The Needles bei Cannon Beach
Der Nordwesten der USA
Reise in ein neues Land
»The Pacific Northwest is one of my favorite spots in the world«
(Woody Guthrie)
Das Land um die nordwestliche Küste der USA wurde spät entdeckt – von den Eroberern, den Siedlern und den Touristen. Als George Vancouver 1792 in den Gewässern des Puget Sound nach der Nordwestpassage suchte, regierte George Washington schon eine unabhängige Nation. Als die Offiziere Lewis und Clark 1804–06 per pedes und Kanu zum Pazifik vorstießen, begann im Osten bereits die Industrialisierung. Und als Siedler in den 1840ern und 1850ern in Planwagen über den Oregon Trail nach Nordwesten zogen, besaß der Osten schon ein Netz von Kanälen und Eisenbahnen.
Wer den Nordwesten nicht kennt, glaubt vor allem eines zu wissen: dass es »viel regnet«. So gerne Mitteleuropäer sonst reisen, hier sagen sie sich: Regen haben wir selbst genug, fahren wir lieber nach Florida! Die neuen Entdecker des Nordwestens kamen von innen: Aussteiger der Hippie-Generation und andere Alternative, die in Oregon, Washington und British Columbia das einfache, natürliche Leben suchten. Ernest Callenbach schrieb ihnen die passende Utopie: »Ecotopia« (1975) – über die (fiktive) Sezession Oregons und Nordkaliforniens von der Union nach dem Motto: Leave. Me. Alone. Produkte dieses Ideenschubs waren fortschrittliche Gouverneure (wie Tom McCall, 1967–75) und fortschrittliche Gesetze (wie die Bottle Bill, 1973). Flüsse und Seen wurden saniert, die Metropolen bekamen public transit und public art, und die Fläche public space. Die Washington State Ferries kreuzen den Sund wie Vorortzüge, Portland und Seattle finden sich stets oben auf der Liste der Most Livable Cities, und die Mikrobrauereien brauen hand-crafted Bier – ohne Konservierungsstoffe.
Seattle im Abendlicht, rechts Elliott Bay
Von alledem profitieren die Besucher. Sie finden eine touristische Infrastruktur vor, an der zum Teil schon die CCC-Boys der Works Projects Administration unter Franklin D. Roosevelt gearbeitet haben: State Parks und Waysides in bester Lage, ausgebaute Wanderwege, informative Visitor Centers, eine durchgehende Küstenstraße, deren Brücken seit den 1930ern die Mündungstrichter der Flüsse überspannen – überhaupt eine Küste, die in Oregon per Gesetz zum Gemeineigentum erklärt und im nördlichen Washington als Olympic National Park geschützt ist.
Klippen im Shore Acres State Park, mittlere Oregon Coast (nahe Coos Bay)
Dabei ist der Nordwesten keine Spielwiese für Weltflüchtlinge und Umweltfreaks. Mächtige Konzerne wie Boeing, Microsoft, Intel und Nike stellen die Region ökonomisch auf die Füße. Auf diesem Unterbau gedeiht eine lebhafte Kultur, Subkultur und »Powell’s City of Books«. Der Nordwesten ist keine Idylle im Wald, dazu wurde und wird zu unbarmherzig gerodet. Immerhin druckt die Tourismusbehörde von Oregon in ihrer Broschüre den bemerkenswerten Satz: »Die Indianer behaupten, das Land sei ihnen nur geliehen.« Dann fordert sie die Touristen auf, selber »Anleihen« aufzunehmen – eine gute Idee.
Yoga am McKenzie River in den Kaskaden, Oregon
In Oregon und Washington leben gerade einmal elf Millionen Menschen, aber die stellen einiges auf die Beine. Seattle und Portland haben nicht nur Museen, Theater und Symphonieorchester, sondern auch eine populäre Kultur von Blues bis Grunge, Punk bis Schick, Café bis Kneipe. Seit Starbucks 1971 in Seattle seinen ersten Coffee Shop eröffnete, schwappt die Kultur röstfrischen Kaffees über den Nordwesten, die Nation und die Welt. Mikrobrauereien sind eine Erfindung des Nordwestens: Sie erreichen in Portland eine Dichte, von der Bayern nur träumen kann. Und die Northwest Cuisine schafft die richtige Unterlage dafür …
Einer von vielen: Wasserfall in der Columbia River Gorge
Warum der Nordwesten?
Kommt man von einer Erkundungstour durch die Region zurück, dann stellen amerikanische Freunde oft eine unangenehme Frage: What did you like best? (und gleich danach: Where do you go next?). Die Antwort kann nur ein langwieriges Abwägen oder eine schnelle Lüge sein. Doch der Leser hat ein Recht auf Auskunft, warum er den Pazifischen Nordwesten der USA besuchen sollte. Die Antwort ist eine schlichte Aufzählung: die landschaftliche Vielfalt – mit Küste, Regenwald, Kaskadengebirge, Plateaus, Lavaströmen und offener Steppe, dazu zwei »lebenswerte« Metropolen und das Erbe der Indianer – WOW!
