Selbstbeschreibungen
„Man fragt sich nach all dem, weshalb die Placierung der Menschen in der Umwelt des Gesellschaftssystems (und erst recht: aller anderen sozialen Systeme) so ungern gesehen und so scharf abgelehnt wird. Das mag zum Teil an humanistischen Erblasten liegen; aber jede genauere Analyse dieser Tradition stößt hier auf Denkvoraussetzungen, die heute schlechterdings unakzeptabel sind. […] Im übrigen ist es nicht einzusehen, weshalb der Platz in der Umwelt des Gesellschaftssystems ein so schlechter Platz sein sollte. Ich jedenfalls würde nicht tauschen wollen. […] Das humanistische Vorurteil scheint, gerade weil es so natürlich und traditionsgesichert auftreten kann, zu den ‚obstacles épistémologiques‘ zu gehören, die den theoretischen Zugang zu einer hinreichend komplexen Beschreibung der modernen Gesellschaft blockieren – in deren Umwelt wir als Mitwirkende und Betroffene leben.“27
Luhmann hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Selbstbeschreibungen eines Systems von dessen tatsächlicher Operationsweise zu unterscheiden sind.28 Jedes psychische oder soziale System arbeitet mit Selbstbeschreibungen, die notgedrungen auswählen, verkürzen und simplifizieren (müssen), da eine kommunikative Eins-zu-eins-Abbildung der unterstellten und mitlaufenden Realität nicht möglich ist. Luhmann selbst sah sich zu einer Reihe von Selbstbeschreibungen veranlasst, insofern er sich für Interviews zur Verfügung gestellt hat. Die Dokumentation der Gespräche hat in schriftlicher, audiotechnischer und audiovisueller Form stattgefunden (s. o.).
Die Problematik seiner Selbstbeschreibungen fokussiert, so wie alle anderen Problemstellungen bei Luhmann, auf die Frage nach den passenden Unterscheidungen. Man kann dies an der Unterscheidung von Person (als sozialer Adresse) und Motivation Luhmanns, genau diese soziale Adresse zu besetzen, deutlich machen. Bei jeder Motivation – und so auch bei der Motivation, eine soziale Adresse zu besetzen – geht es immer um die Steigerung der Wahrscheinlichkeit der Koinzidenz von Selektionsangebot und Motivation, wofür in der Regel ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium einspringt. Da sich Luhmann primär im Wissenschaftssystem verortet hat und dies auch aus Sicht einer Fremdbeschreibung kaum anders eingeschätzt werden kann, führt die Überlegung zur Motivation für eine bestimmte Selbstbeschreibung auf das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium Wahrheit bzw. auf die binäre Codierung von wahr/unwahr hin, das bzw. die sowohl als Selektionsprämisse als auch als Motivationsprämisse fungiert.
Im wissenschaftlichen Kontext bezeichnet sich Luhmann durchweg als Soziologen, treffender noch als Gesellschaftstheoretiker. In der Zuschreibung „Gesellschaftstheoretiker“ 29 kommen die beiden wissenschaftlichen Fragestellungen zusammen, die er als die ihn leitenden angibt. Dies ist zum einen die Frage, wie die gegenwärtige moderne Gesellschaft am besten zu beschreiben ist, und zum anderen die Anforderung, wie man die Frage ,Wer ist der Beobachter?‘ sinnvoll auflösen kann.30 Die Beschreibung der Gesellschaft ist selbst Vollzug von Gesellschaft, sodass sich der Beobachter stets mit beschreiben muss bzw. die Beschreibung der Gesellschaft so fassen muss, dass der Beobachter selbst als Gegenstand in seiner Theorie wieder vor kommt. Eine Gesellschaftstheorie hat also den re-entry (siehe das Kapitel ,Der Operator‘) der Unterscheidung von Beobachter und Gesellschaft in die Gesellschaftsbeobachtung zu vollziehen.
Mit der doppelten Fragestellung nach der Gesellschaft und nach dem Beobachter gewinnt die Selbstbeschreibung ,Gesellschaftstheoretiker‘ ihren genauen Sinn. Luhmann verfasst eine Theorie, die im Sinne alteuropäischer Ansprüche als umfassende Theorie auftritt. Zugleich versteht sich seine Theorie als kontingenter Gegenstand ihrer selbst.31 Damit sind soziologisch-empirische Gegebenheiten – wie z. B. eine Gesellschaftstheorie – dahingehend relativiert, dass sie genau das erfassen und messen, was sie erfassen und messen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sie auch andere Aspekte thematisieren oder gegenteilige Untersuchungen anstellen könnten.32 Die auf diese Weise selbstimplikativ gebaute Gesellschaftstheorie Luhmanns tendiert von daher zur Universalisierung.
