Einleitung
Hallo Experte!
Ja du.
Du bist ein Ernährungsexperte, da bin ich mir sicher.
Hä …? Wer, ich?
Ja.
Denn du weißt garantiert jetzt schon ganz viel über Ernährung.
Ganz viel Brauchbares. Vieles, das dich wirklich weiterbringt.
Du weißt zum Beispiel, dass Pommes und Burger nicht wirklich gesund sind, richtig? Oder, dass Cola eine Zuckerbombe ist. Du weißt auch, dass eine kleine Tüte Popcorn im Kino reicht, dass es nicht die große sein muss. Und du weißt, dass Essen am Buffet im All-inclusive-Hotel kein Wettbewerb ist.
Fehlendes Wissen ist nicht der Grund, warum Ernährungsumstellungen scheitern. Es ist nicht das, was dich von deinem Ziel abhält. Egal ob du abnehmen oder zunehmen möchtest. Ob du Muskeln aufbauen oder einfach wacher und vitaler durch deinen Tag gehen willst. Du weißt genug, um es mit der Ernährung im Alltag besser hinzukriegen. Und eines ist auch klar: Es liegt garantiert nicht an zu wenig Zeit!
Hierzulande sind nach Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung rund 65 Prozent der Menschen übergewichtig. Warum ist das so? Ich höre als Ernährungscoach immer wieder diesen einen Satz: »Ich würde / müsste mich ja gerne gesünder ernähren, aber ich habe dafür einfach keine Zeit.«
Gleich danach folgen in den Charts der Ausreden:
Ich kann das nicht. Ich konnte das noch nie. Das geht nicht. Ich mag das nicht. Das klappt doch eh nicht. Ich habe es schon so oft versucht. Ich habe alle Diäten durch. Ich kann nicht ohne Zigaretten. Ich kann nicht ohne Kaffee. Ich kann nicht ohne Zucker. Irgendwas muss ich ja essen. Es gab nichts anderes. Einmal ist keinmal. Nur heute. Ab morgen wirklich. Ich bin im Urlaub. Es ist Weihnachten. Es ist Ostern. Es ist zu warm. Es ist zu kalt. Es ist zu früh. Es ist zu spät. Ich bin zu alt. Ich bin zu jung. Ich habe Geburtstag. Ich habe Kopfschmerzen. Ich hatte eine schlimme Kindheit. Früher. Meine Eltern sind schuld. Mein Partner. Meine Kollegen. Mein Umfeld. Meine Sucht. Meine Arbeit. Ich arbeite so viel. Und heute passt es wirklich nicht. Morgen ja, aber heute nein, denn mein Hamster hat Mumps. Kurzum, ich habe wirklich KEINE ZEIT!
Wir haben natürlich alle gleich viel oder wenig Zeit, jeden Tag. Und du weißt es insgeheim ja auch: Keine Zeit zu haben bedeutet in Wahrheit, andere Prioritäten zu setzen. Fernsehen statt lesen. Ausschlafen statt auspowern. Rumliegen statt rumlaufen. Kaffee statt Tee. Pommes statt Kartoffeln. Apfelkuchen statt Apfel. Naschen statt … es einfach zu lassen. Merkst du was?
Es geht nicht um Zeit.
Es geht um Entscheidungen.
Hunderte kleine und große Entscheidungen, die du jeden Tag, jeden Moment aufs Neue triffst. Die dich entweder in einer Sache voranbringen oder in alten Mustern gefangen halten. Um Zeit geht es eigentlich nie. In Wahrheit geht es um deine Komfortzone, die so gemütlich ist wie ein kleines, warmes Nest.
Wenn du unterwegs Entscheidungen zum Essen triffst, siegt häufig Bequemlichkeit. Schnell auf die Hand. Doch auch hier kannst du wählen. Und wenn du einkaufen gehst, hast du ebenso eine Wahl. Die eine Entscheidung kostet dich nicht mehr Zeit als die andere. Das Gleiche im Restaurant. Oder gibt es auf der Speisekarte wirklich nur dieses eine Gericht mit Schnitzel und Pommes?
Nur mal angenommen, du würdest abends deine zwei Stunden vor dem Fernseher auf eine Stunde 50 verkürzen und eine Werbepause nutzen, um ein Vollkornbrot zu schmieren, das du am nächsten Tag mit zur Arbeit nimmst. Wäre es dann nicht wahrscheinlich, dass du das Brot isst, anstatt dir bei Heißhunger in der Not einfach irgendwas zu kaufen?
Das warme Nest, das unsere Komfortzone uns bietet, haben wir uns alle gemacht und über die Jahre hübsch eingerichtet.
Meins war früher besonders kuschelig. Und auch ich sagte mir, dass ich keine Zeit habe, Dinge anders zu machen.
Ich war Mitte 20, als Eitelkeit und Unzufriedenheit mit meinem Körper dazu führten, dass ich mich intensiv mit Ernährung und Fitness beschäftigte. Ich war nie wirklich übergewichtig, aber hatte das ein oder andere Kilo zu viel; die berühmten Speckröllchen und einen knuffigen Bauch. Damals arbeitete ich hochengagiert als freiberufliche Journalistin beim Rundfunk. Es gab keine geregelten Arbeitszeiten, nur Aufträge und Schichten. Sonntag war für mich das Gleiche wie Montag. Unregelmäßigkeit war meine Struktur, und ich liebte es. Ohne Kind oder Partner musste ich auf niemanden Rücksicht nehmen und konnte mich in meinem Job – wie man so schön sagt – verwirklichen.
