DAS WOHNZIMMER
Meine Großmutter konnte weder lesen noch schreiben, aber sie kannte sich mit Toten aus. Wenn in Treforest jemand starb, wurde Mrs. Jones geholt. Sie wusste, wie man Tote aufbahrt – die Leiche anziehen, den Kiefer mit einer Binde fixieren, damit der Mund nicht offensteht, Pennys auf die Augen legen. Dieses Wissen gab sie an meine Mutter weiter.
Meine Großmutter kannte sich auch mit Neugeborenen aus, zum Glück. Denn als ich geboren wurde, glaubten sie, ich sei tot. Ich bewegte mich nicht, und ich schrie auch nicht. Aber meine Granny nahm mich aus dem Arm der Hebamme, tauchte mich in einen Bottich mit kaltem Wasser und schüttelte mich. Und auf einmal bewegte ich mich, schrie und war da.
Das war im Juni 1940, im Wohnzimmer des Reihenhauses meiner Großmutter in der Kingsland Terrace 57. Niemand in unserem Umfeld ging für eine Geburt ins Krankenhaus. Das erledigte man zu Hause. Die Frauen der Familie versammelten sich, die Männer der Familie verdrückten sich. Meine Granny teilte sich ihr kleines, enges Haus damals mit meiner Mutter und meinem Vater – Freda und Tom Woodward –, meiner sechsjährigen Schwester Sheila und meinem Onkel Albert, der blind war. Kurze Zeit nach meiner Geburt zogen wir vier Woodwards in ein eigenes gemietetes Reihenhaus, den Berg hoch in die Laura Street, etwa eine Meile näher an der direkt angrenzenden Stadt Pontypridd. Dort hatten wir, als ich noch ganz klein war, kurz eine andere Familie zur Untermiete, die Wildings, deren Mutter wiederum in unserem Wohnzimmer ihr Baby bekam. So war das damals. Wenn es sein musste, rückte man eben von Zeit zu Zeit etwas zusammen.
Man taufte mich Thomas John, nach meinem Vater, und rief mich Tommy. Tommy Woodward: Ich weiß noch, dass ich den Namen als Kind ungewöhnlich fand. In Wales trugen die Leute Namen wie Jenkins oder Griffiths oder (wie meine Mutter) Jones. Woodward eher nicht. Darüber hinaus hatte meine Nana Annie, die verwitwete Mutter meines Vaters, einen völlig anderen Dialekt als alle anderen, seltsam weich und gurrend. »Liebchen, was ist mit den Vitaminchen?«, sagte sie zu mir, wenn ich sie besuchte. Womit sie wohl meinte: »Setz dich hin und iss dein Abendbrot.«
Ich fragte meinen Vater: »Warum redet Nana so komisch?«
Er sagte: »Weil sie nicht von hier ist. Sie kommt aus Box.«
»Sie kommt aus einer Box?«
»Box. Das ist ein Dorf in Wiltshire.«
Der Vater meines Vaters, James Woodward, war ein Eisenwarenhändler aus Gloucester, der mit seiner Familie Richtung Westen nach Südwales gezogen war, wegen der Arbeit, die es dort damals reichlich gab. Seine Aufgabe bestand darin, einen Pferdewagen mit Dynamit zu beladen und es zu den Kohlengruben bei Pontypridd zu bringen, wo sie ihn Dynamit-Jimmy nannten. Er starb, bevor ich ihn kennenlernen konnte, doch die Geschichten, die sich hauptsächlich um seine ausschweifenden Trinkgelage rankten, überdauerten ihn. Es hieß, Dynamit-Jimmy konnte nach einer durchzechten Nacht rückwärts auf seinen Karren fallen, und das Pferd brachte ihn sicher nach Hause. Eines Abends fuhr er zum Three Horseshoes in Tonteg, um im Pub einen ruhigen Abend mit seiner Frau zu verbringen. Im Laufe des Abends provozierte ihn irgendein Typ, und sie beschlossen, den Streit mit einem Wagenrennen zu entscheiden – sie peitschten die Pferde an den Zügeln stehend die drei Meilen zurück nach Pontypridd, während sich ihre Frauen verängstigt festklammerten.
Mein Vater hatte also englische Eltern – aber es war nicht ratsam, sein Walisertum in Zweifel zu ziehen.
»Ich bin Waliser.«
»Aber deine Mum und dein Dad waren doch Engländer.«
»Ich bin hier geboren. Ich bin Waliser.«
Ende der Diskussion.
Ebenfalls nicht zur Debatte stand, dass mein Vater irgendwann mit Anfang zwanzig mit einem Mädchen namens Florrie Jenkins ausgegangen war. Übermäßig interessiert konnte er nicht an ihr gewesen sein, denn zu ihren Verabredungen tauchte er nicht auf. Florrie Jenkins zog ihre Freundin Freda Jones ins Vertrauen und erzählte ihr von diesem Tom Woodward und seinen fehlenden Manieren, und Freda Jones erklärte sich bereit, ihn für sie zur Rede zu stellen.
»He, wieso versetzt du Florrie Jenkins?«
Tom Woodward teilte Freda Jones höflich mit, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, und Freda Jones wiederum teilte Tom Woodward höflich mit, dass es ihrer Ansicht nach sehr wohl ihre Angelegenheit war. Es folgte ein heftiger Streit darüber, und am Ende gingen sie miteinander aus. Kurz darauf, im Jahr 1934, heirateten sie und zeugten meine Schwester Sheila – wenn auch nicht genau in dieser Reihenfolge. Das Ausmaß an gesellschaftlicher Ächtung, die meinen Vater traf, weil er ein Mädchen unehelich geschwängert hatte, ist heute kaum vorstellbar. Ein Mädchen, das mit achtzehn auch noch fünf Jahre jünger war als er. Frauen kehrten ihm auf der Straße den Rücken zu. Ein paar Leute bespuckten ihn sogar. Seine gesellschaftliche Stellung konnte lediglich durch die Tatsache wiederhergestellt werden, dass er sie heiratete und »rechtschaffen« machte.
