VORWORT
Wäre Isabelle Eberhardt eine Zeitgenossin von uns, könnte man sie dem Club 27 zurechnen: Ein Legende, von vielen gekannt, aber ein zutiefst einsamer Mensch, der mit 27 Jahren unter spektakulären Umständen nach einem intensiven, durchaus exzentrischen Leben stirbt. Und als wäre sie eine Vorgängerin der medialen Stars unserer Gegenwart gewesen, gibt es ein Bild von ihrem Tod! Ein für die damalige Zeit recht außergewöhnlicher Zufall. Noch dazu in Aïn Sefra, einer Wüstenstadt im Südwesten Algeriens, wo Isabelle Eberhardt am 21. Oktober 1904 ums Leben kam.
Nur wenige Stunden zuvor hatte sie sich gegen den Rat des Arztes selbst aus dem Krankenhaus entlassen und war, noch in geschwächtem Zustand, in die Hütte zurückgekehrt, die sie am Ufer eines ausgetrockneten Flussbettes gemietet hatte. Dann geschah wie aus dem Nichts eine Naturkatastrophe. Bei schönstem Wetter kam plötzlich mit tsunamiartiger Geschwindigkeit Wasser durch das Wadi getost und riss eine Brücke, viele Häuser und Menschen mit sich. Auf dem Foto, das damals gemacht wurde, tragen Einheimische ihren Leichnam auf einer Bahre aus den Schuttmassen. Was auf ebenso wundersame Weise geborgen werden konnte, waren ihre Manuskripte – Erzählungen, Reisetexte, ihre Tagebücher. Sie wurden wenige Jahre nach ihrem Tod in Paris herausgebracht. Isabelle Eberhardt selbst wurde dort, in Aïn Sefra, nach islamischem Ritual beerdigt, vor allem aber: in der Wüste, wie es immer ihr Wunsch gewesen war.
Wenn es so etwas wie Heimat für eine Ruhelose wie Isabelle Eberhardt gegeben hat, war es eine landschaftliche Form: die der Sahara. Der konturlose, unendliche Raum der Wüste zog sie magisch an.
Was bereitet jemanden auf ein Nomadenleben vor?
Isabelle Eberhardt war die Tochter von Nathalie de Moerder, einer durch Geburt und Heirat adligen Russin, die 1871 zusammen mit dem Hauslehrer ihrer drei Kinder Russland verließ und sich am Genfer See niederließ. Dieser Hauslehrer mit Namen Trofimowski, ein ehemaliger russisch-orthodoxer Priester armenischer Abstammung mit anarchistischen Ideen, offenbar eine Mischung aus Gelehrtem und Guru, wurde später der Vater eines weiteren Kindes und von Isabelle, die 1877 in einem Landhaus in der Nähe von Genf, der Villa Neuve, geboren wurde. Das Haus findet in Isabelles Tagebüchern oft Erwähnung. Wenn sie von ›dort‹, dem ›Norden‹ oder von ›jenseits des Meeres‹ spricht, ist immer jene Familien-Enklave gemeint, eine Art huis clos, in der sie aufwuchs.
Vielleicht kam ihr Fernweh, auf jeden Fall aber ihre Neugier daher, dass sie als Kinder das Grundstück nicht verlassen durften. So verfügte es der Vater, in ihren Tagebüchern ›Wawa‹, ›der Denkergreis‹ oder auch ›der alte Mann‹ genannt. Aus Angst vor der Ansteckung mit der Krankheit Zivilisation versuchte er, auf dem Grundstück die Utopie einer Selbstversorger-Kommune zu verwirklichen. Die Kinder waren frei und sich selbst überlassen, wurden gleichzeitig aber auch zur Garten- und Landarbeit herangezogen. Zur Schule ging Isabelle nie, Trofimowski unterrichtete sie. Besonders viel lag ihm an Botanik und Naturkunde, Philosophie und den Sprachen, darunter Arabisch, Russisch, Latein, Griechisch und Deutsch. Bereits als junges Mädchen soll Isabelle Arabisch gesprochen und geschrieben haben. Über Bücher und Brieffreundschaften macht sie Bekanntschaft mit der orientalischen Welt, die für die Franzosen der damaligen Zeit auch Nordafrika mit einschloss und speziell auf Schriftsteller und Maler eine große Faszination ausübte.
Antiautoritäre Erziehung und Strenge, soziale Abgeschottetheit bei gleichzeitigem Studium der Sprachen der Welt, ein grundsätzlich privilegiertes Leben, in dem aber das Glück der Besitzlosigkeit gepredigt und gelebt wurde (die Villa war äußerst spartanisch eingerichtet) … Es ist diese Ambivalenz, die Isabelles ganzes Leben durchziehen wird.
Ihr beständiges Schwanken zwischen Gefühlen, aber auch zwischen Orten und Menschen ist das, was beim Lesen ihrer Tagebücher am stärksten auffällt. Schon auf den ersten Seiten unterzieht sie sich einer Selbstanalyse, in der sie das Hohelied auf die Einsamkeit singt und diese gleichzeitig verdammt. Und genauso liegen ihre ruhelosen Reisen sowohl in einer Neugier begründet als auch in einer Ausweglosigkeit. Der Mut zur Unabhängigkeit, ihre Einsamkeit, aus der sie Kraft bezog, rühren auch von diesen frühen Erfahrungen.
