Ein Shit- und ein Lovestorm
U-Bahn-Geruckel. Andere lesen Zeitung oder Push-Nachrichten – ich Kommentare. Es gibt zwei Fronten. Auf der einen Seite Menschen, die nicht an die Existenz Gottes glauben können wie zum Beispiel der Leser mit dem Nickname Gottmagnus. Er beginnt seine Argumentation mit einer persönlichen Erfahrung – seiner Diabeteserkrankung:
(...) besonders schön sind die Vergiftungssymptome, die einem das Überwesen, der Gott, antut, es (ist) so richtig schön, mehrere Wochen lang zu kotzen und halb tot auf einem Sofa zu liegen und darauf zu warten, dass man an einer Ketonvergiftung stirbt oder verhungert, weil der große Gott es gut findet, dass das Immunsystem lebenswichtige Zellen tötet.
Ein Klassiker. Wenn es einen Gott gäbe, warum lässt er dann so viel Leid zu? Ich blicke in griesgrämige Gesichter um mich herum. Tja, warum?
Gottmagnus hat scheinbar aus seinen Erfahrungen gelernt. Für ihn ist Gott entweder ein Monster oder es gibt ihn nicht. Mein Handy vibriert wieder. Ein neuer Kommentar, diesmal von Sabine. Wieder eine Leidensgeschichte, doch mit gegenteiliger Interpretation:
Seit 28 Jahren glaube ich an Jesus Christus und lebe bewusst mit ihm. Er hat mich von Essstörungen befreit, und ich habe immer mehr inneren Frieden bekommen. Das ist so entlastend. Ihn zu kennen ist der größte Reichtum meines Lebens.
Natürlich sind Essstörungen und Diabetes nicht das Gleiche, doch ist der Kern nicht ähnlich? Zwei Menschen haben Leid erlebt, und beide kommen zu einer vollkommen unterschiedlichen Interpretation ihres Schicksals. Hätte Gottmagnus mit einem anderen Blickwinkel die Tatsache, dass er heute trotzdem noch lebt, nicht auch einem Gott zuschreiben können? Hätte Sabine nicht ebenso fragen können: Warum lässt ein Gott so ein furchtbares Leiden wie Essstörungen zu? Hätte bei gleichen Lebensumständen Gottmagnus nicht ebenso zu einem glühenden Verfechter Gottes werden können und Sabine zu einer großen Kritikerin?
Der Blickwinkel entscheidet und offensichtlich haben Gottmagnus und Sabine eine ziemlich unterschiedliche Sicht auf die Welt. Woher kommt die Brille, die Gottmagnus in Gott – ein Monster der Christen – und Sabine – den größten Reichtum ihres Lebens – sehen lässt?
Gleich nach der Arbeit beginne ich, in Büchern nachzuschlagen und mit Wissenschaftlern zu sprechen. Man kann diese Frage sicherlich aus vielen Perspektiven beantworten, soziologische, psychologische, theologische Theorien dazu finden – und je nachdem vielleicht auch unterschiedliche Antworten. Wie gesagt: Eine für mich neue Perspektive bietet ein kurzer Ausflug in die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie und der Neurowissenschaften. Schließlich werden sie gerne als Totschlagargument in der Gottes-Diskussion verwendet. Allerdings auf beiden Seiten des Stammtisches.
Glauben ist menschlich: Religiosität steckt auch in den Genen
Ich treffe den Religionswissenschaftler Michael Blume. Zusammen mit Rüdiger Vaas hat er das Buch Gott, Gene und Gehirn1 geschrieben, das fand ich interessant. Es gibt Abendessen bei ihm zu Hause. Hühnchen. Kein Schwein. Blumes Frau ist Muslima. Er Christ. Das passe wunderbar, meinen sie, beide sind religiös. Jeder auf seine Art. Unterschiedliche Einstellungen zur Religion an sich seien komplizierter, findet Blume. Seine Antwort auf meine Frage ist so einfach wie einleuchtend. Gottmagnus und Sabine haben wahrscheinlich ein unterschiedliches Level an Religiosität und Spiritualität. Und: Einfluss darauf hat nicht nur ihre Umwelt, sondern sie haben die Disposition dazu wahrscheinlich geerbt. Bereits mit dem Eindringen der Samenzelle in die Eizelle wird zu etwa 40 bis 60 % (je nach wissenschaftlicher Studie)2 in uns angelegt, wie religiös und spirituell wir sein können.
Ich lege mein Hühnchen ab. Echt? Das klingt sehr mechanistisch, fast determinierend. Sind wir zum religiösen Glauben also vorbestimmt?
Blume lacht. Natürlich nicht. Wie und ob wir diese Disposition leben, prägt ganz entscheidend auch unsere Umwelt. Wie bei anderen Persönlichkeitsmerkmalen auch: im Wechselspiel mit unseren Genen.
Die Oma liest aus der Kinderbibel oder eben dem Märchenbuch vor; Eltern führen ihre Kinder in die Welt der Kirchen, Moscheen, Synagogen, Caféhäuser oder Konzerthallen; mit den Freunden entdeckt man Taizé-Lieder, buddhistische Mantras (mit oder ohne unterlegtem Beat) oder eben Dark Wave und Minimal Dubstep. Blume wächst konfessionslos auf, seine Frau als muslimische Türkin.
