Mit Christophs VW-Bus sind wir unterwegs im obersten Mühlwalder Tal. Hier, nahe der nördlichsten Spitze Südtirols, spürt man bereits die Kühle der grauen, gletscherbehangenen Gneisberge der Zillertaler Alpen. Sie hat die Landschaft karger gemacht. Dunkle, von spärlichen Wiesenflecken durchsetzte Nadelwälder überziehen die Talflanken, darüber liegen ein paar Hochalmen, die schon bald den blockigen Schutthalden der Felsgipfel weichen. Keine Spur von Heidi- oder sonstiger Bergbauern-Romantik.
Die schmale, teils einspurige Asphaltstraße, auf der wir fahren, zieht hinauf zum Neves-Stausee. Sie wurde in den Jahren um Christophs Geburt 1962 gebaut und ist ein Teil seiner Heimat. Christoph schaut jetzt öfters nach links hinab in den fast schluchtartig engen Talgrund. Schließlich deutet er aus dem Autofenster: „Dort unten, die einzelne Almhütte. Auch die haben wir damals bewirtschaftet. … Und dort vorne, da hat es mich damals überschlagen, als ich mit dem Einachser und den Heuschlitten den Hang hinuntergefahren bin!“
Dort draußen ist nur steiler, felsdurchsetzter Waldboden.
„Gute Güte, da dürften viele ja schon zu Fuß Probleme haben!“
(Arbeitsnotizen Jochen Hemmleb, Frühjahr 2018)
DRAUSSEN ZU HAUSE – DIE WELT MEINER KINDHEIT
Eigentlich bin ich ein Zeuge aus der Vergangenheit. Mein Leben als Kind und Jugendlicher auf Hof und Alm war etwas, das heute im Aussterben begriffen ist, obwohl es gerade einmal vierzig, fünfzig Jahre her ist. Es waren harte Zeiten, in denen auf manchen Bergbauernhöfen Hunger herrschte und viele gearbeitet haben, nur um zu überleben.
Heute ist das fast nicht mehr vorstellbar.
Der Steiner-Hof, auf dem ich aufwuchs, liegt inmitten steiler Bergwiesen auf 1620 Meter am Südhang der Henne (Gornerberg) über dem Mühlwalder Tal, einem Seitental des Tauferer Ahrntals. Auch wenn heute eine Straße dorthin führt, geht es rundherum sofort abwärts. Unterhalb des Stalls können kaum die Kühe stehen. Es gab einen weiteren Hof in der Nähe, der hatte eine etwas bessere Lage. Da hatte es sogar eine kleine Fläche, auf der wir Kinder Ball spielen konnten. Wenn aber einer von uns den Ball über das Spielfeld hinausschoss, mussten wir eine Viertelstunde bis in den Wald hinuntergehen, um ihn zu suchen. Alle weiteren Höfe waren mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt.
Im Sommer war mein Zuhause eine einzelne Almhütte auf der fast 400 Meter höher gelegenen Gorneralm. Das Obergeschoss der Hütte bestand aus einem großen und einem kleineren Raum mit nur ein paar kleinen Fenstern. An einer Wand war eine Feuerstelle mit einem Kamin, daneben ein großer Holzherd zum Kochen. Ansonsten gab es nur noch einen Esstisch und einen Kasten für Dinge wie Geschirr. Heizen konnte man die Stube allerdings aufgrund der fast nicht vorhandenen Isolierung kaum. Aber dafür hatten wir eine „Fußbodenheizung“, denn im Erdgeschoss war der Stall und die Wärme der Tiere stieg durch die Ritzen im Gebälk nach oben. Dass dadurch alles irgendwann nach Kuh roch, daran gewöhnte man sich.
In der oberen Stube wurde alles gemacht. In einer Ecke stand eine Art Kran, mit der wir den Milchkessel über die Feuerstelle schwenken konnten. Wir stellten Käse und Topfen her, aber immer nur für den Eigenbedarf. Blieb Milch übrig, machten wir Butter, die wir in regelmäßigen Abständen hinab auf den Hof trugen. Damals war es oft so, dass die Bauern einfach vier, fünf Milchkühe hatten, um sich selbst zu versorgen. Es war noch nicht üblich, die Milch in der Sennerei abzuliefern und weiterzuverkaufen. Für uns war es auch nicht möglich, denn zu unserem Hof führte damals noch keine Straße. So richtig los ging es bei uns mit der Milchwirtschaft erst mit den 1980er-Jahren.
