Vorwort
Die Spielvereinigung Erkenschwick 1916 e.V. wird einhundert Jahre alt. Im Schatten von Krieg und Zerstörung war im Gründungsjahr 1916 kaum abzusehen, dass der von einer großen Schar von Bergjungarbeitern1 der Zeche Ewald Fortsetzung gegründete Sportverein, einer der Vorläufer der heutigen Spielvereinigung Erkenschwick, derart erfolgreich werden würde. In Chroniken, Büchern, Tageszeitungen und der Fachpresse wurde überschwänglich über die Ober-Liga-West-Zeit2 berichtet. Man feierte seine Himmelsstürmer Lienhard, Rachuba, Ludorf, Sperl, Matejka, die durch ihren ungekünstelten, schnellen, direkten Angriffsfußball und durch ihre leidenschaftliche Kampfmoral die Herzen ihrer großen Fangemeinde begeisterten. „Mit Kuzorra3 zur Spitze im Westdeutschen Fußball“, 1916 –1946, möchte ich das Interesse vieler Erkenschwicker auf das erste Drittel der Vereinsepoche lenken, das bisher äußerst stiefmütterlich behandelt wurde. Das hundertjährige Jubiläum bietet einen guten Anlass, um die wohl wichtigste Epoche unserer Vereinsgeschichte einem breiten Publikum zu vermitteln und auf diese Weise hoffentlich vor dem Vergessen zu bewahren.
Das vorliegende Buch ist eine Synthese aus verschiedensten Literaturquellen, aus vielen persönlichen Gesprächen und eigenen langjährigen Erfahrungen als Werksleiter der Schachtanlage Ewald Fortsetzung und Vorsitzender der Spielvereinigung Erkenschwick. Die Anfänge für dieses Buch gehen auf Gespräche mit Schülern der Oberstufe des Willy-Brandt-Gymnasiums anlässlich der Wanderausstellung „Fußballregion Ruhrgebiet“ zur Weltmeisterschaft 2006 zurück. Durch die Kooperation mit Partnervereinen und Partnerschulen vor Ort sollte die lokale Fußballgeschichte unter verschiedenen Aspekten beleuchtet werden. Trotz intensiver Bemühungen der Schüler blieben meines Erachtens besonders die Aufarbeitung der Frühgeschichte der Spielvereinigung, die Phase der Zechenstilllegung und der NS-Zeit äußerst lückenhaft. Im Vordergrund standen mehr die ruhmreiche Oberligazeit und die Idealisierung der Mannschaft; die Zeit davor schien nicht zu existieren. Da es auch um meine Kenntnisse in Bezug auf diese Periode der Stadt-, Zechen- und Vereinsgeschichte nicht zum Besten stand, und das als langjähriger „Insider“, wollte ich mehr über die Hintergründe wissen und begann die Planung der vorliegenden Veröffentlichung – nicht ahnend, wie schwierig Recherchen über Geschichten sind, die vergessen oder nur noch wenigen in Erinnerung sind. Mit Vorsicht sind hier besonders Beiträge in Festschriften und Chroniken einzuordnen, die sich auf die Gedächtnisleistung so „genannter“ Zeitzeugen berufen.
Der Aufwand der vielen Stunden Archivarbeit war dennoch der Mühe wert, denn ich hatte das Glück, neue und wichtige Quellen zu entdecken und einige Fehler und Nachlässigkeiten richtig stellen zu können.
Eine Darstellung der 100-jährigen Geschichte der Spielvereinigung Erkenschwick muss sich zwangsläufig auch mit dem größten Arbeitgeber, dem Bergwerk Ewald Fortsetzung, und mit der Gemeinde Erkenschwick beschäftigen. Im ersten Teil des Buches rückt deshalb der Zeitabschnitt von 1898 bis 1906 in den Mittelpunkt, der in bisherigen Darstellungen in wesentlichen Aspekten zu wenig Beachtung gefunden hat. Zu einseitig steht in den Berichten über diese Phase der Erkenschwicker Geschichte und der Geschichte der Zeche die Kohle im Vordergrund. Doch die zum Teil spannungsgeladenen Ereignisse im Zuge der Ansiedlung neuer Arbeitskräfte zwischen den Ortsansässigen, den Zuwanderern und den Zechenherrn werden gern ausgeblendet. Nicht nur, dass schon nach drei Jahren, d.h. 1903, fast ebenso viele fremde Menschen im Ort lebten wie Einheimische: nämlich 391 Einheimische gegenüber 375 Zugewanderten – und das mit allen damit verbundenen Problemen: Sprachbarriere einerseits, mangelnder Infrastruktur andererseits. Der Zustrom, das war das fatale, wuchs innerhalb weniger Jahre auf das Dreifache, und das, ohne dass vonseiten der Zeche Wohnungsbau betrieben wurde. Die Erkenschwicker bestritten diese schwierigen Anfangsjahre gemeinsam mit Ehsel (heute Essel), Oer und Rapen, wobei die Amtsgemeinde4 und die Zechenverwaltung wenig Hilfe boten. Da sich von Amtswegen niemand richtig um die Neuankömmlinge kümmerte, lastete die Bewältigung der Probleme wesentlich auf den Alteingesessenen; ohne deren aufopferungsvolles Engagement wären das Amt und die Zechenverwaltung oft hilflos gewesen.
