Nietzsche selbst war in seinem Leben geplagt von Krankheit und körperlichem Leiden. Schon als Schuljunge konnte er des öfteren aufgrund Kopfschmerzen und migräneartiger Anfälle nicht am Unterricht teilnehmen. Sicher ist dies mit ein Grund, weshalb er sich für eine Philosophie am Leitfaden des Leibes entschied. Und so überlegte er, ob es in der Philosophie nicht ausschließlich um die „unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse“ gehe, bzw. ob es Krankheit gewesen sei, die den Philosophen nach einem Endzustand, nach einem ästhetischen oder religiösen „Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb“ nach einer metaphysischen Welterklärung verlangen ließ. Die physiologischen Bedürfnisse begründeten die Entstehung und die verschiedenen Entwicklungen in der Philosophie. Das Mäntelchen, dass die leiblichen Bedürfnisse verdecke, sei das Objektive, Ideelle und Rein-Geistige. Und so stellte sich für Nietzsche die Frage, ob die Philosophie nicht „nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständnis des Leibes gewesen“ sei. [102]
In diesem Kapitel wird die Leiblichkeit in der Philosophie Nietzsches untersucht und die Möglichkeit, ob sich auf eine universale These zu Nietzsches Texten und Aphorismen bezüglich der Leiblichkeit geeinigt werden kann. Nietzsche schrieb im obigen Zitat, dass er sich gefragt habe, ob Philosophie bisher nur eine Auslegung des Leibes gewesen sei, und auch wenn dies nur fragend formuliert ist, sieht es aus, als gebe Nietzsche dem Leib den Vorzug, bzw. als sei er die Begründung der Inhalte der menschlichen Philosophie. Es wird nun untersucht, ob sich eine Philosophie Nietzsches am „Leitfaden des Leibes“, aufzeigen lässt.[103]
Für Nietzsche, so wird sich anhand verschiedener Zitate zeigen, war es das Wesentliche, vom Leib auszugehen, denn er sei „das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtungen“ zulasse. Und da er den Glaube an den Geist ablehnte, bekannte er, dass der Glaube an den Leib besser festgestellt sei.[104]
Es lässt sich, trotz der Problematik der Vielschichtigkeit und der Interpretationsschwierigkeit, welche anschließend dargelegt wird, meiner Meinung nach bei Nietzsche ein Leitfaden bzgl. der Anerkennung des Leibes finden, der sich von den frühen Schriften bis zum Spätwerk Nietzsches durchzieht. Angefangen bei seiner Bewunderung des Dionysischen in „der Geburt der Tragödie“, über seine Kritik am deutschen Geist und der Sprache in den unzeitgemäßen Betrachtungen und anderen kleinen Schriften, bis hin zu seinem literarischen Höhepunkt, dem Zarathustra-Werk, in welchem sich Zarathustra gegen die Verächter des Leibes und die Hinterweltler stellte, lassen sich Aussagen bezüglich des Leib-Geist-Verhältnisses finden.[105]
Diese Aussagen sollen nach einer Erläuterung der Problematik bzgl. einer Untersuchung der Leiblichkeit, in den Werken und dem Nachlass, im Hinblick auf eine Beantwortung der Ausgangsthese dargelegt und interpretiert werden.
Bei einer Untersuchung der Leibphilosophie Nietzsches, besonders in Anbetracht der Kernstelle im Zarathustra, tauchen verschiedene Probleme auf. Zum einen die Problematik der Begrifflichkeit, d.h. die allgemeine Problematik der Verwendung von Begriffen wie z.B. Leib bzw. Körper oder Geist. Zum anderen die spezielle sich verändernde Semantik bei Nietzsche und dazu analog die komplexe Vielschichtigkeit der Werke Nietzsches, die eine eindeutige Interpretation erschweren. [106]
Und neben diesen grundsätzlichen handwerklichen Problemen folgt drittens die Problematik der Leib-Geist-Dialektik an sich, die sich durch die Geschichte der Philosophie zieht: die möglichen Rangfolgen von Geist und Vernunft, bzw. das Bedürfnis des Menschen, diese zu trennen oder zusammen zu fügen oder deren Zusammenspiel erklären zu wollen. Diese drei Problemaspekte werden im folgenden Abschnitt besprochen.[107]
Bei der Problematik der Begrifflichkeit muss man die Konnotationen der Wörter „Körper“ und „Leib“ berücksichtigen. Um mit diesen Begriffen arbeiten zu können, müssen deren Inhalte eindeutig zugewiesen werden.
