Mario Erdheim
„I hab manchmal furchtbare Träume … Man vergißts Gott sei Dank immer glei ...“
(Herr Karl)
Das österreichische Gedächtnis zu erforschen, ist eine vielfältige und unendliche Aufgabe. Faszinierend ist es, die österreichische Literatur oder die bildende Kunst nach den Spuren, die die Geschichte in ihr hinterlassen hat, zu durchsuchen und Verborgenes sichtbar zu machen. Es bedarf großer Geduld, Liebe zum Detail und Spürsinn, um aus der Vergangenheit das zur Sprache zu bringen, was die Individuen einst zu verdrängen versuchten. Und schließlich braucht es Mut, jenen Problemen nachzugehen, die der Gegenwart Mühe bereiten und deren Wurzeln in der unmittelbaren Vergangenheit aufzudecken wären. Faszination, Geduld und Mut sind notwendig, um über Gespräche ins Labyrinth des Gedächtnisses unserer Gegenwart einzusteigen. Dieses Gedächtnis ist nicht zufällig labyrinthisch aufgebaut – der Minotaurus, der in ihm lauert, heißt Auschwitz.
Wenn wir heute über Erinnern und Vergessen arbeiten und nachdenken, kreisen wir immer um das in Auschwitz Geschehene. Es wird zunehmend deutlich, dass „Auschwitz“, wie einst Christi Geburt oder Mohammeds Hidschra, eine Art Nullpunkt der Geschichte darstellt, von dem aus ein „Davor“ und ein „Danach“ gemessen werden kann. Tatsächlich wirft Auschwitz auf alle möglichen Ereignisse davor ein bestimmtes Licht: Ob es um die Kreuzzüge gegen den Islam oder um die Ausrottung der Indianer, um die Reformation, das Christentum oder die Hegel’sche Philosophie geht – man kann sie auf Auschwitz beziehen und ein neues Verständnis dafür gewinnen. Gleiches gilt auch für das „Danach“ und die Zukunft der Kultur: Sie wird daran gemessen werden, ob es uns gelingt, neue Formen von Auschwitz zu verhindern oder nicht. Dabei spielt der Zusammenhang zwischen Kultur und Erinnerung eine wesentliche Rolle.
1. Kultur und Erinnerung
Dieser Zusammenhang scheint bekannt und einfach zu sein: Kultur ist das, was nicht biologisch verankert ist, sondern tradiert und erinnert werden kann. Eine Kultur verlöscht dann, wenn sie nicht mehr erinnert wird, und aus diesem Grund wurden stets erbitterte Kämpfe um die Erinnerung geführt – die ethnischen Kämpfe um die Sprache, um Sitten und Gebräuche waren immer auch Kämpfe um das, was aus der Vergangenheit erinnert werden durfte, um in der Gegenwart eine Identität zu stiften, an der man sich orientieren konnte.
Wer aber über den Zusammenhang zwischen Kultur und Erinnerung in Bezug auf den Faschismus nachdenkt, muss auf komplexere Modelle zurückgreifen. Kann man hier nämlich tatsächlich sagen, dass eine Kultur erlischt, wenn sie nicht mehr erinnert wird? – Dann wäre es doch das Beste, den Faschismus zu vergessen, denn das hieße, man könnte ihn so zum Verschwinden bringen. Weshalb sollten jedoch gerade die Faschisten dafür plädieren, die Sache endlich auf sich beruhen zu lassen, die Vergangenheit zu vergessen oder zumindest nicht immer wieder davon zu sprechen, und weshalb sind es die – zum Teil potentiellen – Opfer, jene also, die jedes Interesse daran hätten, den Faschismus zum Verschwinden zu bringen, die auf der Erinnerung beharren? Offenbar sind die Beziehungen zwischen Kultur und Erinnerung also komplizierter als angenommen: Kulturelle Züge können verschwinden, wenn sie erinnert werden, und fortbestehen, wenn sie der Vergessenheit anheimfallen.
Freud hat mit der Psychoanalyse diese Probleme in ein neues Licht getaucht und dem Zusammenhang zwischen Kultur und Erinnerung eine neue Dimension gegeben: Erinnern ist laut Freud nämlich eine Voraussetzung, um den Zwängen der Geschichte ein Ende zu bereiten. Marxens bekannter Satz „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (Marx 1852) ist eine Art Vorläufer von Freuds „Der Tote wird stärker sein als der Lebende“ (Freud 1912/1913) und bekommt erst durch die Psychoanalyse seinen vollen Sinn: Wie unter Zwang muss der Mensch das wiederholen, was seine Vorfahren ihm unverarbeitet und unbewältigt weitergegeben haben. Der Wiederholungszwang setzt sich mittels der Unbewusstheit durch, in welcher das geschichtliche Handeln stattfindet. Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht.
