Kapitel 2: Seele – Das eigene Potenzial entfalten
Wer bin ich? Was will ich? Wohin will ich?
Was heißt Potenzialentfaltung?
Die alten Lateiner verstanden unter potentia so viel wie »Stärke«, »Macht« und unter potentialis »nach Vermögen tätig wirkend«. Im heutigen Sprachgebrauch steht das Wort für die grundsätzliche Fähigkeit, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, beziehungsweise für einen Zustand, in dem eine bestimmte Möglichkeit noch nicht (voll) ausgeschöpft ist. Aus physikalischer Sicht braucht es zwingendermaßen Energie, damit der Körper die Arbeit tatsächlich verrichten kann. Aus philosophischer Sicht hängt das Potenzial von seiner Wahrscheinlichkeit und den verfügbaren Fähigkeiten ab.
Wenn wir also unser Potenzial voll entfalten möchten, müssen wir die Chancen dafür erhöhen: durch Fähigkeiten, Wissen und innere Haltung. Und wir müssen uns ein Feld mit Energiequellen schaffen: aus Werten, Talenten und Gesundheit. Dabei muss beides im Zusammenspiel geschehen, ganz im Sinne des Grundgedankens, dass die Ebenen des Körpers, des Geistes und der Seele in einen Zustand der Einheit gebracht werden müssen. Wenn wir gesund leben, aber unsere Talente verkümmern lassen, erfahren wir keine Potenzialentfaltung. Wir sind dann vielleicht fit wie ein Turnschuh, leben jedoch mehr vor uns hin und folgen kaum unseren Talenten und Werten.
Schwierigkeiten haben wir aber auch, wenn wir unser Potenzial zwar kennen und die nötigen Fähigkeiten mitbringen, um es zu entwickeln, aber dafür nicht genügend Energie haben. Dann haben wir vielleicht eine tolle Idee für ein eigenes Unternehmen, stehen jedoch eine hohe Arbeitsbelastung nicht durch, die oft mit den Gründerjahren einhergeht. Alles hängt miteinander zusammen und in einem bestimmten Maße voneinander ab, damit wir wirklich mit ganzer Kraft handeln können.
Sein Potenzial zu entfalten heißt, in Zusammenhängen und Beziehungen zu denken, Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und gemeinsam mit anderen und für andere Lösungen zu erarbeiten. Es heißt, zu begeistern, statt nur zu motivieren, zu vertrauen, statt zu kontrollieren, zu kollaborieren, statt zu konkurrieren, und vor allem aber nach gemeinsamen Interessen zu suchen, statt an eigenen Positionen festzuhalten. Gefragt sind Mitgefühl, Freude, Selbstdisziplin, Hingabe und Verhaftungslosigkeit. Wer so arbeitet, wird sich mit der eigenen Aufgabe und dem Umfeld verbunden fühlen, wird in Resonanz stehen und den eigenen Beitrag für andere erleben können. Es ist diese Verbundenheit, die Glücksforscher als wichtigste Grundlage für echte und nachhaltige Zufriedenheit ansehen.
Ohne Fleiß kein Preis
Die wenigsten Jobs bieten ausschließlich glanzvolle Seiten. Jede Art der Arbeit erfordert eine gewisse Frustrationstoleranz. Der schlimmste Fall ist doch, wenn wir uns – bildlich gesprochen – unseren Büroturm als einen Staubsauger vorstellen, der uns morgens einsaugt, wenn die Büroräume nur noch wie Legebatterien aussehen und wir an unserem Arbeitsplatz in ein Hamsterrad einsteigen und unser Chef, unsere Kollegen, Kunden sowie vielleicht auch wir selbst kräftig daran drehen, bis der Staubsauger uns wieder ausspuckt. Abends landen wir dann völlig erschöpft auf der Couch vor dem Fernseher, um uns in der Werbepause zu fragen, was wir heute eigentlich gemacht haben. Die verbliebene Energie verwenden wir viel zu oft dazu, uns über diese Situation zu ärgern. Wo immer es passt, beklagen wir uns darüber bei Kollegen, Verwandten, Freunden oder sogar Ärzten und Therapeuten.
Dabei wäre es viel sinnvoller, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie unser Job aussehen muss, damit wir zufrieden sind und mit unseren Aufgaben wachsen können. Angefangen vielleicht bei der Frage, ob wir eher enge Vorgaben suchen oder uns völlig anweisungsfrei einbringen wollen. Das können wir sicher leicht beantworten, aber wenn es darum geht, wo wir unser eigenes Potenzial sehen, wird die Sache schon komplizierter. Hier brauchen wir oft Hilfestellungen, um uns mit diesem Thema strukturiert auseinanderzusetzen.
Nichts scheint anziehender zu sein, als eine Antwort auf den Sinn des Lebens zu finden, aber genau dieses Bedürfnis nach Orientierung erweist sich in unserer modernen »Zuvielisation« als das große Problem. Wie gelähmt stehen wir vor den vielen Optionen, die uns das Leben offeriert. Angefangen bei den unzähligen Kaffee-Sorten und Kombinationen im To-Go-Shop auf dem Weg ins Büro bis hin zu den wichtigen und unwichtigen Entscheidungen, die wir jeden Tag im Schnelltakt treffen müssen. Die Karriereleiter bietet eine verwirrende Vielfalt an Jobbezeichnungen. Wie sollen wir uns da entscheiden? Welche Karriere ist die richtige? Welcher Schritt hilft mir weiter? Und lohnt sich das Ganze eigentlich für mich?
