Prolog
Auf die Begegnung mit einem zum Tode Verurteilten war ich nicht vorbereitet. Im Jahr 1983 war ich 23 Jahre alt, studierte Jura an der Harvard University und absolvierte in Georgia ein Praktikum. Ich war lernbegierig, aber unerfahren und fürchtete, dass ich der Situation nicht gewachsen war. Noch nie zuvor hatte ich einen Fuß in ein Hochsicherheitsgefängnis gesetzt, schon gar nicht in einen Todestrakt. Als ich erfuhr, dass ich dem Häftling ganz allein und ohne Begleitung eines Anwalts gegenübertreten würde, versuchte ich, mir meine Panik nicht anmerken zu lassen.
Der Todestrakt des Bundesstaates Georgia befindet sich in einem Gefängnis in Jackson, einer Kleinstadt weit draußen auf dem Land. Ich machte mich allein auf den Weg, und während ich auf der Interstate 75 von Atlanta nach Süden fuhr, schlug mir das Herz immer höher im Hals. Ich wusste so gut wie nichts über die Todesstrafe und hatte noch nicht einmal einen Kurs zur Strafprozessordnung belegt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von dem komplizierten Berufungsverfahren, mit dem die Todesstrafe angefochten werden muss und das ich später noch so gut kennenlernen sollte. Bei der Anmeldung zu diesem Praktikum hatte ich mir nicht allzu viel Gedanken darüber gemacht, dass ich einem Todeskandidaten begegnen könnte. Um ehrlich zu sein, wusste ich damals nicht einmal, ob ich überhaupt Rechtsanwalt werden wollte. Je näher ich dem Gefängnis kam, umso mehr war ich davon überzeugt, dass ich diesen Mann bitter enttäuschen würde.
Auf dem College hatte ich Philosophie studiert, und erst während des letzten Semesters war mir bewusst geworden, dass ich von der Philosophiererei nicht leben konnte. Auf der Suche nach einem Plan für die Zeit nach dem Bachelor verfiel ich auf den Gedanken, Jura zu studieren. Die meisten anderen Fächer schienen gewisse Grundkenntnisse vorauszusetzen, aber künftige Juristen mussten offenbar kein Vorwissen mitbringen. In Harvard hatte ich die Möglichkeit, Jura zu studieren und nebenher einen Studiengang in Public Policy zu absolvieren. Der Gedanke gefiel mir. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, aber ich wusste, dass es etwas mit dem Alltag der Armen, der Geschichte des Rassismus in den Vereinigten Staaten und dem Kampf um Gleichberechtigung zu tun haben sollte. Es sollte mit den Dingen zu tun haben, denen ich bis dahin begegnet war und die mich beschäftigt hatten, doch daraus ergab sich für mich noch kein klares Berufsbild.
Schon bald nachdem ich mein Jurastudium angefangen hatte, begann ich zu zweifeln, ob ich mich für das richtige Fach entschieden hatte. Ich war von einem kleinen College in Pennsylvania gekommen und überglücklich, diesen Studienplatz bekommen zu haben, doch am Ende des ersten Jahres hatte ich viele meiner Illusionen verloren. Die juristische Fakultät von Harvard konnte damals sehr einschüchternd wirken, zumal auf einen 21-Jährigen. Viele der Professoren lehrten nach der sokratischen Methode, das heißt, sie setzten ihre Studenten bohrenden und konfrontativen Verhören aus, was auf unvorbereitete Studenten extrem demütigend wirken kann. Die Seminare schienen mir sehr theoretisch und hatten nur wenig mit den Themen Rasse und Armut zu tun, derentwegen ich mich für das Jurastudium entschieden hatte.
Viele Studenten brachten weiterführende Abschlüsse mit oder hatten bereits in renommierten Kanzleien als Anwaltsgehilfen gearbeitet. Ich konnte keinerlei Referenzen vorweisen und fühlte mich meinen Kommilitonen in Sachen Berufs- und Lebenserfahrung weit unterlegen. Als einen Monat nach Semesterbeginn Großkanzleien Vorstellungsgespräche auf dem Campus führten, legten meine Kommilitonen ihre teuren Anzüge an und rangelten um Praktika in New York, Los Angeles, San Francisco oder Washington D. C. Mir war es zu diesem Zeitpunkt noch immer ein Rätsel, worauf wir uns eigentlich vorbereiteten. Vor Beginn meines Jurastudiums hatte ich einen Rechtsanwalt noch nicht einmal von Weitem gesehen.
Im Sommer nach meinem zweiten Semester machte ich ein Praktikum bei einem Jugendstrafprojekt in Philadelphia. Abends belegte ich einen Mathematikkurs für das Public-Policy-Studium, das im September beginnen sollte. Aber auch zu diesem Studiengang konnte ich keine rechte Beziehung herstellen. Im Lehrplan waren viele Mathematik- und Statistikkurse vorgesehen, es ging vor allem um Effizienzsteigerung und Kostenreduzierung, und nicht darum, wofür man das Geld denn eigentlich ausgeben wollte. So anregend die Kurse zur Entscheidungstheorie oder Ökonometrie waren, so wenig konnte ich mit ihnen anfangen. Doch dann wurde mit einem Mal alles klarer.
