2. Welt und Außerwelt:
Grenze, Passage, Zwischenraum
Der Tod bleibt für den Menschen stets ein Mysterium. Die Tatsache, dass der Mensch zwar sterblich ist, aber sein irdisches Dasein, sein Fühlen, sein Denken und Handeln weiterwirken, hat weltweit eine große Vielfalt von Transzendenzvorstellungen hervorgebracht.
Fast alle Kulturen kennen einen Ort in einer anderen, dem menschlichen Auge verborgenen Welt, an dem sich die Geister der Verstorbenen aufhalten. Unterschiedlich ausgeprägt sind hingegen die Beschaffenheit und die Lage dieses Ortes. Es kann sich um einen umgrenzten Raum handeln, ein Totenreich, in dem feste Regeln herrschen und in dem die guten von den bösen Seelen getrennt sind. Die Totenseelen oder die Geister der Ahnen können aber auch zu Dämonen und Naturgeistern werden und als Teil der belebten Natur in ihr weiterwirken. «Die Vorstellung von einem Jenseits», schreibt der Soziologe Max Weber, «ist im Keim mit der Entwicklung der Magie zum Seelenglauben gegeben. Zu einem besonderen Totenreich aber verdichtet sich die Existenz der Totenseelen keineswegs immer.» (Weber 1980: 318f.)
Zwischen Lebenden und Toten besteht zumeist eine unsichtbare Barriere. Der Einzug der vom Körper abgeschiedenen Seele in einen verborgenen lichten Raum der Glückseligkeit oder in die dunklen Kammern der Verdammnis ist häufig von Prüfungen begleitet, welche die Seele bestehen muss, bevor sie ihren Platz in der Ewigkeit einnehmen kann. Der Tod erscheint als eine Übergangszeit, in der über das irdische Leben des Verstorbenen Bilanz gezogen wird.
Das ägyptische Totengericht aus dem dritten vorchristlichen Jahrtausend veranschaulicht eindrucksvoll eine solche Prüfung. Es besteht aus zweiundvierzig Richtern, vor denen die Totenseele eine Erklärung abzugeben hat. Diese Vorstellung entwickelte sich seit dem Alten Reich weiter und wurde in der Pharaonenzeit durch die Idee vom Wiegen des Herzens ergänzt. Die Totenseele wird auf die Schwere der Schuld, die ihr anhaftet, geprüft, und das Herz des Toten gegen eine Feder aufgewogen. Ist es leicht genug, dann ist die Wahrheitsprüfung bestanden und die Seele kann ins Jenseits passieren. Ist es aber zu schwer, dann wird sie mit einem zweiten, endgültigen und schrecklichen Tod bestraft und gefräßigen Dämonen übergeben.
Wenn sich die Seele vom Körper löst und in einen anderen Zustand übergeht, dann durchdringt sie die Scheidewand, die das Reich der Lebenden von dem der Toten trennt. Materie und Körper sind an das irdische Leben gebunden, träge, unvollkommen, beladen. Die Seele hingegen ist leicht, ätherisch, frei. Im heutigen Christentum herrscht die Vorstellung, dass am Tage der Auferstehung Jesu Christi, dem Jüngsten Gericht, die Toten wieder lebendig werden und sich vor Gott verantworten müssen. Die, die im Buch des Lebens eingeschrieben sind, werden ins Himmelreich eingehen, die anderen, die Sünder, werden auf ewig in die Hölle verdammt. Das Jüngste Gericht ist ein endzeitliches Weltgericht. Im Christentum gibt es seit dem Mittelalter – auf theologischen Überlegungen gründend, jedoch nicht biblisch fundiert – auch die Vorstellung von einem Partikulargericht, bei dem der Erzengel Michael die Seelenwaage hält. Hier wird entschieden, ob die Seele des Verstorbenen in den Himmel, die Hölle oder das im Katholizismus verankerte Fegefeuer kommt. Die Auferstehung des Leibes beim Jüngsten Gericht spielt keine Rolle.
Wer stirbt und die Welt verlässt, überschreitet eine Grenze, durchmisst eine Passage. Es kann aber auch Gründe dafür geben, dass eine Totenseele auf die Erde zurückkehrt. In vielen Kulturen gelten wiederkehrende Seelen oder Geister als gefährlich, und die Begegnung mit ihnen kann Unheil oder gar Krankheit bringen.
Über die Beschaffenheit der Außerwelt, in der sich die Geister der Verstorbenen aufhalten, gehen die Vorstellungen weit auseinander Diesen Ort als «Jenseits» zu bezeichnen, kam im Zuge der Säkularisierung der Weltbilder im ausgehenden 18. Jahrhundert auf. Das Jenseits ist eine Anderwelt, die nicht mehr in die streng getrennten Bereiche von Himmel und Hölle unterschieden ist, wie sie das Christentum vorsah, sondern einen verborgenen, okkulten Raum markiert. Die Seelen der Verstorbenen können sich in diesem Raum aufhalten und aus ihm wieder heraustreten, ohne den Menschen gefährlich zu werden, wie es in traditionellen Vorstellungen der Fall war. Neu war im 18. Jahrhundert auch der Gedanke, die Jenseitsschranke technisch durchdringen zu können, indem über mediale Kontakte regelrecht Leitungen und Kommunikationswege freigelegt werden.