Gefangen in dieser »Zuvielisation« ist es leicht, vor der Auswahl zu erstarren und sich vom Berufsleben eher treiben zu lassen. Irgendwer wird die Karriere schon richten. Statt dem Leben einen Sinn zu geben, der für uns stimmig ist, suchen wir einfach weiter oder warten ab. Aber früher oder später werden wir die Konsequenzen dieser Erstarrung als lähmend oder sogar schmerzlich empfinden. Dann stecken wir vielleicht in einem Hamsterrad fest, ohne es gemerkt zu haben. Und selbst wenn es für manch einen golden erscheint und noch so glänzt – es bleibt, was es ist: ein Hamsterrad. Vor lauter Drehungen wird uns ganz schwindelig und wir verlieren immer mehr die Orientierung. Bis uns irgendwann das Gefühl beschleicht, dass wir alles ganz anders machen müssen. Vielleicht kommt es dann zu einem radikalen Bruch mit dem aktuellen Leben. Vielleicht versuchen wir das eigene Seelenheil zu finden, indem wir den immer als langweilig empfundenen Job als Pflichterfüller an den Nagel hängen und uns mit der »Mein Ding«-GmbH selbstständig machen. Das kann funktionieren, allerdings lauert auch hier das Hamsterrad an allen Ecken und Enden, insbesondere dann, wenn das »Mein Ding«-Angebot keinen Markt findet und am Ende des hart verdienten Geldes noch sehr viel Monat übrig bleibt.
Ob angestellt oder selbstständig, das Hamsterrad ist der größte Feind der Potenzialentfaltung. Viele Bürokrieger können nicht einmal mehr benennen, was sie in den letzten sechs Monaten erreicht haben und woraus sie eine tiefe Zufriedenheit erfahren haben. Wir rennen mit aller Kraft einer imaginären Karotte hinterher, aber wenn wir sie dann tatsächlich in den Händen halten, schmeckt sie oftmals weit weniger süßlich, als wir einst dachten. Vielleicht sind wir auch zu kaputt, um die Karotte genießen zu können. Oder sie entpuppt sich als Fata Morgana und wir bekommen sie nie zu fassen. In jedem Fall wenden wir übermäßig Energie auf und bezahlen einen hohen Preis. Und warum das ganze Theater?
Aber auch Selbstbestimmung, also ein Leben außerhalb des Hamsterrads, erfordert Disziplin und Ausdauer. Ohne Fleiß kein Preis. Die wichtigste Voraussetzung ist allerdings, dass wir unser Potenzial klarer sehen und wissen, wie wir es entfalten wollen und wohin die Reise gehen soll. Unsere Richtung zu erkennen ist der erste Schritt. Als Nächstes sind Fleiß, Ausdauer und Übung erforderlich, um die erforderlichen Fähigkeiten auszubilden. Dabei werden wir feststellen, dass Fleiß nicht nur anstrengend und mühsam sein muss, sondern auch mit Leichtigkeit verbunden sein kann.
Je klarer wir uns über unsere Ziele sind und je stimmiger diese sind, desto mehr sind wir mit dem Teil in uns verbunden, der wahre und anhaltende Zufriedenheit aus seiner Arbeit bezieht. Wir können es auch unser wahres Selbst nennen. Durch diese Verbundenheit kommen wir außerdem einfacher mit Rückschlägen zurecht. Und wenn wir etwas um der Sache willen tun, wird es sich weniger nach »harter Arbeit« anfühlen. Oder mit den Worten von Kant: »Ich kann, weil ich will, was ich muss.«
Unsere Potenziale mit einem Lebensplan entfalten
Um aus dem Hamsterrad auszusteigen, müssen wir uns intensiver mit unserem Lebensplan und damit mit unserem Potenzial beschäftigen. Nur so legen wir den Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben. Wir selbst geben unserem Leben einen Sinn. Legen wir hingegen unser Glück und unsere Zufriedenheit in die Hände derjenigen, die auf unserer Emotionsklaviatur spielen und uns die Karotte in das Hamsterrad hängen, sind wir fremdbestimmt und werden in unserem Arbeitsalltag deutlich weniger Freude und Leichtigkeit erleben. Dann ist Arbeit »Maloche«, ein ständiger Kampf mit unserem Umfeld. Dabei streben wir letztlich einen Gewinn ohne Sinn an, getrieben durch Angst, Gier, Neid und Anerkennungssucht. Was im Umkehrschluss nicht heißen soll, dass sich jeder am Besten selbstständig macht, um sich zu verwirklichen. Es geht vielmehr darum, sich bewusst für eine Sache zu engagieren, im Einklang mit dem eigenen Lebensplan. Was in jeder Position möglich ist, ob als Angestellter, Mitglied in einer Nichtregierungsorganisation, ehrenamtlicher Mitarbeiter und Hausmann oder Hausfrau.
Wenn wir der Ansicht sind, schon immer auf dem falschen Weg gewesen zu sein, mag die Erkenntnis spät kommen – aber besser spät als nie. Manchmal muss man lange auf dem falschen Weg gelaufen sein, um herauszufinden, welches der richtige ist. Die Yogis sagen, dass wir nie zu alt oder zu krank sind, und es nie zu spät ist, um mit Yoga (also auch mit seinem Lebensplan) von vorne anzufangen. Wenn wir uns unser Leben lang den dafür entscheidenden Fragen stellen, bleiben wir in der Selbstbestimmung und prüfen gleichzeitig, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und das darf gerne nach der Rente weitergehen oder auch dann erst...