Die Touristikbranche ergeht sich in Superlativen: Long Beach habe den »längsten Strand der Welt«, Tillamook die »größte Käsefabrik der Welt« und Portland »die größte Buchhandlung der USA«; die Columbia River Gorge sei die wind surfing, Lincoln City die kite flying, Bandon die storm watching und Wenatchee die apple CAPITAL OF THE WORLD; Lakeview (OR) die Nummer eins beim Drachenfliegen, Grants Pass (OR) beim Wildwasser, Snohomish (WA) bei den Antiquitäten und Portland bei den Mikrobrauereien. Crater Lake ist der tiefste See der USA und Hells Canyon die tiefste Schlucht Nordamerikas – beide so imposant, dass sie eigentlich keine Werbesprüche brauchen.
Der Wald spielt in dieser Liga mit. Seine würdigsten Vertreter sind: Douglastanne (Douglas-fir), Sitkafichte (Sitka spruce), Riesen-Lebensbaum (Western redcedar, fälschlich als Zeder übersetzt) und Hemlock (Western hemlock) im Regenwald sowie Ponderosakiefer (Ponderosa pine) östlich des Kaskadenkamms.
Fragt man nach der herausragenden Freizeitsportart des Nordwestens, dann lautet die Antwort: River Running. Outfitter im Lande bieten ihren Gästen das feuchtfrische Vergnügen im Schlauchboot (raft), Kajak (Paddel mit zwei Schaufeln) oder Kanu (Paddel mit einer Schaufel). Die besten Wildwasserflüsse sind Skagit, Methow, Wenatchee, Deschutes, McKenzie und Rogue; der John Day macht es gemütlicher. Die Saison auf dem Wasser dauert von April bis September. Alle Schwierigkeitsstufen sind vertreten – von Klasse I (»badewannenglatt«) bis Klasse VI (Don’t even think of it!).
Das Reisegebiet
Beschrieben wird der engere Nordwesten, also die Staaten Oregon und Washington. So gefasst ist das Gebiet größer als Deutschland, aber kleiner als Texas; damit ist es überschaubar und in drei Wochen (oder länger) gut zu bereisen. Die Route (ohne Extratage) ist allerdings 4533 Kilometer (knapp 2833 Meilen) lang, das sind im Schnitt 216 Kilometer pro Tag! – zu viel, um gründlicher hinzuschauen oder länger zu bleiben. Wer das will, muss die Route kürzen oder den Urlaub verlängern. »Kilometerfresser« spannen den Bogen bis nach British Columbia, Idaho und Nordkalifornien …
Zu den touristischen Sehenswürdigkeiten gehört in vorderster Linie die pazifische Küste, und zwar als felsige Steilküste wie auch als Sandstrand. Beide Typen sind reichlich vertreten. Südlich von Florence kommt ein breiter Dünengürtel hinzu. Zum Baden ist das Wasser, auch im Sommer, eher zu kalt. Die berühmte US-101 folgt der Küste meist mit Abstand. Bisweilen erklimmt sie aussichtsreiche Höhen, dann wieder gibt es loops, die näher ans Meer heranführen. Fähren und Furten über die Küstenflüsse sind durch großartige Brückenbauwerke ersetzt, doch nach feuchten Wintern können Erdrutsche die Straße blockieren. Wanderer auf dem 375 Meilen langen Oregon Coast Trail rührt das wenig.
Der gemäßigte Regenwald (temperate rain forest) ist eine Spezialität des Nordwestens, er kommt sonst nur noch an wenigen Punkten der Welt vor, etwa in Neuseeland oder Chile. Seine vollkommenste Gestalt erreicht er in der Olympic Peninsula, im Olympic National Park. Wo entlang der Route sehenswerter old-growth forest besteht, wird darauf hingewiesen. Auch die brutalen Kahlschläge in der Fläche und an den Bergflanken wird man nicht übersehen können; sie werden beim Betrachter Zorn und Trauer hervorrufen.
Dreimal quert die Route das Kaskadengebirge, und zwar als North Cascades, Historic McKenzie und Historic Columbia River Highway. Außerdem führt der Cascade Lakes Highway mit einer Panoramastraße an die Ostflanke der Kaskaden heran. Sind die Pässe im Winter und Frühjahr gesperrt, so kann man auf nationale Routen ausweichen. Erloschene und halberloschene Vulkane stehen Spalier: Mount Hood zum Schauen, Mount St. Helens zum Schaudern, und Mount Bachelor zum Skifahren. Die Flusstäler – das sanfte des Methow, das stille des Metolius und das kantige des Deschutes – laden zum Wandern, Radfahren, Rafting oder Reiten ein. Der Pacific Crest Trail führt, etwa in Kammhöhe, der Länge nach durch die Region.
Östlich der Kaskaden breiten sich Central Oregon (um Bend) und Central Washington aus. In grober Zuordnung gehören beide zum Columbia Plateau. Es ist dies kein ödes, wasserloses Binnenland, sondern ein vielfältig gegliedertes Land mit Wald, Flüssen, Canyons und vielerlei vulkanischen Erscheinungen. Im Regenschatten der Kaskaden steht Ponderosawald, dann folgt Wacholder, dann Sagebrush. Central Oregon ist bevorzugter Standort moderner Resorts mit ihren vielen Freizeitangeboten. Und Bend mausert sich zu einem urbanen Zentrum mit Flair.
Auf dem Deschutes River bei Maupin, Central Oregon
Auch der fernere Osten der Region birgt landschaftliche Reize. Gewaltige eiszeitliche Fluten haben die Channeled Scablands mit ihren Coulees, Dry Falls und Gorges geschaffen. Grand Coulee Dam staut einen See von 125...