Aber: Ob man im Gottesdienst ehrfürchtig zum Altar blickt und sich vom Klang der Orgel tief im Inneren berührt fühlt – oder ob man die Minuten zählt, bis man endlich wieder raus darf aus der kalten Kirche, sei als Disposition schon in unseren Genen, sagt Blume. Er vergleicht Religiosität daher gerne mit Musikalität oder Kreativität. Genauso, wie nicht jeder mit Leichtigkeit Geige spielen lerne, seien Menschen auch in Sachen Religiosität unterschiedlich begabt – oder sollte man sagen, unterschiedlich vorbelastet? Die konkrete Umsetzung, also ob jemand dann tatsächlich Geigenunterricht nimmt oder die Kirche für sich entdeckt, ist eine andere Frage. Wir berichten auf unserem Blog, und Leser F.G. präzisiert:
Vielleicht kann man es mit Sex vergleichen. Sexualität wird von verschiedenen Menschen, u. a. sicherlich genetisch bedingt, unterschiedlich intensiv erlebt. Ist der Intensitätslevel sehr hoch, ist sicherlich zumeist auch das tatsächliche Sexleben sehr ausgeprägt, in welcher Weise auch immer, was sich sicher auch bei getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen nachweisen lässt. Ich habe mir sagen lassen, dass bildgebende Verfahren praktisch keine Auskunft geben, ob jemand Sex nur fantasiert oder tatsächlich Sex mit einem Partner hat. Die Erregungsmuster seien gleich. Was ich sagen will: Dass bestimmte Hirnareale bei religiösen Vollzügen aktiviert erscheinen, sagt defacto nichts darüber, ob ein tatsächlicher Bezug zu Gott da – bzw. nicht da – ist …
Das Beispiel passt, denke ich mir. Nur mit einem wesentlichen Unterschied: Unsere Gene haben wohl einen gewissen Einfluss auf unsere Partnerwahl – jedoch nicht auf die Wahl der Religion oder die Art, wie und ob wir die in uns angelegte Religiosität und Spiritualität leben. Es gibt kein Christen- oder Muslim-Gen, genauso wenig wie es ein Gottes-Gen gibt. Woran wir konkret glauben – ob an Jesus, Allah oder nichts – wird dann vor allem von unserer Umwelt in Verbindung mit unserem bewussten Denken geformt.3
Herausgefunden haben Wissenschaftler die genetische Grundlage des religiösen Glaubens mit sogenannten Zwillingsstudien, zum Beispiel an der University of Minnesota. Ein Doppeltes-Lottchen-Setting: Eineiige Zwillinge wachsen getrennt auf, teilweise in sehr unterschiedlichen Milieus. Jahrzehnte später treffen sie sich wieder. Wie auch bei Erich Kästners Geschichte wussten viele angeblich nicht einmal von der Existenz des anderen. Das überraschende Ergebnis: Unabhängig von den äußeren Einflüssen ihrer Sozialisation ähneln sich ihre Charaktereigenschaften vor allem im Hinblick auf ihre Religiosität. Andere Wissenschaftler kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Nicholas Martin, Lindon Eaves und Katherine Kirk etwa. Sie befragten über 3.000 australische Zwillinge und kamen zu dem Schluss: Etwa die Hälfte der Religiosität und Spiritualität der Zwillinge wird von ihren Genen bestimmt.4 Es könnte also sein, dass vor allem Blogleserin Sabine von ihren Eltern viel Religiosität und Spiritualität geerbt hat. Vielleicht kann sie daher besonders viel mit den Geschichten über Gott anfangen, die ihr von ihrer Umgebung angeboten werden?
Plötzlich fallen mir einige Kommentare auf unserem Blog auf, die diese These unterstützen könnten (auch wenn ich natürlich nicht genug über den eigentlichen Hintergrund weiß). Die zum Islam konvertierte Hanan:
Meine Mutter hat auch im Krieg ihren Vater verloren und musste noch weitere schlimme Sachen miterleben und durchleiden. Und letztendlich ist sie daran zerbrochen. Sie hat immer an der Existenz Gottes gezweifelt und Religion für Opium fürs Volk gehalten. (Was sicherlich auch an einer Grundschulzeit unter den Nazis und Mittelschule in der DDR lag.) Ich hab schon als kleines Kind das Wirken Gottes in mir gespürt, und ich denke, wenn sie sich auf Gott hätte stützen können, wäre sie nicht am Leben verzweifelt.
Was wäre, wenn es nicht nur um die Mittelschule in der DDR ginge, sondern Hanan einfach schon von ihrer Veranlagung her mehr Religiosität in sich trägt als ihre Mutter?
Wie sehr Religiosität aus einem sehr individuellen Bedürfnis und Gefühl heraus entstehen kann – auch in einer areligiösen Umgebung – zeigt auch die Erfahrung der in Serbien groß gewordenen Katarina F....