1 Eltern und Kinder
Woher kommt Otto Dix, der wie kaum ein anderer Maler das Gesicht der Weimarer Epoche prägte und dessen Bilder uns als Ikonen einer gleichermaßen schillernden wie bedrückenden Zeit erscheinen? Wie lässt sich in das soziale Milieu und die persönliche Entwicklung eines Malers einführen, der vom Proletarierkind zu einem der angesehensten Porträtisten der Weimarer Republik avancierte und von da an in relativem Wohlstand lebte? Vielleicht kann gerade der Blick auf Porträts ihm nahestehender Menschen dabei helfen, der Person und ihrer Herkunft näher zu kommen. Dix hat in den frühen 1920er Jahren als junger, sich allmählich etablierender Maler seinen Eltern, zu denen er zeitlebens ein gutes Verhältnis unterhielt, mit zwei eindringlichen Doppelbildnissen ein künstlerisches Denkmal gesetzt. Sie zeigen das Paar mit abgearbeiteten Händen und gezeichneten Physiognomien auf einem biedermeierlichen Sofa sitzend. Die Gemälde sind von subtiler Einfühlung und beobachtender Distanz geprägt, unterscheiden sich aber deutlich in ihrer kompositionellen Anlage. Beide Werke vermitteln etwas von der bezeugten Hochachtung, die der Maler und Sohn den Eltern gegenüber angesichts ihrer Lebensleistung, ihres Fleißes und ihrer Tüchtigkeit empfand.
Die frühere, heute im Kunstmuseum Basel aufbewahrte Leinwand von 1921 (Löffler 1921/12) schiebt die Figuren auf engem Raum gegeneinander und verkeilt sie im Bildrahmen. Die Anlage des Werkes zehrt noch vom Expressionismus, obwohl die Figuren, in Anlehnung an das berühmte Elternbildnis des romantischen Malers Philipp Otto Runge, selbst äußerst realistisch erfasst sind – hier manifestiert sich ein künstlerischer Paradigmenwechsel vom Expressionismus über einen realistisch-veristischen Zwischenschritt zur Neuen Sachlichkeit. Die Bildkomposition erweist sich als labil, wenn man den abschüssigen Linien der Köpfe, der Schulterkontur und dem Band der schweren Hände folgt. Dem diagonalen Abgleiten nach rechts unten wird durch die blockhaft sperrige Figur des Vaters entgegengearbeitet, gleichwohl sie die diagonalen Richtungswerte der Ehefrau aufnimmt. Vor allem die bloßen, hell aufscheinenden Unterarme und die Neigung des Oberkörpers stabilisieren die Komposition.
Das spätere, heute im Sprengel Museum in Hannover zu sehende Bild von 1924 (Löffler 1924/4) zeigt dieselbe Szene und fällt doch ganz anders aus. Frontal schaut der Betrachter auf die streng nebeneinander Sitzenden, die als Dreiviertelbildnis auf das altertümlich anmutende Möbel »geheftet« zu sein scheinen. Erneut fällt die Beziehungslosigkeit der Figuren untereinander ins Auge. Sie steht im Kontrast zu der die Figuren einander annähernden physiognomischen Zeichnung, zu den korrespondierenden Farbwerten der Kleidung und den von Arbeit und Gicht gleichermaßen verformten groben Händen.
Bildnis der Eltern I, 1921, Öl auf Leinwand, 101 × 115 cm, Kunsthalle Basel
Bildnis der Eltern II, 1924, Öl auf Leinwand, 118 × 130,5 cm, Sprengel Museum Hannover
Auf beiden Bildern kreuzen sich die in divergierende Richtungen schauenden Augen, ohne sich zu treffen. Distanz und Empathie, expressiver Ausdruck und sachliche Objektivierung, realistisches Figurenstudium und konstruktives Bildgefüge gehen eine spannungsreiche Synthese ein. Diese Leistung konnte nur ein Maler erbringen, der gleichermaßen ein sachliches Interesse am Bildthema Porträt (Doppelbildnis), eine akademische Ausbildung und genaue Kenntnisse der jüngsten Kunst besaß.
Vorbereitet hatte Dix die beiden Doppelbildnisse in für ihn typischer Weise durch große Zeichnungen, die er 1920 jeweils von seinem Vater, der damals 58 Jahre alt war, und seiner um ein Jahr jüngeren Mutter fertigte. Während der Vater den Betrachter über den Rand seiner Brille anschaut, sitzt die Mutter (auf dem anderen Blatt) mit nachdenklich-konzentriert aufgestütztem Kopf und liest. Der Wunsch, die Eltern in repräsentativen Gemälden innerhalb weniger Jahre gleich zweimal zu verewigen, entsprang Dix’ Idee, seinen künstlerischen Wandel zu dokumentieren: Er malte 1921 expressiv-veristisch und 1924 objektivistisch-neusachlich und lotete in seinen Porträts immer wieder aus, inwieweit die Malerei der Fotografie bei der Deutung eines Menschen überlegen ist. Die Auseinandersetzung mit der zeitgleich auftretenden sachlichen Porträtfotografie, etwa eines August Sander oder eines Hugo Erfurth, bildet den künstlerischen Hintergrund; der aus Halle (Saale) stammende und in Dresden ansässige Erfurth war seit etwa 1920 mit Dix bekannt und fotografierte die Eltern 1925/26. Zum anderen aber ging es Dix bei seiner Motivwahl um die Nähe zu seinen Eltern. Beständig hielt er Kontakt zu ihnen, schrieb ihnen und schickte 1904 ein Foto von sich, um die Eltern so einmal persönlich zu besuchen, wie er schrieb. Er unterstützte sie finanziell, als ihm dies nach ersten künstlerischen Erfolgen möglich war, und schickte ihnen zu Weihnachten Wollkleidung, für die sich die Eltern bei ihm herzlich bedankten.
