Wozu Linguistik?
Sprachfähigkeit gehört zum Ureigensten des Menschen. Bereits die griechischen Philosophen, auf der Suche nach einer Wesensdefinition des Menschen, haben ihn als «zoon politikon» begriffen, als ein soziales Lebewesen, das mit seinesgleichen sprachlich verkehrt. Der Mensch – das «zoon logon echon», das miteinander sprechende Tier.
Kein anderes Lebewesen kann, was jeder Mensch aufgrund seiner angeborenen Sprachfähigkeit bemerkenswert schnell erlernt: Eingebunden in kommunikative Lebensformen, vermag er lautliche Geräusche zu formen, die beim Ausatmen von Luft entstehen. Das flüchtigste Material, das man sich denken kann, der Atem, wird benutzt, um Empfindungen zu äußern, Gefühlen einen sprachlichen Ausdruck zu verleihen und Gedanken anderen mitzuteilen. Wir können den Menschen im Menschen erkennen, wenn wir seine Sprache verstehen.
Bereits auf der elementaren Ebene der Lauterzeugung und -wahrnehmung geht es erstaunlich zu. Komplizierte Artikulationswerkzeuge sind, fein aufeinander abgestimmt, am Arbeiten, wenn der Atem in einer Art Hindernislauf verschiedene Höhlungen und Engstellen durchquert, um sprachliche Äußerungen erklingen zu lassen. Wenn die Luft durch das Ansatzrohr gedrückt wird, strömt sie durch den Kehlkopf, wobei die Stimmlippen entweder mit hoher Frequenz zu schwingen beginnen und die resultierende Vibration stimmhafte Laute entstehen läßt; oder sie lassen ohne Schwingung die Luft vorbeiströmen, was die Erzeugung stimmloser Laute zur Folge hat. Sind die Stimmlippen passiert, kann der Artikulations- und Widerstandsraum der Luft vielfältig variiert werden. Tritt der Atem ungehindert aus, ergeben sich Vokale, die durch verschiedene Zungen- und Lippenpositionen gebildet werden. Durch Verengungen und zeitweisen Verschluß an unterschiedlichen Stellen der Mundhöhle werden dagegen Konsonanten artikuliert.
Nur der Mensch verfügt über diesen Sprechapparat, der es ihm ermöglicht, je nach Einzelsprache zwischen 20 und 40 unterschiedliche Laute zu produzieren, und zwar in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Bis zu 45 Geräuscheinheiten kann ein Sprecher pro Sekunde hervorbringen, die von einem Hörer als differenzierte Sprachformen wahrgenommen werden. Sprech- und Hörfähigkeit leisten etwas, das an ein physiologisches Wunder grenzt. Während nichtsprachliche Geräusche zu einem niederfrequenten Rauschen verschwimmen, wenn sie aus mehr als 20 Einheiten pro Sekunde bestehen, sind sprachliche Äußerungen auch jenseits dieser Grenze noch klar und deutlich wahrnehmbar.
Bleiben wir einen Moment bei der Schnelligkeit. Woran liegt es, daß wir zum Beispiel die konsonantischen Verschlußlaute g und k, d und t, b und p, bei denen dem Luftstrom kurzfristig durch Gaumen, Zähne oder Lippen der Weg versperrt wird, als stimmhaft bzw. stimmlos formen und wahrnehmen können? Messungen haben ergeben, daß wir es hier mit rasanten Geschwindigkeiten zu tun haben: Setzt die Vibration der Stimmlippen weniger als 25 Millisekunden (25 Tausendstel einer Sekunde) nach der Öffnung des Verschlusses ein, so äußern wir einen stimmhaften Konsonanten und nehmen ihn als solchen wahr: b, d, g. Ist diese Anlautzeit länger als 25 Millisekunden, so entstehen stimmlose Konsonanten: p, t, k. Winzige Sekundenbruchteile entscheiden darüber, ob wir «Bein» oder «Pein» sagen und verstehen, «Dorf» oder «Torf», «Gunst» oder «Kunst».
Aus einzelnen Lauten werden Wörter gebildet, die einen Sinn haben. Wer miteinander spricht, hat sich etwas zu sagen. Sprachen bestehen nicht aus Geräuschen und unartikuliertem Gegurgel, sondern aus Zeichen, die etwas bedeuten. Wir hören die lautlichen Differenzen zwischen «Bein» und «Pein», weil wir sie als unterschiedliche Wörter der deutschen Sprache verstehen. Die sensorische Wahrnehmung ist durch sprachliches Wissen gesteuert. Die artikulatorischen Unterschiede sind funktional mit bedeutsamen Informationen verbunden und nur deshalb als sprachliche Ausdrucksformen erkennbar.
Die Äußerung isolierter Einzelwörter ist ein Ausnahmefall. In der Regel verbinden wir Wörter zu Aussagen. Jede menschliche Sprache ist grammatisch organisiert. Sätze sind kein Wörtergemisch, sondern Gebilde, die eine komplexe grammatische Struktur besitzen. Auch hier waren es, innerhalb der abendländischen Wissenschaft, vor allem die griechischen Grammatiker (von griech. «gramma», Buchstabe, Schriftzeichen), die nicht nur auf geniale Weise den artikulierten Lautstrom durch einzelne Lautzeichen des Alphabets (von griech. alpha, beta, …) abzubilden begannen, sondern die auch die Baupläne erforschten, die der grammatischen Kombinatorik von Buchstaben zugrunde liegen.