Anfangs, mit sechs oder sieben Jahren, half ich bei der Heuernte oder trug das Mittagessen für die Mäher hinauf auf die Weiden. Das gemähte Gras musste zusammengerecht und mit Kraxen zum Hof hinabgetragen werden, wo es zum Trocknen in die Heudillen gefüllt wurde. War so eine Dille halbvoll, war es ein Heidenspaß, in das Heu hineinzuspringen – bis zu dem Augenblick, als ich vergaß, dass inzwischen Lattenroste zur besseren Belüftung und Trocknung eingezogen worden waren, und ich mit Karacho ins Gebälk krachte …
Später dann, als ich als Kühbub auf dieser und zwei weiteren Almen in der Gegend um den Neves-Stausee arbeitete, sah der Tagesablauf in etwa folgendermaßen aus: Morgens um 5 Uhr aufstehen. Zum Frühstück gab es Brot, Butter und Wasser, ganz selten einmal einen Saft. Dann wurden die Kühe gemolken und auf die Weiden getrieben. Anschließend musste der Stall ausgemistet werden. Ansonsten bist du den ganzen Tag bei den Tieren geblieben. Einerseits musstest du zusehen, dass sie nicht in zu steiles Gelände gerieten, andererseits wurden gerade zu Anfang der Weidezeit die Kühe jeden Tag auf einen neuen Flecken Land getrieben, damit die Wiesen gleichmäßig abgegrast wurden. Gegen Mittag mussten sie immer an einer Wasserstelle sein. Gegen 17 Uhr trieben wir die Kühe dann wieder zurück in den Stall und es wurde nochmals gemolken.
Maschinelle Hilfe gab es auf der Alm keine, mit Ausnahme eines handbetriebenen Geräts zur Butterherstellung. Und natürlich die kleineren Werkzeuge wie Schleif- und Dengelsteine zum Schärfen der Sensen. Das Heu trugen wir mit Kraxen. Die einzige Maschine, die ständig lief, waren die eigenen zwei Beine …
Zum Abend gab es meistens hart gewordene Brotreste, die wir auf einer Grommel – einem Hackbrett mit einem beweglich montierten Messer – zerkleinerten und in Milch aufweichten. Oft gab es auch Melchermuas, in geschmolzene Butter und Milch eingerührtes und gebratenes Mehl, als besondere Spezialität auch mal in der Variante mit Rahm. Es ist so gehaltvoll, dass wir es heute kaum mehr essen können. Unsere Mägen vertragen es nicht mehr. Wir haben es früher zwei-, dreimal die Woche gegessen – was einfach zeigt, wie viel Kalorien wir damals durch die harte Arbeit, das viele Gehen und die häufige Kälte verbrannt haben. Nudeln und Polenta ergänzten den Speiseplan, Fleisch gab es dagegen äußerst selten.
Was es dagegen immer auf der Alm gab, war Schnaps. Wenn der Senner aus dem Tal hinaufkam und verschwitzt war, genehmigte er sich immer ein Stamperl. Das beugte Erkältung vor – und wir waren auch kaum erkältet.
Zum Schlafen ging es in den Nebenraum der Stube. Dort hatten wir Holzbetten, die waren so breit wie französische Betten. In denen schlief man dann zu zweit. Die Matratzen waren mit Stroh gefüllt, und wir bauten uns darin nachts fast so etwas wie ein eigenes Nest, indem wir das Stroh nach der für uns angenehmsten Schlafposition ausformten. Manchmal gönnten wir uns auch den Luxus und stopften die Matratzen mit frischem Bergheu. Die Toilette war ein Plumpsklo an der Außenwand der Hütte, zu dem man nur über den Balkon gelangte. Man musste vor die Tür, egal ob es windig, kalt oder nass war. Die Waschgelegenheit war ein Trog oberhalb der Hütte – wobei der Trog schon ein Luxus war. Auf einer anderen Alm bei Oberlappach, auf der ich später arbeitete, gab es nur ein Rinnsal, in das wir zu Beginn der Saison ein Felsplatte oder ein ausgehöhltes Stück Baumstamm legten, damit sich das Wasser zum Waschen sammelte und besser herauslief. Abgewaschen wurde dort alles, von den Töpfen bis zum eigenen Körper. Feiner Sand reinigt alles … Mehr hatten wir nicht, mehr brauchten wir auch nicht.
„Rundherum geht es sofort abwärts …“: Der Steiner-Hof und seine Wiesen.
Ich frage mich öfters, warum es gerade heute immer wieder Menschen gibt, die aussteigen wollen, sich in die Wildnis zurückziehen und das Leben suchen, was wir vor vierzig Jahren hatten. Menschen, die anscheinend in der modernen Welt nicht mehr zurechtkommen und todunglücklich sind, obwohl sie alles haben.
Auf der kleinen Alm hatten wir die Verantwortung nur für uns und unsere Kühe. Wenn es uns und den Tieren gut ging, dann waren wir glücklich. Damals hat man eigentlich nur gearbeitet, um Essen zu haben. Heute sind die Arbeitsverhältnisse komplizierter, aber auch die Haltung vieler Menschen hat sich verändert. Es ist nie genug, alles muss schneller werden, alles muss günstiger werden. Die Menschen wollen immer mehr und sind nie zufrieden. So sind sie in einem Hamsterrad gefangen, aus dem viele erst wieder herauskommen, wenn es sie mit Burn-out flachlegt. So etwas hat es damals überhaupt nicht gegeben. Den Ausdruck „Burn-out“ gab es nicht – und eigentlich kenne ich ihn bis heute nicht, denn ich kann mir nicht vorstellen, jemals einen Burn-out zu haben.
Mich haben die Kindheitserlebnisse auf der Alm gelehrt, einfach nur einmal zufrieden zu sein mit dem, was ich habe. Und dies hat auch viel mit Maßhalten zu tun – zu wissen, was man braucht und was nicht.
EINZELKÄMPFERIN – MEINE...