2. Kultur der Erinnerung und Kultur der Verdrängung
Grundsätzlich wäre einmal zu unterscheiden zwischen einer Kultur, die auf das Erinnern zielt, einer Erinnerungskultur, und einer Kultur des Vergessens, die das Verdrängen und Isolieren bevorzugt. Was ich meine, lässt sich ganz gut am Phänomen der Denkmäler aufzeigen. Ein Denkmal ist ganz gewiss ein kulturelles Produkt, und zwar eines, das das Erinnern bewusst intendiert. Der österreichische Schriftsteller Robert Musil hielt zwar nicht sehr viel von der Psychoanalyse, aber er hatte ein gutes Gespür für das Unbewusste, und an den Denkmälern erkannte er, dass sie zwar bewusst an etwas erinnern, unbewusst aber das zu Erinnernde der Vergessenheit preisgeben sollten. 1936 schrieb er in seinem „Nachlaß zu Lebzeiten“: „Das auffallendste an Denkmälern ist nämlich, daß man sie nicht bemerkt. (…) Sie wurden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, (…) aber gleichzeitig sind sie durch irgend etwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert. … der Beruf der meisten Denkmale ist es wohl, ein Gedenken erst zu erzeugen (…) und diesen ihren Hauptberuf verfehlen Denkmäler immer. Sie verscheuchen geradezu das, was sie anziehen sollten. Man kann nicht sagen, wir bemerkten sie nicht; man müßte sagen, sie entmerken uns, sie entziehen sich unseren Sinnen.“ Und zum Schluss fragt Musil, „… weshalb dann, wenn die Dinge so liegen, gerade großen Männern Denkmale gesetzt werden? Es scheint eine ganz ausgesuchte Bosheit zu sein. Da man ihnen im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie gleichsam, mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens“ (Musil 1936, S. 480–483).
Musil beschrieb hier ironisch Grundzüge einer Kultur des Vergessens, die sich als eine des Gedenkens tarnt. In „Totem und Tabu“ (1912/13) entwarf Freud eine umfassendere Theorie einer auf Vergessen bzw. auf Unbewusstheit beruhenden Kultur. Seine These lautete, dass die Religion aus dem Gedenken an den getöteten Urvater heraus entstanden sei. Die Söhne, die den Vater umgebracht hatten, bereuten die Tat und versuchten sie wieder gutzumachen. Der ermordete Vater wurde zum Totem entstellt und erschien als solcher mächtiger als einst der lebende Vater: „Der Tote wurde nun stärker als der Lebende gewesen war. … Was er früher durch seine Existenz verhindert hatte, das verboten sie (das heißt: die mörderischen Kinder; M. E.) sich selbst in der psychischen Situation des uns aus den Psychoanalysen so wohl bekannten ‚nachträglichen Gehorsams‘. Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die frei gewordenen Frauen versagten“ (Freud 1912/13, S. 173).
Der lebende, der wirkliche Vater wurde dabei ebenso „vergessen“ wie die mörderische Tat der Söhne. Die totemistische Phantasmagorie, deren man von nun an gedachte, verbarg das, was einst geschehen war, in einem kulturellen Komplex, von dem aus die wesentlichen Impulse zum weiteren Verdrängen ausgingen.
Zum Totem gehört das Tabu. Indem etwas tabuisiert wird, wird es auf eine spezifische Art und Weise fixiert und im Unbewussten konserviert. Im Kapitel über „Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühle“ kommt Freud auf die verschiedenen Tabus zu sprechen, die sich auf Namen, Feinde und Tote beziehen. Entexotisieren wir seine bunten Beispiele aus fremden Kulturen, so erkennen wir, dass in unserer eigenen Kultur dieselben Tabus auf wirksame Art und Weise das Verständnis unserer Geschichte strukturieren. Die Lektüre von Zieglers und Kannonier-Finsters Buch zeigt eindrückliche Beispiele dafür, dass die Tabus, die unseren Umgang mit dem Nationalsozialismus betreffen, keiner expliziten Verbote bedürfen und auch nichts Spektakuläres an sich haben, sondern dass sie im Alltag eingebettet sind, etwa in den Geschichten, die man über die Kriegszeit erzählt bzw. nicht erzählt, in den Häusern, die man abreißt, und den Spuren, die man dadurch tilgt. Dass es sich um Tabus handelt, wird lediglich bei bestimmten Anlässen deutlich, wie zum Beispiel bei der Errichtung von Denkmälern oder beim Nennen der Verstrickungen von einzelnen mit dem Faschismus, wenn plötzlich unerwartet starke Affekte ausbrechen.
Weshalb aber muss die Vergangenheit tabuisiert werden? Welchen Versuchungen muss man widerstehen, wenn man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen will? „Was kann das für eine gefährliche Eigenschaft sein, die immer die nämliche bleibt unter den verschiedensten Bedingungen? Nur die eine: die Eignung, die Ambivalenz des Menschen anzufachen und ihn in Versuchung zu führen, das Verbot zu übertreten“ (Freud, 1912/13, S. 43).
Die Erinnerung an die Vergangenheit muss tabuisiert werden, weil die Gefahr besteht, dass die...