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Organisation und Welterschließung

Dekonstruktionen

AutorGünther Ortmann
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl334 Seiten
ISBN9783531909219
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Organisationen sind Veranstaltungen der Welterschließung. Ihr Sinn ist die organisierte Fest-Stellung von Bedeutungen und Handlungsweisen angesichts unabstellbarer Mehrdeutigkeit und Veränderlichkeit. Kann angesichts dessen der Diskurs um die so genannte Postmoderne die Organisationstheorie bereichern? Das Buch gibt eine entschiedene Antwort, nicht nur programmatisch, sondern durch dekonstruktive Analysen der wichtigsten Organisationsprobleme. Themen sind:
• der Diskurs um die Postmoderne zwischen Habermas, Giddens und Derrida;
• organisationale Regelwerke und die Notwendigkeit ihrer Verletzung in der Anwendung;
• die Paradoxien der Entscheidung;
• die Ressourcen und ressourcenorientierte Ansätze des strategischen Managements;
• Vertrauen, Geld und Macht als Medien der Koordination und Kooperation;
• die Evolution der Kooperation.



Dr. Günther Ortmann ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

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Leseprobe
4 Strukturation und Dekonstruktion (S. 16)

Tatsächlich verfolgt Derrida keine, oder kaum, sozialwissenschaftliche Interessen. Seine Insistenz aber auf der „dissemination", der nicht stillstellbaren Vervielfältigung und Zerstreuung der Bedeutung von Texten, brauchen wir nur auf die allseits doch völlig unbestrittene Sinndimension allen sozialen Handelns zu beziehen (Ricœur 1978), um die Relevanz seiner Arbeiten und Denkfiguren für die Organisationstheorie zu sehen.

Organisation können wir ja geradezu als die Arbeit an der Fest-Stellung von Bedeutungen (auch: der Bedeutung des Handelns) auffassen – mit Derrida wäre zu ergänzen: eine immer notwendige und niemals gelingende, niemals zu Ende zu bringende Arbeit. Organisation ist das organisierte Ringen um die Absorption von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, um die Entfaltung, Bearbeitung, Verschiebung und oszillierende Veränderung von Paradoxien, mit der Zuflucht zu immer nur vorläufigen „Lösungen" mit eingebauten Folgeproblemen.

Wir setzen auf „rule following", aber handeln uns den Starrsinn der Bürokraten ein und sagen dann: „First, break all the rules" (Buckingham, Coffman 1999), wir puffern den technischen Kern einer Organisation, aber sehen uns mit dann doch einsickernder Kontingenz aus der Umwelt in den technischen Kern konfrontiert, wir setzen auf Hierarchie statt auf Markt, aber in Gestalt von profit centers, intrapreneurship oder Unternehmungsnetzwerken kommt es irgendwann zu einem re-entry des Marktes in die Unternehmung.

So etwas heißt bei Derrida: Différance, eine zugleich aussetzende, verschiebende, aufschiebende und verändernde Kraft. Man lese Erhard Friedbergs Buch über den beständigen Aufschub, das Aussetzen und die Veränderung organisationaler Regelwerke (Friedberg 1995, dazu: Ortmann 2003). Das alles endet, auch bei Derrida, nicht in einem Bedeutungsrelativismus. Es platziert aber die Figur des Wandels – der beständigen Différance organisationaler Strukturen – im Innersten allen Geschehens in Organisationen.

Wer sich an Derridas Rekurs – Reduktion? – auf „den Text" stört, bedenke: in der Rede vom Kontext haben wir alles Handeln, alles Kommunizieren, alles Interpretieren und jede Organisation längst selbst unter die Metapher des Textes gebracht. Dito mit der Rede vom „pretext" – Vorwand –, der ja von Meyer/Rowan bis Brunsson eine so dominante Rolle in der neo-institutionalistischen Organisationstheorie spielt.

Der gesamte Kontext-Determinis- mus der Kontingenzforschung hätte sich vermeiden und ein Vierteljahrhundert situative Organisationsforschung einsparen lassen, wäre nur von Uexkülls Umwelt- und Batesons Kontext-Konzept zur Kenntnis genommen worden. Das Gleiche gilt von den wirkmächtigen deterministischen Versionen der evolutionstheoretischen Organisationsforschung, etwa des population-ecology-Ansatzes. Damit aus dem Rekurs auf den Text keine Reduktion wird, brauchen wir einen Begriff der Ressourcen und des Eingreifens in die Welt, den ich – durchaus mit Derrida – im 11. Kapitel entwickle.