Die Initiale «N» zeigt ein «Partikulargericht», das jedem Verstorbenen unmittelbar nach dem Tod bevorsteht. Der Erzengel Michael wägt die Seelen. Buchmalerei aus dem Kloster Münsterlingen, Konstanz 1487.
Der Spiritismus und der Mediumismus, die im 19. Jahrhundert in Europa und den USA aufkamen, haben das esoterische Denken nachhaltig beeinflusst. Sie bilden einen wichtigen Strang neuzeitlicher Transzendenzvorstellungen. Die Grenzen zwischen Philosophie, Religion, Mythologie und Okkultismus sind bei den Todes- und Jenseitsvorstellungen unserer Zeit besonders schwer zu ziehen. Hinzu kommen die wissenschaftlichen Untersuchungen über den Tod, die sich vor allem den körperlichen Vorgängen zuwenden. Da es sich aber um ein umfangreiches Geschehen handelt, an dem Körper, Geist und Seele beteiligt sind, hängen die Vorstellungen davon, was beim Sterben geschieht und ob es ein Weiterleben nach dem Tode gibt, vom religiösen oder philosophischen Bekenntnis ab. Oft sind sie von neuen Weisheitslehren und Weltanschauungen geprägt, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa herausgebildet haben.
Korrespondenz mit den Toten: Spiritismus und Medien
Auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise liegen in den steinernen Mausoleen manchmal Visitenkarten wie jene von «Serge», der sich den Friedhofsbesuchern als «Sorcier, Médium» vorstellt. Serge ist nicht nur Zauberer und Medium, sondern auch «Voyance», Hellseher. Er bietet zwei Dienste an: Communication avec les morts und Sorcellerie luciferienne, gibt also vor, mit den Toten sprechen zu können und teuflische Magie zu betreiben. Serge hat eine Pariser Telefonnummer, unter der er am Nachmittag zu erreichen ist. Er akzeptiert Kreditkarten und versteht sich als magischer Berater. Serge hofft, seine Kunden auf eben jenem Friedhof zu finden, auf dem der Begründer des modernen europäischen Spiritismus, der Franzose Allan Kardec (1804–1869), begraben liegt. Blicken wir auf die Biographie Kardecs, einer schillernden Figur, erkennen wir sogleich, welche esoterischen Strömungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts unter europäischen Intellektuellen verbreitet waren und beträchtliche Strahlkraft in weitere gesellschaftliche Kreise entfalteten.
Der Pädagoge und Spiritist Kardec, eigentlich Léon Hyppolite Dénizard Rivail, übte großen Einfluss auf die Entwicklung des modernen Spiritismus aus. Er erläutert in seinem Hauptwerk Le Livre des Esprits (1857) die «Grundlagen der spiritistischen Lehre». Die Philosophie Spiritualiste bilde das Gegenstück zum vorherrschenden Materialismus, behauptete Kardec, und beziehe die Seele und das Unsichtbare in die reale Wahrnehmung des Menschen ein. Alsdann verfasste er eine Reinkarnationslehre, die allerdings in spiritistischen Kreisen umstritten blieb.
Reinkarnation oder Seelenwanderung bezeichnen die Wiedergeburt der durch Laster beschwerten Seele nach dem körperlichen Tod in einer neuen Existenz. Diese Idee stammt ursprünglich aus dem Hinduismus und Buddhismus, war aber auch in der jüdischen Mystik des Mittelalters gegenwärtig. Dem Christentum und Islam ist sie ursprünglich fremd, obwohl es inzwischen auch christliche Reinkarnationsvorstellungen gibt. In der Antike war sie hingegen Bestandteil einiger philosophischer Lehren wie der des Pythagoras oder Platon. Mit dem Neuplatonismus und dem frühneuzeitlichen Einfluss der Kabbala auf westliche Weltanschauungslehren kehrte die Reinkarnation ins neuzeitliche Denken zurück. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie durch Aneignung buddhistischer und hinduistischer Denkweisen ein wichtiges Element der Esoterik, nicht nur durch die Schriften Allan Kardecs, sondern auch durch den Einfluss theosophischer Gesellschaften sowie durch Rudolf Steiner und die Anthroposophie.
Der Spiritismus, vor allem das Tischerücken, kam in den 1850er Jahren aus den USA nach Europa. Eine Figur wie Allan Kardec bewegte sich in einem gedanklichen Umfeld, das sich als breite transatlantische Bewegung gegen das materialistische Denken des technisch-rationalen Industriezeitalters formierte und bereits im 18. Jahrhundert in den Lehren des «Sehers» Emanuel Swedenborg (1688–1772) und der Fluidallehre des Arztes Franz Anton Mesmer (1734–1815) seine Vorläufer hatte. Franz Anton Mesmer sprach von der Existenz des tierischen Magnetismus, eines Erregungspotentials aus Bio-Energie, das er in allen Lebewesen vermutete. Diese Energieart konnte seinen Beobachtungen nach durch Handauflegen und andere Übertragungswege zu Heilzwecken genutzt werden. Angeregt durch solche Einflüsse entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Gedanke, man könne Kontakt mit...