-Metaphysik « (KSA 1,13; GT, Versuch 2) ist nicht einfach neutral gemeint. Schon in seinem ersten Aphorismenbuch Menschliches, Allzumenschliches I (1878) hatte sich Nietzsche gegen die entsprechenden, auf Schopenhauer zurückgehenden Passagen seines Erstlings gewandt: der Gedanke, daß die »Traumbild-Welt des Künstlers« ein Modell für die »Erscheinungswelt« überhaupt sein könne, wird nun abgelehnt; die »metaphysische Voraussetzung «, nach der »unsere sichtbareWelt nur Erscheinung« ist, sei »falsch« (KSA 2,185; MA I,222): Es gibt, wie Nietzsche betonen möchte, »hinter« den Erscheinungen keine Weltsubstanz – kein »Ding an sich« namens »Wille«, und also keine von ihm strikt unterschiedenen Erscheinungen.
»Metaphysische« Reste dieser Art finden sich im Tragödien-Buch allerdings nicht sehr oft und sind mit seiner Kunstphilosophie außerdem nur schwer zu vereinbaren. Wie sollte etwa die Versicherung, daß der dionysische Künstler »gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden« sei (KSA 1,43 f.; GT 5), neben dem Gedanken vom apollinisch vermittelten Charakter der dionysischen Kunst bestehen? Also mag die Selbstkritik gelegentlich zu streng sein und das Eigenständige, über Schopenhauer Hinausgehende vernachlässigen – unzweifelhaft artikuliert sie einen Bruch: Schopenhauer undWagner, die Leitbilder der frühen Basler Jahre, sind inzwischen problematisch geworden. Für Wagner gilt das besonders: Seine »Unbändigkeit, Maasslosigkeit« (KSA 7,758; N 1874, 32[15]) ist Nietzsche schon aufgefallen, als er noch die Eloge Richard Wagner in Bayreuth (1876) vorbereitete. Es sei »ein Glück, dass Wagner nicht auf einer höheren Stelle, als Edelmann, geboren« und »auf die politische Sphäre« verfallen sei (KSA 7,765; N 1874, 32[35]). Auch die problematischen Seiten der Wagnerschen Kunst sieht Nietzsche genau: etwa die »Gefahr der Affectmalerei« oder »das Berauschende, das Sinnliche Ekstatische, das Plötzliche, das Bewegtsein um jeden Preis – schreckliche Tendenzen! « (KSA 7,760; N 1874, 32[16]).
Wichtiger als der Abschied von den frühen Helden ist freilich die Neuorientierung. Auf sie kommt es Nietzsche an, wenn er kontrastierend die Befangenheit seines ersten Buches hervorhebt. Denn auch was ihn nun interessiert, läßt sich bis in die Tragödien-Schrift zurückverfolgen: Auf »eine Frage ersten Ranges und Reizes« sei er hier gestoßen, »noch dazu eine tief persönliche Frage« (KSA 1,11; GT, Versuch 1). Er habe damals »etwas Furchtbares und Gefährliches« zu fassen bekommen, »ein Problem mit Hörnern«, »ein neues Problem«.