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Ohne Brille sieht man mehr

Jan van Eyck: "Die Madonna des Kanonikus Georg van der Paele"

AutorChristof L. Diedrichs
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783741221842
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,49 EUR
Jan van Eyck steht für einen Neubeginn innerhalb der Kunstgeschichte des Abendlands, wie er radikaler kaum zu denken ist: Der Künstler wendet sich der sichtbaren Wirklichkeit zu und entwickelt künstlerische Mittel, um sie möglichst wirklichkeitsgetreu auf die Leinwand, respektive Tafel zu bringen. Das Buch versucht, dem Künstler so weit wie irgend möglich zu folgen, sich von ihm leiten, den Blick von ihm lenken zu lassen. Es regt an zu einem sensiblen Umgang mit den Zeichen, die das Bild enthält, das nicht etwa immer schon Gewusstes bestätigen, sondern den Betrachter überraschen und mit Neuem konfrontieren will. So gelangt der Betrachter, indem er mit wachem, zugleich kritischem Auge den Hinweisen des Künstlers folgt, immer tiefer in das Bild hinein, weit über die bloße Identifizierung von Szene und Figuren hinaus. Am Ende sieht er auf der Bildtafel, was in der Wirklichkeit nicht zu sehen wäre, und versteht, worum es eigentlich geht: um die Teilhabe an einer Vision, an einer 'Betrachtung' im mehrfachen Wortsinn.

Dr. Christof L. Diedrichs ist Kunsthistoriker und als solcher inzwischen u.a. als freier Autor tätig. Seit einer Reihe von Jahren engagiert er sich besonders aktiv in der Erwachsenenbildung. Von 2001 bis 2007 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, von 2008 bis 2014 lehrte er Kunstgeschichte an der Victor-Klemperer-Akademie Freiburg im Breisgau ("Studium 50plus"). In dieser Zeit hat er ein neues Konzept der Auseinandersetzung mit Kunst für interessierte Laien entwickelt, dessen Grundlage die selbstbewusste Aktivität des Betrachters selbst ist, statt dass er sich zum passiven Konsumenten mehr oder weniger weiterführender Erläuterungen machen lässt. Über die Buchreihe "ein-blicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken" macht Christof Diedrichs dieses Konzept einem größeren Publikum zugänglich.

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Leseprobe

JAN VAN EYCK: DIE ‚PAELE-MADONNA‘


Ein Bild zu beschreiben, so hatten wir gesagt, gleicht einem Gespräch, in dem uns zunächst vor allem die Aufgabe des Zuhörens zukommt. Wie es in einem solchen Gespräch nicht förderlich ist, dem Gesprächspartner ständig ins Wort zu fallen und seine Sätze vorschnell zu vervollständigen, so verhält es sich auch bei der Bildbeschreibung: Hier ist Aufmerksamkeit gefragt. Es ist frappierend, wie häufig wir uns dabei erwischen können, wie wir dem Bild ‚das Wort aus dem Mund nehmen‘, statt es geduldig ‚ausreden‘ zu lassen.

Wenn wir es schaffen, dieser Versuchung zu widerstehen und das Bild wirklich zu Wort kommen zu lassen, ist diese erste Stufe unserer Analyse vielleicht der spannendste Teil unserer Beschäftigung mit dem Bild überhaupt. Mit ihr begeben wir uns auf eine Entdeckungsreise und ihr Ausgang ist nicht absehbar.

Das Bild spricht


Bei Jan van Eycks Paele-Madonna handelt es sich um ein Tafelbild, das in Ölfarben auf ein Eichenholzbrett gemalt ist. Es ist querrechteckig und mit 122 x 157cm (ohne den originalen Rahmen) für eine privat gestiftete Tafel verhältnismäßig groß. Darauf sehen wir vier (bzw. fünf) beinahe monumental wirkende Figuren und eine Fülle von Details.