Die Erkenschwicker Einwohner haben – das ist eine Folge der Zuwanderungsgeschichte – zu einem hohen Prozentsatz migrantische Wurzeln. Egal, ob ihre Großeltern mit den Kindern aus Schlesien oder sonst woher kamen. Die Geschichte all dieser Zugewanderten, die händeringend eine Unterkunft und nicht zuletzt eine Zukunft in Erkenschwick suchten und fanden, möchte ich mit dem Kapitel „O Du mein Erkenschwick“! in Erinnerung bringen.
Die Entwicklung der Troika aus Zeche, Sportverein und der Gemeinde Erkenschwick wurde über viele Jahre fast ausschließlich von der Zeche bestimmt. Diese einseitige Ausrichtung auf den Bergbau als größtem Arbeitgeber barg natürlich stets eine Gefahr. Dies zeigte sich drastisch bei der vorübergehenden Stilllegung der Schachtanlage vom 1. Juli 1931 bis zum 1. Juli 1938, die Not und Elend über die gesamte Bevölkerung der Gemeinde Oer-Erkenschwick5 brachte. Es gehört zu den bitteren Tatsachen der Geschichte, dass nur bzw. ausgerechnet unter dem NS-Regime mit seinen auf Sicherung der wirtschaftlichen und militärischen Kriegsfähigkeit ausgerichteten Vierjahresplänen der Betrieb in der Zeche wieder aufgenommen werden konnte.
Wie ein roter Faden ziehen sich existenzielle Krisen auch durch die Chronik der Spielvereinigung. Dies betrifft besonders die Jahre des Ersten Weltkriegs mit Streiks, Hunger und Not und setzt sich fort über Revolution, Inflation bis zur Ruhrbesetzung6. Es ist nur den agilen Vorständen, wie etwa Karl Huthwelker7, und ihren Mitstreitern zu verdanken, dass es gelang, die Spielvereinigung mit zwei Fusionen, zuerst mit dem Erkenschwicker Turnverein und später mit dem Oerer-Ballspiel-Verein, durch die chaotische Anfangsphase von 19161923 zu bringen. Der Pütt8 hat in dieser Zeit wenig für den Fußball getan. Sein – allerdings nicht unbeträchtlicher – Beitrag war gesicherter Lohn, Wohnung, Urlaub, hervorragende Ausbildung, medizinische Betreuung und Deputatkohle.
Das Bergwerk als „Vater aller Dinge“ hat der Bauerschaft Erkenschwick und nach 1926 der Gemeinde Oer-Erkenschwick sicher zu oft den Stempel aufgedrückt und dadurch schon in der Frühphase der Industrialisierung entscheidende Stadtentwicklungspotenziale unterbunden. Durch die Anziehungskraft der Zeche besaß das ehemals Dreihundertneunzig-Seelen-Dorf bereits 1906 zweitausendsechshundert Ansässige, bis 1909 hatte sich die Einwohnerzahl auf 4.059 verzehnfacht und bis 1914 auf über 7.700 verzwanzigfacht. Erkenschwick ist ein typisches Beispiel einer rein industriellen Zusammenballung – ähnlich Oberhausen, nur entschieden kleiner und ohne Bahnhof –, die um die Zeche auf freier Wiese, ohne historische Vergangenheit und einen, wenn auch noch so kleinen, städtischen Kern zwischen den Gaststätten Schmitt, später Romanski, und Welter in der Stimbergstraße, heranwuchs.
Trotz dieser überproportionalen Bevölkerungszunahme war auf kommunaler Seite kaum ein Fortschritt bei der Einrichtung notwendiger Strukturen der Daseinsvorsorge – wie der Bau von Straßen, Wohnungen, Schulen, Kanalisationsanlagen, Anlagen zur Beleuchtung und Trinkwasserversorgung sowie Einrichtungen zum Gesundheitswesen, zur medizinischen Versorgung, der öffentlichen Sicherheit und der Armenfürsorge – festzustellen. Erkenschwick hatte auch große Probleme bei der Sicherung wichtiger Grundbedürfnisse einer Einwohnergemeinde; ein großer Schritt dahin wären der Aufbau einer eigenen Verwaltung und die Anlegung einer räumlichen Struktur mit Marktplatz, ergänzend dazu Geschäftshäuser, Wirtschaften, Kleinindustrie, Handwerk und große Grünflächen zur Regeneration der hart arbeitenden Bergleute gewesen. Doch solche Maßnahmen wurden teils aus sicherheitsstrategischen Gründen (Streikversammlungen) verworfen, teils für überflüssig gehalten oder wegen fehlender Geldmittel zurückgestellt. Die Realisierung, insbesondere bei den Baumaßnahmen und der Kanalisierung, war nicht selten ein „Generationenprojekt“. So wurden Schmutz, Enge und Elend ein Dauerproblem. Unbestritten hätten sich viele dieser Probleme durch eine energische, ortsverbundene Gemeindevertretung vermeiden lassen; doch diese Mitwirkungsmöglichkeit wurde den Erkenschwicker Bürgern genommen, nachdem der Ewald-Gesellschaft – dank ihrer Steuermacht – die Gemeindevertretung übertragen wurde. Eine Chance zur Mitwirkung im Gemeinderat hätte es durch eine Erhöhung der Abgeordnetenzahl durchaus gegeben – so wie beispielsweise bereits 1893 in den Gemeinden Hochlarmark und...