Mein Vater war Bergarbeiter und als solcher hatte er nicht allzu viel für Briefträger übrig. Meine Mutter sagte immer: »Der arme Briefträger. Bei dem Wetter«, worauf mein Vater antwortete: »Briefträger? Wenn er den Regen satt hat, sag ihm, er soll mit mir zur Arbeit kommen.«
Seit er vierzehn war, arbeitete er für die Cwm-Zeche in Beddau, von Treforest aus ein Drei-Meilen-Fußmarsch in schweren Stiefeln. Frühmorgens jagte ihn meine Mutter aus den Federn und aus dem Haus – montags, wenn der Restalkohol vom Wochenende noch in seiner Blutbahn zirkulierte, mit besonders viel Nachdruck. Er verbrachte seine Tage damit, sich durch tiefe, beengte Tunnel zu graben, wo die Mäuse einem das Mittagessen wegfraßen, wenn man es nicht fest in einer Blechdose verschlossen hielt. Die Kohle wurde in so engen Gängen abgebaut und abtransportiert, dass man, wenn die eine Seite der Hacke stumpf wurde, den kompletten Weg zurück kriechen musste, damit man genug Platz hatte, das Werkzeug umzudrehen und mit der schärferen Seite weiterzumachen. In einem Pub in Pontypridd gab es eine Bar, ein paar Stufen hinunter in einem winzigen Nebenraum, die scherzhaft »Two-Foot-Nine« genannt wurde, in Anlehnung an den niedrigsten Tunnel, in dem ein Bergmann arbeiten konnte.
Trotzdem machte mein Vater niemals Anstalten wegzukommen oder sich hochzuarbeiten – bemühte sich nie um eine Beförderung zu einem leichteren Job über Tage oder sonst etwas Bequemerem. Er war ein intelligenter, fähiger Mann. Aber er hatte auch etwas Unsicheres an sich. Ein nicht unerheblicher Teil von ihm wollte seine Welt klein und begrenzt halten, um ihr gewachsen zu sein. Und der Bergbau verschonte ihn immerhin davor, im Zweiten Weltkrieg kämpfen zu müssen. Bergmänner waren von der Einberufung ausgenommen, da die nationale Kohleversorgung aufrechterhalten werden musste. Also leistete mein Vater seinen Wehrdienst an vorderster Front unter Tage ab, und ich glaube, er hielt sich deswegen für einen Glückspilz.
Was den Krieg anging, so hatten wir in unserer Gegend wirklich Glück. Cardiff wurde hart durch deutsche Bombardements getroffen, und auch Swansea wurde aus der Luft angegriffen – die deutschen Flieger überquerten die Hauptinsel in westlicher Richtung und wurden den ganzen Weg über von den Engländern bejubelt, wie sich die Waliser gern ausmalten. Doch der Bergbauort Treforest und das angrenzende Industriezentrum Pontypridd, das sich ausgebreitet hatte, bis beide Orte fast verbunden waren, kamen nahezu unversehrt davon. Wenn überhaupt, wurde die Gegend von verirrten Brandbomben getroffen, die zwar unangenehm waren, aber immer noch wesentlich besser als hochexplosive Bomben, die dein Schlafzimmer mal eben in den Keller verlegten, ohne dass du vorher gefragt worden wärest.
Die ersten fünf Jahre meines Lebens tobte also ein gewaltsamer globaler Konflikt, aber abgesehen vom gelegentlichen Dröhnen der Flugzeuge und dem Auftauchen amerikanischer Soldaten in der Stadt (sie waren in der Kaserne des Fünften Waliser Regiments am Broadway untergebracht) bekam ich kaum etwas davon mit – was vermutlich das Beste ist, wenn es um gewaltsame globale Konflikte geht.
Meine erste Kindheitserinnerung ist eine relativ friedliche: Ich bin mit meiner Schwester in der Küche, kurz bevor mein Vater von seiner Schicht zurückkommt. Meine Mutter beeilt sich, das Abendessen rechtzeitig fertig zu bekommen und redet zerstreut mit uns, während sie hinten aus dem Fenster späht, ob mein Vater mit seinem kohlrabenschwarzen Gesicht durch das Tor kommt; denn wenn er die Küche betritt und die Tischdecke liegt noch nicht auf dem Tisch … Tja, das ist eine Pflichtverletzung erster Güte, wenn es nach meiner Mutter geht. Später erzählte sie mir, was ihre Mutter ihr immer geraten hat: »Leg die Tischdecke auf den Tisch. Selbst wenn das Essen noch nicht fertig ist, sieht es dann immerhin so aus.«
Eine weitere häusliche Weisheit, die von meiner Granny an meine Mutter weitergegeben wurde – und später auch von meiner Granny an meine Schwester, zu ihrer großen Überraschung am Vorabend ihrer Hochzeit: »Du solltest deinen Ehemann niemals abweisen. Aber du kannst dafür sorgen, schon aus dem Bett zu sein, wenn er aufwacht.«
Meine Mutter war Hausfrau. Für kurze Zeit hatte sie einen Teilzeitjob in einer Fabrik im Gewerbegebiet von Treforest. Damals ging ich noch zur Schule. Sie hatte meinen Vater angebettelt, und der hatte nur widerwillig zugestimmt. Aber eines Samstagabends standen wir mit der ganzen Familie vor dem...