Auf der Mittelachse des Bilds (Abb. 1 [Frontispiz] und 2) thront eine junge Frau mit langem, lockigem, goldblondem Haar, die über einem dunkelblauen Gewand einen wallenden, roten Mantel trägt. Er ist mit grünem Stoff gefüttert und an den Rändern mit goldenen, edelsteinbesetzten Borten gesäumt. Auf ihrem Schoß hält sie ein nacktes, ebenfalls blondes Kind, das aufrecht sitzt und sich, wie sie, nach links wendet. Der Thron, dessen Armlehnen aufwändig mit Steinskulpturen geschmückt sind, wird bekrönt von einem Baldachin aus grünem, reich mit Stickereien verziertem Stoff, der hinter dem Rücken der jungen Frau herabfällt. Vom vorderen Bildrand aus führt ein reich mit geometrischen Mustern ornamentierter Teppich die beiden Thronstufen hinauf direkt bis zum Thron. Er ist vom Bildrand leicht angeschnitten und es mag unter anderem hieran liegen, dass der Betrachter sich der Szene verhältnismäßig nahe fühlt – als würde er mit einem Fuß auf dem Teppich stehen oder unmittelbar vor ihm vor den Stufen des Throns knien. Auch die Augenhöhe entspricht dem: der Betrachter muss zur Thronenden leicht aufsehen.

Maria und das Jesuskind – um diese beiden handelt es sich bei den bisher beschriebenen Figuren – wenden sich einem älteren Herrn in einem leuchtend weißen, möglicherweise liturgischen Gewand zu, der an ihrer linken Seite vor den Stufen des Throns kniet. Er trägt einen langen, grauen Pelzstreifen über seinem linken Unterarm14 und hält ein aufgeschlagenes, kleines Buch und eine dickrandige Bügelbrille in seinen Händen, als habe er soeben noch in dem Buch gelesen und die Brille nun abgenommen. Sein Gesicht zeigt Spuren hohen Alters und offensichtlich auch diverser Krankheiten. Der Herr wirkt zurückhaltend und im Rahmen der hohen Würdenträger, zwischen denen er kniet, verhältnismäßig bescheiden. Er hebt seinen Blick und schaut in Richtung des im Schoß der Muttergottes thronenden Jesus-Knaben.

Am rechten Bildrand steht ein Ritter in goldglänzender Rüstung, ebensolchem Harnisch, mit einem auf seinen Rücken geschnürten, kunstvoll geschmiedeten Schild15 und einer Kreuzfahne an seiner Seite. Mit der rechten Hand scheint er seinen eigenartigen, schneckenhausförmigen Helm wie zum Gruß abzunehmen, mit der Linken weist er auf den knienden van der Paele neben sich, den er, wie sein Blick zeigt, dem Jesuskind anempfiehlt.

Bei diesem Ritter handelt es sich den Attributen Kreuzfahne und Rittertracht zufolge um den Heiligen Georg, Namenspatron van der Paeles.

Am linken Bildrand steht ein Bischof mit den Insignien seines Amts: Mitra, Bischofsstab – hier in Form eines goldenen Kreuzstabs mit klarsten Bergkristallquadern als Kreuzarme – und Bischofsring. Über einem kunstvoll verzierten Untergewand trägt er ein blaues Pluviale* aus schwerem Brokat, das mit Goldstreifen und Ornamenten verziert ist und an den Rändern breite Borten mit figürlichen Darstellungen von Heiligen aufweist. Über seinem linken Unterarm trägt er ein Manipel*, an den Händen Handschuhe und in seiner Rechten ein kleines Wagenrad mit fünf brennenden Kerzen.

Der Bischof ist aufgrund des Kerzenrads als der Heilige Donatian zu identifizieren, Patron der Brügger Hauptkirche, der nach der Legende als Sohn eines römischen Heerführers in Gallien von einem Diener in einen Fluss gestoßen und mithilfe eines hölzernen Rads mit fünf brennenden Kerzen gerettet worden sein soll, bevor er Bischof von Reims wurde († Ende 4. Jahrhundert).

Die eigentliche Handlung, die hier – vordergründig, auf einer ersten Ebene – dargestellt ist, besteht darin, dass der Heilige Georg Christus den Kanonikus Georg van der Paele anempfiehlt; dieser habe sich, so sagt es die Geste des Heiligen und so belegt es die Inschrift auf dem Rahmen, um die Kirche in besonderer Weise verdient gemacht. Die kleine Szene spielt sich im Sanctuarium* einer Kirche ab. Der Thron Mariens steht am Scheitelpunkt des Chorhaupts*, dort, wo gewöhnlich der Hauptaltar einer Kirche steht, und wird umgeben von im Halbrund stehenden, kostbaren Marmor- oder Porphyr-Säulen mit kunstvoll verzierten Kapitellen. Arkaden leiten über zu einem schmalen Chorumgang, wo ebenfalls Kapitelle mit aufwändigem Skulpturenschmuck zu erkennen sind, während die Chorumgangsfenster keine Schmuckelemente, sondern klare Butzenscheiben aufweisen.