Fakt ist: Isabelle musste unterwegs sein. Dabei haben wir es nicht etwa mit einer reichen, »emanzipierten« Touristin zu tun, die einer Modewelle folgend »den Orient« bereiste. Ihr Mut ist oft der Mut der Verzweiflung. Der Hintergrund all ihres Tuns ist auch die Erfahrung von Entbehrung, Leid und Tod.
Zusammen mit ihrer Mutter schifft sie sich 1897 nach Bône (Annaba) in Algerien ein, wo die beiden sich von der Kolonialgesellschaft weitestgehend fernhalten und zum Islam konvertieren. Doch kaum ein halbes Jahr später stirbt Nathalie de Moerder dort. Isabelle, die sie nach ihrem Tod zärtlich »Weißer Geist« nennt, beerdigt sie auf dem muslimischen Friedhof. Auf sich allein gestellt, beginnt sie zu reisen. Verkleidet als arabischer Student oder Gelehrter und oft unter einem Pseudonym zieht sie mit Soldaten, Fremdenlegionären und Nomaden durch das Land. Nachdem ihr Bruder Wladimir sich 1898 das Leben genommen hat und Trofimowski erkrankt, kehrt sie nach Genf zurück. Dort pflegt sie ihren Vater bis zu dessen Tode 1899. Nur zu Augustin, ihrem älteren Bruder, der nach Jahren bei der Fremdenlegion in Marseille lebt, hat sie danach noch eine (innere) Verbindung.
Allein und mittellos, da die Erbschaftsangelegenheiten sich schwierig gestalten, bricht sie erneut Richtung Afrika auf – um nie wieder zurückzukehren. Durchaus im Sinne ihrer Erziehung drückt Eberhardt in ihren Texten an verschiedenen Stellen ihre Abneigung gegenüber ihrer Heimat, der Bourgeoisie sowie gegenüber der Zivilisation im Allgemeinen aus, während sie Afrika in ihren Tagebüchern immer wieder als »Wahlheimat« oder »Adoptivland« bezeichnet.
Ende des 19. Jahrhunderts ist in Westeuropa noch kein Platz für allzu unkonventionelle Lebensformen. Nur ganz vereinzelt flüchten – mutige – Europäer nach (Nord-)Afrika, aus Liebeskummer, auf der Suche nach einem »ursprünglicheren« Leben, auch Todessehnsüchtige, Menschen jedenfalls, die kaum etwas zu verlieren haben. Im Grunde sucht auch Isabelle Eberhardt als ein Hippie avant la lettre etwas in der »Fremde«, was Europa ihr zu jener Zeit, da es dort noch keine wirklichen Alternativkulturen gibt und mit verschiedenen Naturbewegungen sich erst zaghaft ein paar Enklaven herauszukristallisieren beginnen, nicht bieten kann.
Wie magisch angezogen, zieht sie sich in die leeren Weiten der Sahara zurück. Die Wüste wird ihr zur Seelenlandschaft, eine Projektionsfläche für ihre Selbstvergewisserung, die in ihren Schriften bezeugt ist. Denn darin liegt die Kraft der Journaliers von Isabelle Eberhardt: Es sind auch Selbstüberzeugungs- und Selbstermächtigungsschriften einer ewig einsamen, zuweilen überforderten jungen Frau. Auf den ersten Blick berichten sie über das Glücklichsein in bestimmten Landschaftsräumen, sprechen sie vom Ankommen im »richtigen« Raum. Das Seltsame dabei ist: Die Wüste befreit sie nicht von ihrem Zustand der inneren Zerrissenheit, im Gegenteil, sie verstärkt ihn oft sogar. Das Fernweh ist nichts, was irgendwann aufhört. Es macht aus den Tagebüchern zugleich das Panorama einer Krankengeschichte, die Geschichte einer ewig Rastlosen, auf der Suche nach einem Ort, der, sobald sie ankommt, schon wieder aufgegeben wird. Der Fernblick, die sich immer wieder entziehende Landschaft, ist ihr bevorzugtes Sehmodell. Deshalb sind es auch so oft Erinnerungen, sowohl vergangene wie auch zukünftige, die im Mittelpunkt ihres Schreibens stehen. »Wiederfinden« – ein Wort, das eine große Rolle in den Texten von Isabelle Eberhardt spielt, ohne dass man sagen könnte, was genau und wo genau es wiedergefunden werden könnte.
Viele Jahrzehnte nach Isabelle Eberhardt hat eine andere große Unruhige und Tiefblickende der Literatur, Ingeborg Bachmann, erstaunlich ähnliche Landschafts- bzw. Seelenerfahrungen in ihren Briefen formuliert: »Immer denke ich an die Wüste … ein paar Tage lang habe ich dort gelebt, so wie ich leben möchte. (…) Dort war alles wahr, alles richtig, alles tödlich, alles gesund. Dort hat man keine Neurosen, immer denke ich an die Tage, wie die paar letzten Europäer zusammengebrochen sind (sehr gesunde, junge), und ich habe es ausgehalten, ich war plötzlich gesund. (…) Ich will etwas unendlich Schönes und etwas unendlich Herrliches haben, und das habe ich in der Wüste gehabt.«
Die Suche nach einer utopischen Fluchtgegend mündet bei beiden Schriftstellerinnen in Ernüchterung. Beide müssen sie feststellen: Die Wüste heilt nicht, schon gar nicht auf ewig, sie bringt einem den eigenen Zustand nur klarer zu...