Manchmal tat ich das im Übereifer etwas zu sehr. Als Nachrichtensprecherin hatte ich zeitweise Nachtschichten von 22 bis 6 Uhr. Es kam vor, dass ich danach drei Stunden auf einer Couch im Sender schlief und eine weitere volle Tagschicht als Reporterin hinten ranhing. Cola, Energydrinks, Kantine und Brötchen vom Bäcker gehörten genauso dazu wie Gummibärchen und Schokolade. Wobei ich schon als Studentin viel Mist gegessen habe.
Damals hatte ich eine kleine Einzimmerwohnung in der Berliner Innenstadt. Ich wohnte über einer Dönerbude, deren Geruch mich spätestens um 10 Uhr morgens zärtlich weckte. Gegenüber gab es einen Bäcker, bei dem ich mir jeden Tag Mohnbrötchen kaufte. Das war mein Morgenritual von Montag bis Sonntag – immer zwei Mohnbrötchen. Eins mit Nutella, das andere mit Marmelade oder Leberwurst. Später Döner oder Chinapfanne. »Hallo, hier Tschernigow. Wie immer die 62. Ja genau. Bratnudeln. Ich hol sie gleich ab.«
Als irgendwann Bauch- und Hüftröllchen mehr wurden und ich immerzu müde war, beschloss ich etwas zu ändern. Das ist ja immer so. Wir bewegen uns erst dann, wenn der Schmerz groß genug ist und wir an einem Punkt sind, wo wir so richtig die Schnauze voll haben. Ich war damals wild entschlossen. Ich wollte meine Ernährung ändern, nicht aber mein Workaholic-Leben. Studium und Job waren für mich stets das Wichtigste. Ich sage das, ohne es zu bewerten. Es war einfach so, und es prägte mich und mein späteres Essverhalten.
Ich hatte als Kind häufig die Schule und das Umfeld gewechselt und erlebte viele Brüche in Beziehungen. Angefangen von Grundschulfreundinnen, die ich durch Umzüge und Schulwechsel nie wiedersah, über meinen leiblichen Vater, zu dem ich seit meinem 18. Lebensjahr keinen Kontakt mehr habe, bis hin zu Männerbeziehungen, die reihenweise zerbrachen. Vermutlich, weil ich gar nicht so genau wusste, wie langfristige Beziehungen zu anderen Menschen funktionieren.
In der Schule war ich die andere. Die Außenseiterin, die Schlaghosen trug, obwohl sie längst out waren. Und grüne Haare hatte, obwohl das für Schlaghosen viel zu punkig war. Ich war die, die immer viel zu große, unmodische T-Shirts trug. Denn wegen einer sehr schweren Skoliose war ich in meiner Jugend drei Jahre lang in ein orthopädisches Korsett gepresst. Tag und Nacht musste ich das Gestell tragen, um gerade nach oben zu wachsen. Meine Wirbelsäule hatte damals eine Krümmung von 40 Grad. Das war ziemlich uncool. Und ich war ziemlich uncool. Auch weil ich keinen Alkohol trank und in der Pause nicht auf dem Raucherhof stand. Ich fühlte mich oft einsam und litt darunter, nicht dazuzugehören. Trotzdem unterwarf ich mich nie einem Gruppenzwang und machte mein Ding.
Meine Mutter brachte mir früh bei, dass ich mir nichts gefallen lassen und mich nicht von anderen Menschen abhängig machen darf. Manchmal waren ihre Ansichten vielleicht zu radikal. Aber ich entwickelte mich so vom schüchternen Angsthasen zur kämpferischen Löwin und bin heute dankbar dafür. Ohne dass es mir damals bewusst war, richtete ich mir ein hochautonomes Leben ein, in dem ich jedoch auch wenig echte Nähe zuließ. Ich war lieber allein anstatt mit anderen zusammen. Ich ging ins Fitnessstudio, statt mir einen Teamsport zu suchen. Ich fuhr alleine in den Urlaub und konzentrierte mich voll auf Studium und Job. Ehrgeizig und fleißig war ich schon immer, aber perfektionistisch und besessen wurde ich erst mit dem 18. Lebensjahr. Ich machte damals ein gutes Abitur und war überglücklich. Doch dann kamen die ganzen Absagen von den Universitäten.
Zu schlecht.
Das erschütterte mich bis ins Mark. Ich bekam am Ende doch noch meinen Studienplatz, doch in mir festigte sich der fatale Glaubenssatz: »Gut ist nicht gut genug!« Von da an wollte ich immer zu den Besten gehören, definierte mich nur noch über Leistung und wurde zur Arbeitsmaschine. Ich legte Jahre später mein Diplom mit 1,0 und Auszeichnung ab. Einen schlechteren Schnitt hätte ich nicht akzeptiert. Der Preis, den ich dafür zahlte, waren eine gescheiterte Beziehung, ein Nervenzusammenbruch mit 23, Angst- und Schwindelanfälle, Depressionen, Magen-Darm-Beschwerden – kurzum: Ich wirtschaftete mich und meinen Körper komplett runter. Und wie sich später zeigen sollte, sind Perfektionismus, Besessenheit und Strenge auch keine guten Begleiter, wenn man anfängt, sich mit Diäten zu befassen.
Ich hatte mich also mit Mitte 20 innerhalb kürzester Zeit als erfolgreiche Journalistin hochgearbeitet, wurde aber immer unglücklicher mit meiner Figur. Ich bildete mich im Bereich Ernährung und Fitness weiter und überlegte mir...