Otto Dix stammt aus proletarischen Verhältnissen und wurde am 2. Dezember 1891 in einem Ort namens Untermhaus geboren. Seit 1819 war die Familie Dix in Untermhaus ansässig, die väterliche Linie stammte aus dem Dorf Pohlen bei Wünschendorf, wo sie im 18. Jahrhundert als Bauern erfasst wurden. 1890 besaß der Fleck 3274 Einwohner, 1900 waren es 6256, und er war nach der Vereinigung mit dem kleineren Städtchen Kuba der zweitgrößte Ort des Fürstentums Reuß. Dix’ Vater Ernst Franz Dix (1862–1942) arbeitete als Formgießer in dem nahe gelegenen Gera. Franz Dix hatte 1889 die Näherin Louise Pauline Amann (1863–1953) geheiratet. Das künstlerische Talent Ottos wird in der Literatur immer wieder auf die Mutter und die mütterliche, aus dem süddeutschen Raum (Esslingen-Tuttlingen) stammende Familie zurückgeführt. Die Mutter dichtete und trug vor, und in der Familie Amann gab es weitere künstlerische Talente. Vor allem der mehr als zehn Jahre ältere Cousin Fritz Amann soll dafür verantwortlich sein, dass Dix Künstler werden wollte. Ihm saß Dix als Junge Modell, war von der Atelieratmosphäre fasziniert und es wurde sogar spekuliert, ob er sich in dem eindrucksvollen ersten Bildnis eines Arbeiterjungen im Atelier (Löffler 1914/6) nicht selbst gemeint haben könnte. Nun mag es in der Tat zutreffen, dass der inzwischen 23jährige Maler sich bei der Arbeit an dem Gemälde an seine eigene Jugend erinnerte und daran, selbst einmal Modell gestanden zu haben. Aber Dix fühlte sich der Arbeiterschaft insgesamt verpflichtet oder nahe und wählte wohl daher – und nicht nur, um Kosten zu sparen – immer wieder Modelle für seine Werke aus diesem Milieu. Insbesondere die Darstellungen von Arbeiterfrauen mit ihren Säuglingen oder von Arbeiterkindern zählen zu den wichtigsten und berührenden Werken des Malers zu Beginn der 1920er Jahre. Mädchen am Sonntag (Löffler 1920/1) oder Zwei Kinder von 1921 (Löffler 1921/10) kontrastieren die zerbrechlichen Figuren mit hart geschnittenen Kastenräumen, welche die Figuren bedrängen und einsperren – und damit auch die Bedingtheit des Individuums durch sein soziales Umfeld markieren. Hier besaß Dix trotz aller Härte ein sensibles Gespür für die Abhängigkeit der Existenz von äußeren Umständen, Limitierungen und Möglichkeiten.
Der Vater von Otto Dix wird im Kontrast zur musisch veranlagten Mutter von der Literatur mit knappen Strichen als politische Figur gezeichnet, die in sich gefestigt und zurückhaltend war, aber bestimmt auftrat. Er arbeitete u. a. für die Maschinenfabriken H. Güntsche und A. Harwieg sowie für die Geraer Maschinenfabrik & Eisengießerei A. G. und trat 1891 dem Deutschen Metallarbeiterverband bei. Er engagierte sich aktiv für die Sozialdemokratische Partei, die erst 1907 bei Wahlen die Mehrheit an die bürgerlichen Kandidaten verlor. 1903 erschien Franz Dix auf den sozialdemokratischen Mitgliederlisten, war der Partei aber wohl schon 1898 beigetreten und engagierte sich im Arbeiter-Bildungsverein und im Arbeiter-Gesangsverein. In den darauffolgenden Jahren erwarb der Vater, der aufgrund seiner Qualifikation eher zu den gut verdienenden Arbeitern gehörte, ein Stück Land an dem kleinen Fluss Elster, nahm einen Kredit auf und baute. Das Haus an der Uferstraße 4 konnte nach einigen voraufgegangenen Umzügen Anfang Juli 1908 von der Familie bezogen werden, auch wenn keine Bäder vorhanden waren. Die Restschuld der Hypothek in Höhe von 27 500 Mark beglich er erst Ende 1939, wohl auch mit Hilfe des Sohnes Otto, der inzwischen gut von seiner Kunst leben konnte.
Zwei Kinder, 1921, Öl auf Leinwand, 96 × 76 cm, Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique Brüssel
Dix entstammt also dem relativ großen Teil einer qualifizierten, in der Eisen- und Metallindustrie und vorwiegend im großstädtischen Raum angesiedelten Arbeiterschaft, die verhältnismäßig gut gewerkschaftlich und parteipolitisch organisiert war. Er wuchs in einer Art sozialdemokratischer Subkultur (Josef Mooser) auf, die einerseits die bürgerliche Lebenswelt in Ansätzen nachahmte und sich anderseits selbst aggressiv abgrenzte. Im Kaiserreich wurde die Sozialdemokratie stark diskriminiert und musste um ihre Rechte kämpfen. Das künstlerische Selbstverständnis des Malers Dix und sein mitunter vehement antibürgerlicher Habitus sowie sein sozialer Geltungsdrang sind durch diese Herkunft entscheidend geprägt worden.
Die beiden Elternbildnisse...