Organisationen operieren zur Fest-Stellung von Bedeutung mit dem, was Gregory Bateson (1983, 374 ff) „Kontext-Markierung" genannt hat. Hamlet spricht zu Ophelia über Selbstmord, aber wir rufen nicht die Polizei. Eintrittskarten, Vorhang, Sitzordnung und viele andere Zeichen markieren den Kontext. Organisationsanweisungen, Unternehmungsphilosophien, strategische Planungskonzepte, Gratifikationen zum Beispiel sind auch Kontext- Markierungen (Bateson 1983, 168).Mehr noch: Die Anwendung von Regeln, die Einhaltung von Gesetzen impliziert, einigermaßen paradox, ihre situative Aussetzung, Verletzung, Modifikation und Rekreation.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort zur 2. Auflage10
Organisation und Welterschließung.11
1 Tour d’horizon: Über die Riesen, auf deren Schultern wir stehen, und über die Fähigkeit des Erstaunens11
2 Organisationssoziologie und Theorie der Unternehmung14
3 Mehrdeutigkeit15
4 Strukturation und Dekonstruktion16
5 Welterschließung und Verriegelung17
I Dekonstruktion25
1. Wiedergänger der Moderne Derrida, Giddens und die Geister der Aufklärung27
1 Déjà vu27
2 Finish Move29
3 Schachteln in Schachteln30
4 Reflexivität und Rekursivität32
5 Strukturation und Organisation37
2. Post mortem? Nachrufe auf die Postmoderne Eine Polemik40
1 Fünf Topoi eines common sense40
2 Sokal‘s hoax42
Postscriptum, 200745
3 Post mortem?47
4 Im Reich des Bösen und des Guten: Mark Lilla52
5 Quiescant in pace?57
3. Derrida, Habermas und der Strudel der Geschichte59
1 Kannitverstan59
2 Noch ein Déjà vu61
3 Ein institutionalisierter Denkstil63
4 Der Strudel der Geschichte65
5 Bedeutungsrelativismus?68
6 Einebnung des Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur? Performative Selbstwidersprüche?70
7 Noch ein Gattungsunterschied: „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“73
8 Warum es sich lohnt, Derrida zu lesen – sogar, um Organisationen besser zu verstehen74
4. „Postmodernes“ Denken und neoliberale Politik Habermas in organisationstheoretischer Lesart85
1 Freihandel und „Postmoderne“85
2 Universalismus, Relativismus, Neoliberalismus90
5. Deconstructing Tony Strukturation und Dekonstruktion96
1 „... this threefold connotation of différance“97
2 Die anwesende und abwesende Struktur100
3 „... dead traditions of thought“105
II Organisation113
6. Organisation und Dekonstruktion.115
1 Ein Hammer, ein Nagel und ein Pudding115
2 Anything goes?117
3 Organisation und Dekonstruktion – state of the art120
4 Entscheidungsprozesse – eine dekonstruktive Analyse122
5 Die Logik des Supplément127
6 Das eingeschlossene Ausgeschlossene der Organisation139
7 Zonen tolerierter Differenz141
7. Buridans Esel verhungert nicht Notiz zur Paradoxie des Entscheidens145
8. „Für Unbefugte verboten“ Über nahezu, aber nicht vollkommen tautologische Regeln.148
9. Rollentheorie: Eine dekonstruktive Denkbewegung150
10. Verträge, Standards, Private Governance Regimes Die Différance der Globalisierung und die Globalisierung der Différance162
1 Soft Law Corporate Governance, Private Governance Regimes, Compliance162
2 Contracting worlds172
3 Standardisierung und Selbstorganisation179
11. Eine stille Produktion Über Ressourcen und ihre Veränderung im Gebrauch185
1 Wildern. Die Produktion von Gebrauchsweisen187
2 Technik und Anwendungskontexte. Rekursionen193
3 Produktion und Konsumtion195
4 Trajektorien des Gebrauchs197
5 Erzeugung und Erzeugnis199
6 Der Zement der Gesellschaft. Ressourcen und Regeln Regeln und Regelmäßigkeiten201
7 Ressourcen, Organisation und strategisches Management206
12. Organisationen als Placebo-Responder211
1 Gute Besserung. Consulting als Placebo211
2 Placebo als Metapher214
3 Beispiele215
4 Organisationen als Placebo-Responder218
13. Organisationen und die Fabrikation von Identität219
1 Etwas als etwas – die Identität von Dingen219
2 Menschliche Identität225
3 Die Identität von Organisationen229
4 Identitätsfabrikation in und durch Organisationen236
14. Richtigstellung, betreffend die Realität Zu Dirk Baeckers Rezension des Buches „Als Ob“239
III Evolution und Kooperation Vertrauen, Geld, Macht243
15. Die Ehre der Prizzis, oder: Vertrauen ist nicht der Anfang von allem Über Vertrauen und Relianz245
1 Relianz, Vertrauen und die Ehre der Prizzis245
2 Der zu clevere Agent252
3 Pascals Wette253
4 Vertrauen ist nicht der Anfang von allem254
5 Zeugenschaft258
16. „... die Natur, rot an Zähnen und Klauen“ Notiz über Evolution, Konkurrenz und Kooperation259
17. Spandrillen der Organisation263
18. „... die mysteriöse Einheit der Operation“ – Für und wider Niklas Luhmann.268
19. „... ein neues Amalgam von Geld und Macht“ Briefwechsel mit Niklas Luhmann.276
20. Anything goes. Rien ne va plus. Organisationswelten als Sinnprovinzen279
1 Eindeutigkeit, Mehrdeutigkeit279
2 Anything goes. Rien ne va plus.281
3 Eine Welt, viele Welten?284
21. „Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“?289
1 Parsifal289
2 Sisyphos. Ein Happy End292
Literatur295
Personenregister317
Sachregister323

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