Auffällig an dem gesamten Bild ist einerseits der Detailreichtum, andererseits der Verismus* der Materialdarstellung. Die Stoffe und Materialien werden so genau wiedergegeben, dass sie eine gleichsam haptische* Qualität bekommen. Teppich und Brokatmantel des Heiligen Donatian laden geradezu dazu ein, danach zu greifen, und selbst die unterschiedlichen Steinsorten wie das Metall der Rüstung des Heiligen Georg scheinen in ihrer Härte und Kälte unmittelbar spürbar zu sein.

Auffälligen Wert legte van Eyck nicht zuletzt auf die wirklichkeitsgetreue Darstellung von Perlen und Edelsteinen, die an zahlreichen Stellen im Bild zu sehen sind: Der rote Mantel Mariens ist an seinen Rändern ebenso von mit Perlen und Edelsteinen besetzten Borten gesäumt wie ihr blaues Untergewand. Sie trägt in ihrem blonden, lockigen Haar ein goldenes Diadem mit einer zentralen Brosche, auf der sechs kreisförmig angeordnete Perlen einen durchschimmernden Rubin umgeben. Auch Mitra und Chormantel einschließlich der großen Chormantelschließe des Heiligen Donatian sind mit meist in Reihen angeordneten Perlen- und Edelstein-Bordüren überreich verziert. Das Kreuz, das den Stab in seiner linken Hand bekrönt, trägt an seinen Armen, wie erwähnt, klare Bergkristallblöcke und ist darüber hinaus mit blaugründigen Steinen oder Email-Ovalen verziert.

Schließlich fällt die Detailgenauigkeit des figürlichen Skulpturenschmucks auf, der an den Armlehnen des Marienthrons, an den Kapitellen der Umgangssäulen und -pilaster* und an anderen, unauffälligeren Stellen zu sehen ist. So werden die Armlehnen bekrönt von den kunstvoll in Stein gehauenen Figurengruppen des Brudermords Kains an Abel16 auf der linken und von Simson mit dem Löwen17 auf der rechten Lehne. Unterhalb dieser Skulpturengruppen sind in mit gotischem Maßwerk* geschmückten Nischen kleine Figuren von Adam (links) und Eva angebracht, letztere mit einem Apfel in ihrer Hand.

Die Kapitelle stellen, so weit sie erkennbar sind, Szenen aus dem Alten Testament dar, die, wie auch die bereits genannten Skulpturen, als Präfigurationen, also als Vorausdeutung des Alten auf das Neue Testament dienen (Fachbegriff: Typologie*). Dazu zählen unter anderem das so genannte Isaak-Opfer18 und – vielleicht – das Zusammentreffen Abrahams und Melchisedeks.19 Auf diese Weise wird die Erfüllung der Prophezeiungen des Alten im Geschehen des Neuen Bunds verdeutlicht und damit die Tatsache, dass es sich bei Jesus tatsächlich um den Messias, den Sohn Gottes, handelt, mit dem die Welt enden und die Endzeit beginnen wird.

Der Skulpturenschmuck hat einerseits die Sünde und das daraus entspringende Leid des Menschen zum Thema, das dem theologischen Verständnis des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zufolge mit dem Sündenfall Adams und Evas in die Welt gekommen ist und seither das Leben der Menschen auf Erden prägt. Erst durch das Opfer Christi am Kreuz ist dem Menschen die Erlösung geschenkt, die durch den Schluss des ‚Neuen Bunds‘ in der Einsetzung der Eucharistie besiegelt wurde. Eben dies ist das andere Thema des Skulpturenschmucks, auf das unter anderem mit den Geschichten von der Begegnung Abra[ha]ms und Melchisedeks und des Isaak-Opfers hingedeutet wird. Christus thront auf dem Schoß Mariens. Aufgrund ihrer Jungfräulichkeit ist er von der Erbsünde frei. Seine Nacktheit steht für den paradiesischen Zustand des Menschen vor dem verbotenen Kosten vom Baum der Erkenntnis, das ihn erst dazu veranlasste, sich seiner Nacktheit zu...

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