Mit etwa 30 differenzierten Artikulationseinheiten kann nicht nur unaufhörlich geredet werden. Es können auch ständig neue Sätze gebildet werden, mit denen sich auf eine unabschließbare Weise jeder denkbare Gedanke sprachlich ausdrücken läßt. Das Verfahren der Sprache ist äußerst produktiv im Spielraum der Möglichkeiten, der zwar durch grammatische Regeln beherrscht wird, aber dennoch keine feste Grenze besitzt. Menschliche Sprachfähigkeit findet ihren Ausdruck in der Sprache als Möglichkeitsgebilde. Jede menschliche Sprache steht dabei, wie es Wilhelm von Humboldt um 1830 prägnant formulierte, «einem unendlichen und wahrhaft grenzenlosen Gebiete, dem Inbegriff alles Denkbaren gegenüber. Sie muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen, und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft» (Humboldt 1963, S. 477).
Doch diese Kraft ist nicht nur im Ausdruck von Gedanken wirksam, bei dem es um die Mitteilung dessen geht, was Menschen über die Welt wissen oder zu wissen glauben. Auch die sozialen Lebensformen des «zoon politikon» sind wesentlich durch Sprache vermittelt. Mit Sprache kann man alles Mögliche tun. Wir können Kontakt und Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen oder zerstören, wir erlangen Macht, manipulieren andere, gewinnen Freunde, halten sie fest oder verlieren sie – vor allem durch Sprache. Die Sprache der Intimität und der Liebe vermag ihre verführerische Kraft zu entfalten. Manchmal gelingt es, worauf besonders die psychoanalytische Rede-Kur vertraut, den sprachlich unbewußten Ursachen neurotischen Verhaltens auf die Spur zu kommen und einen Heilungsprozeß in Gang zu setzen. Neue Techniken des «Neuro-Linguistischen Programmierens» (NLP) werden in Bereichen der Psychotherapie, der Konfliktbearbeitung, der Organisationsentwicklung oder des Verkaufs eingesetzt, um auch in schwierigen Situationen integrationsfähige Verhaltensweisen entwickeln zu können. Eloquente Demagogen können Menschen ideologisch auf ein totalitäres System einschwören, das der Freiheit des kritischen Ausdrucks keinen Raum läßt. In George Orwells Alptraum «1984» braucht es keine Folter, um die Bewohner von Ozeanien gleichzuschalten. Es genügt die «Neusprache», um die Herrschaft des Großen Bruders zu stabilisieren und jedes abweichende Gefühl oder oppositionelle Denken auszumerzen.
Wozu Linguistik (von lat. «lingua», Zunge, Sprache)? Wenn man sich den reichen, von der Sprachwissenschaft gelieferten Erkenntissen zuwendet, so gibt es auf diese Frage nur eine einfache Antwort, die sich auf alle Stadien der Wissenschaftsgeschichte beziehen läßt: weil der Mensch nicht nur das sprechende Tier ist, sondern auch das Lebewesen, das sich mit theoretischer Neugier allem zuwendet, was es verwundert. Die Menschen denken, seit sie sich der erstaunlichen Fähigkeit des Sprechenkönnens bewußt wurden, über das Wesen der Sprache nach. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sprache ist ebenso alt wie die anderen Zweige der abendländischen Wissenschaft, die im schwindeligen Erstaunen (griech. «thaumazein») ihren anfänglichen Grund besitzen, mit dem an Thaumas, den Gott der Wunder, erinnert wird. Wie die ersten Physiker und Kosmologen die Gesetze der unbelebten Natur und des kosmischen Alls zu erkennen versuchten und wie die Biologen sich auf die überwältigende Vielfalt lebendiger Organismen konzentrierten, so wurde auch das Sprachvermögen des Menschen zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Staunens, das in ein gewußtes Wissen überführt werden sollte. Man wollte nicht nur sprechen können, sondern auch wissen, warum, wie und wozu man es konnte. Von der sprachlichen Fähigkeit zum linguistischen Wissen: Dieses Erkenntnisinteresse beherrscht die Sprachwissenschaft von ihren Anfängen, bei denen es zunächst um die grammatische Analyse des richtigen Sprachgebrauchs und um die etymologische Erklärung der wahren Wortbedeutungen ging, bis zu den gegenwärtigen Anstrengungen, menschliche Sprachkompetenz durch digitalisierte Computerprogramme zu simulieren, um ihr Funktionieren technologisch erklären zu können.
Das ganze Spektrum der Phänomene, die wir kurz Revue passieren ließen, von den elementaren physiologischen Prozessen der Lauterzeugung und -wahrnehmung über geregelte Wort- und Satzbildungen bis hin zu den mannigfaltigen Zwecken des Sprachgebrauchs, bilden den Gegenstand der Sprachwissenschaft. Trotz aller internen Differenzen und unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen kann über der Linguistik die Berufsbezeichnung Roman Jakobsons (1896–1982) als Motto stehen, der neben Ferdinand de Saussure (1857–1913) und Noam Chomsky zu den herausragenden Sprachwissenschaftlern des 20. Jahrhunderts zählt: «Linguista sum; linguistici nihil a me alienum puto.» (Ich bin Linguist, nichts Sprachliches weiß ich, das mir fremd wäre.) Doch diese allgemeine Bestimmung muß etwas genauer unter die Lupe genommen werden, wenn man auf die Legitimationen achten will, mit denen sich die moderne Sprachwissenschaft seit etwa 200 Jahren als eine...