„Die Theorie wendet die Einsichten, die sie über Gegenstände erzeugt, autologisch im Rückschluss auf sich selber wieder an. Darin steckt eine Form der Universalität, nämlich das Verbot der Selbstexemption. Man darf sich nicht selber aus einer Theorie herauskatapultieren.“33
Um beides, den Anspruch an eine universalistische Theorie als auch an eine beobachtbare Gesellschaft, einlösen zu können, hält Luhmann daran fest, dass dies einzig experimentell34 möglich ist. Eine Gesellschaftstheorie diesen Ausmasses ist stets tentativ, sie testet Unterscheidungen und Unterscheidungen von Unterscheidungen, um tatsächlich eine Theorie der Gesellschaft zustande zu bringen. Die Idee des Experimentierens leiht sich Luhmann aus den Naturwissenschaften, die ebenso verfahren müssen, oder aus den angewandten Wissenschaften wie etwa der Medizin, bei der Medikamente probehalber verabreicht werden, um Folgen und Nebenfolgen beobachten zu können.35
„Während für das aristotelische Denken gerade der natürliche Kontext die Dinge und Ereignisse in Ordnung hielt, geht es jetzt – nur so kann man experimentieren – um möglichst kontextfreie Variation unter kontrollierbaren Bedingungen. Das ermöglicht im Zuge verstärkter Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Forschung eine größere Distanz zu den Phänomenen und zugleich die Vereinheitlichung ihres Gegenstandsbereichs unter abstrakteren Leitgesichtspunkten.“36
Aufgrund des experimentellen Charakters von Luhmanns Gesellschaftstheorie bleibt schließlich die Erkenntnis: „Die Theorie ist nicht die Gesellschaft.“37 Allerdings würde eine Abstinenz von experimenteller Theorie die Gesellschaft ebenso wenig erreichen wie die Theorie. Im Gegenteil: Der Sinn einer adäquaten Gesellschaftstheorie liegt darin, „dass die Theorie etwas leistet: ein besseres, komplexeres Verständnis der modernen Welt“38.
In Kombination mit der Selbstzuschreibung Luhmanns als Wissenschaftler haben manche Interviewer dem Interviewten auch Bemerkungen über persönliche Charaktermomente entlocken können. Auf die Frage nach einer seiner vorherrschenden Eigenschaften hinsichtlich der Berührungsfläche zwischen Wissenschaft und Bewusstseinssystem: „Was würden Sie als eine Ihrer Haupteigenschaften bezeichnen? Neugier?“ lautete seine Antwort: „Bockigkeit.“39
Sowohl die auf die Theorie als auch auf die Person Luhmanns bezogenen Selbstzuschreibungen ließen sich nun für eine Biografie linear übernehmen oder umschreiben. Aber: Trifft das mit der Bockigkeit zu? Und mit welcher Art Bockigkeit und inwiefern? Bei den auf die Person gemünzten Zuschreibungen bleibt in jedem Fall ein „so oder auch anders“40 möglich. Luhmann könnte es ernst gemeint oder aber sich selbstironisch gegeben haben, wie er an anderer Stelle formuliert.41
Einem Biografen bleibt für seine Beschreibung genau das übrig, was Luhmann für seine Gesellschaftsbeschreibung umgesetzt hat. Es sind hier wie dort die Unterscheidungen zu benennen und zu klären, mit denen beobachtet wird, um dann selbstrekursiv eine Antwort auf die Frage geben zu können: Wer ist der Beobachter? Eine Biografie wird demnach das von Luhmann und seiner Theorie sehen, was sie gemäß ihrer Unterscheidungen sieht – und nichts anderes.
27 Luhmann, Niklas (2008): Die Tücke des Subjekts und die Frage nach den Menschen. In: Luhmann, Niklas (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. 3. Aufl. Wiesbaden, S. 159. Zum Ausdruck ‚obstacles épistémologiques‘ dort Anm. 26: „Dieser Begriff genau nach Gaston Bachelard, La formation de l’esprit scientifique: Contribution à une Psychanalyse de la connaissance objective, Paris (1938) 1947, S. 13 ff.“.
28 Vgl. exemplarisch: Luhmann, Niklas (2008): Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme. In: Luhmann, Niklas (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. 3. Aufl. Wiesbaden, S. 34-37, sowie: Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 879-893.
29 Vgl. Luhmann, Niklas (2005): Es gibt keine Biografie. Niklas Luhmann im Radiogespräch mit Wolfgang Hagen. In: Wolfgang Hagen, Dirk Baecker und Niklas Luhmann (Hrsg.): Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann. 2. Aufl. Berlin, S. 37.
30 „Wenn nun die soziologische Theorie radikal auf ein Beobachtungsverhältnis zweiter Ordnung umgestellt wird und damit ihre eigene Sozialität reflektiert, verschwindet der alte ontologische (seinsbezogene) Begriff der Latenz. Die Unterscheidung selbst von latent und manifest scheint ihre ihre Möglichkeiten...