Das Wort „Leib“ wird im religiösen, metaphysischen und naturwissenschaftlichen Gebrauch[108] mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt.
Im Deutschen benutzen wir die Ausdrücke „Körper“ und „Leib“[109]. Der Begriff „Körper“ kann hierbei ähnlich wie in anderen Sprachen sowohl Totes als auch Lebendiges bedeuten, während dem Begriff „Leib“ immer nur Lebendiges zugeordnet wird.
Der „Leib“ ist etwas, mit dem wir leben, den wir erleben und spüren können und mit dem wir uns bewegen, während dem Begriff „Körper“ auch eine rein physikalische Bedeutung zukommt.[110]
Neben dem deutschsprachigen Variantenreichtum gibt es weitere unterschiedliche Bedeutungen in anderen Sprachen. Im Lateinischen und Griechischen gibt es nur eine Bezeichnung des Körpers, mit welchem sowohl das Lebendige als auch das Unlebendige gemeint sein kann. Das gleiche Problem besteht im Französischen, so dass z.B. Sartre sich einen Ausweg schaffte, indem er zwischen „corps subject“ und „corps object“ eine Unterscheidung traf. Auch Merleau-Ponty versuchte Abstand zur „cartesianischen“ Sprache des Körpers zu gewinnen, indem er neue Wörter wie z.B. „das Fleisch“ einführte.[111]
In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe wie folgt gebraucht: der „Körper“ im cartesianischen Sinne, der die „Maschine Mensch“ beschreibt, die nur aus Knochen, Muskeln, Nerven, also aus dem Körperapparat besteht[112], während der „Leib“ als etwas behandelt wird, dem auch eine eigene Form der Vernunft zukommen kann.[113]
Bei Nietzsche ist dem Begriff „Leib“ eine besondere Bedeutung zuzuschreiben, da er bei ihm mit einer eigenen Vernunft untrennbar verbunden zu sein scheint. [114]
Auf eventuelle unterschiedliche Bedeutungen von Begriffen wird an den entsprechenden Stellen hingewiesen.
Die Problematik der Begrifflichkeit bei Nietzsche ist entscheidend durch dessen Gebrauch gleicher Begriffe in verschiedenen Zusammenhängen und Inhalten verkompliziert. Erschwerend kommt hinzu, das manche Textstellen durch verschiedene Bedeutungsebenen sehr unterschiedlich interpretierbar sind. So schrieb Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“:
„Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein:
Ich kann nicht selbst mein Interprete sein.
Doch wer nur steigt aus seiner eigenen Bahn,
Trägt auch mein Bild zu hellerem Lichte heran.“[115]
Speziell für meine Untersuchung der Leiblichkeit versuche ich, diese Problematik der Begrifflichkeit und der Interpretationsvielfalt einzugrenzen. Zum einen durch die Wiedergabe verschiedener Interpretationen und einer Analyse der Überschneidungen, um der individuellen interpretatorischen Willkür zu begegnen sowie der Abgrenzung der Interpretation des Werkes von der des Nachlasses, um die eventuelle Täuschung durch Dichtung zuvor zu kommen.
Longo spricht davon, dass es sich bei der Philosophie Nietzsches nicht um ein „abgeschlossenes System [handele], sondern etwas Komplexes, Vielschichtiges und Differenziertes. Es ist daher nicht möglich, sie mit einem bestimmten Etikett zu versehen.“[116] Longo macht folglich den Vorwurf, das bestimmte Interpretationen den Nachteil haben, der Gefahr der Einseitigkeit ausgesetzt zu sein.[117] Interpretationen neigten dazu, die Philosophie Nietzsches auf knappe Formeln zu reduzieren und zu verflachen und sagten eher etwas über „die philosophischen Einsichten der Interpreten aus, als über die Inhalte der Philosophie Nietzsches.“ [118]
Wenngleich ich mich trotz der gebotenen Vorsicht in die Gefahr der Einseitigkeit und nicht genügenden Berücksichtigung der Vielschichtigkeit Nietzsches begebe, ist meiner Meinung nach bei Nietzsche ein bereits genannter Leitfaden in der Leibthematik zu finden. Ich denke, dass in der Leibphilosophie Nietzsches die Problematik vielmehr darin liegt, zu wissen, ob Nietzsche zitiert, ob er zum Ernst oder zur Ironie tendiert oder gar beides beabsichtigt, oder ob sich sein Werk „Also sprach Zarathustra“ nur als Dichtung verstehen lässt. So fragt sich bzgl. des...