Außer der Reihe bot die juristische Fakultät einen einmonatigen Intensivkurs zum Thema Rasse und Armut an. Die Dozentin war Betsy Bartholet, eine ehemalige Anwältin der legendären Bürgerrechtsbewegung NAACP (National Association for the Advancement of Colored People – Nationale Vereinigung für die Förderung farbiger Menschen). Anders als die meisten anderen Seminare führte uns dieser Kurs aus dem Campus heraus und für einen Monat in ein Praktikum bei einer sozialen Einrichtung. Begeistert meldete ich mich an, und so kam es, dass ich Ende Dezember 1983 im Flugzeug nach Atlanta saß, wo ich einige Wochen bei einer Organisation mit dem Namen Southern Prisoners Defense Committee (SPDC – Komitee zum Schutz der Häftlinge in den Südstaaten) hospitieren sollte.
Weil ich mir keinen Direktflug nach Atlanta leisten konnte, machte ich in Charlotte in South Carolina Zwischenstation. Dort lernte ich Steve Bright kennen, den Direktor des SPDC, der nach den Weihnachtsfeiertagen zurück nach Atlanta flog. Steve war Mitte dreißig und strahlte eine Leidenschaft und Selbstsicherheit aus, die das Gegenteil meiner eigenen Richtungslosigkeit zu sein schien. Er war auf einem Bauernhof in Kentucky aufgewachsen und nach dem Jurastudium in Washington D. C. gelandet. Danach war er zunächst ein glänzender Pflichtanwalt geworden und hatte erst vor Kurzem die Stelle als Leiter des SPDC angenommen, das sich die Unterstützung von Todeskandidaten in Georgia zur Aufgabe gemacht hatte. Anders als viele meiner Professoren schien er seine Überzeugungen in seiner Arbeit umzusetzen. Bei unserer ersten Begegnung umarmte er mich herzlich und fing sofort ein Gespräch an, das erst endete, als wir in Atlanta landeten.
»Todesstrafe ist eine Strafe für die Armen«, erklärte er mir während unseres kurzen Flugs. »Wenn es Leute wie dich nicht gäbe, könnten wir den Todeskandidaten nicht helfen.«
Ich war fast ein wenig erschrocken, weil er zu glauben schien, dass ich ihm helfen konnte. Er erklärte mir das Thema Todesstrafe in einfachen, aber überzeugenden Worten, und ich hing an seinen Lippen, völlig gefesselt von seiner Hingabe und Ausstrahlung.
»Ich hoffe nur, du erwartest nicht allzu viel«, sagte er.
»Keine Angst«, versicherte ich ihm. »Ich bin dankbar für die Chance, für euch arbeiten zu können.«
»Ich glaube, es gibt nicht viele Leute, die die Arbeit bei uns als ›Chance‹ bezeichnen würden. Wir leben ziemlich einfach, und das Pensum ist gewaltig.«
»Kein Problem.«
»Wobei ›einfach‹ das falsche Wort ist. ›Arm‹ wäre wohl treffender. Wir wursteln uns so durch, wir sind auf die Unterstützung von Fremden angewiesen und wissen nie, wie es weitergeht.«
Ich sah ihn besorgt an, und er lachte.
»Das war nicht ernst gemeint. Nicht so ganz.«
Er wechselte das Thema, doch es war klar, dass er sich mit Leib und Seele für die Todeskandidaten und die Verbesserung der Haftbedingungen engagierte. Es war sehr motivierend, jemandem zu begegnen, der so sehr für seine Arbeit lebte.
In diesem Winter arbeiteten nur wenige Rechtsanwälte für das SPDC. Die meisten von ihnen waren Strafverteidiger und aus Washington D. C. nach Georgia gekommen, weil hier ein immer größerer Notstand herrschte: Todeskandidaten hatten keine Anwälte. Diese Juristen – Männer wie Frauen, Schwarze wie Weiße – waren sämtlich Mitte dreißig, und ihr kollegialer Umgang verriet, dass sie von ihrer Sache überzeugt waren und gemeinsam die damit verbundenen Anstrengungen auf sich nahmen.
Nachdem der Vollzug der Todesstrafe einige Jahre lang ausgesetzt gewesen war, wurde sie im tiefen Süden nun wieder vollstreckt, und die meisten Menschen in den überfüllten Todestrakten hatten keinen Rechtsbeistand. Die Sorge war groß, dass bald Menschen hingerichtet würden, ohne dass ihr Fall noch einmal durch fähige Juristen überprüft worden wäre. Täglich erhielten wir panische Anrufe von Menschen, die keinen Anwalt hatten und deren Hinrichtungsdatum näher rückte. Noch nie zuvor hatte ich derart verzweifelte Stimmen gehört.
Während meines Praktikums waren alle ausgesprochen freundlich zu mir. Ich fühlte mich sofort zu Hause. Die Büros des SPDC befanden sich in der Innenstadt von Atlanta im Healey Building, einem sechzehnstöckigen neogotischen Gebäude, das Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet worden war und wegen seines schlechten Zustands kaum noch Mieter hatte. Ich teilte mir einen überfüllten hufeisenförmigen Schreibtisch mit zwei anderen Anwälten und leistete Sekretariatsarbeit, das heißt, ich nahm Anrufe entgegen und recherchierte. Ich hatte mich kaum eingerichtet, als Steve mich bat, einen Todeskandidaten zu besuchen, weil keiner der Anwälte Zeit hatte. Er erklärte mir, dass der Mann seit mehr als zwei Jahren in der Todeszelle sitze und er noch...