InhaltsverzeichnisMusik hören war ja gut. Aber leider musste ich auch selbst welche machen, denn sonst würde man später ja ziemlich sicher einen Schnurrbart bekommen, Mofa fahren, eine Lehre machen, bei der man ein Namensschild am Kittel tragen muss, und eine Frau mit Dauerwelle heiraten.
Das Gegenprogramm begann mit der MUSIKALISCHEN FRÜHERZIEHUNG in der Musikschule, da hauten alle Kinder sinnlos eine Stunde lang auf allen greifbaren Instrumenten herum. Recht bald wurde ich wegen ungebührlichen Verhaltens von der Gruppe separiert, ich hatte ein Xylophon aus dem Fenster geworfen und war auch sonst nicht gerade eine Stütze des Kurses. Zum Erstaunen meiner musikpädagogisch eher unnachgiebigen Mutter hieß es seitens der Lehrerin (die bloß den für sie lukrativeren Einzelunterricht anordnen wollte), ich sei – und wer hört solches über sein Kind schon ungern – hochbegabt. Ein folgenschweres Missverständnis.
Schlagzeug hätte ich gern gespielt, doch war meine Meinung bei der Wahl des Instruments nicht gefragt. Ich baute mir aus leeren Waschmittelpapptonnen ein provisorisches Drumset, hörte Radio Bremen und kloppte mit einem Xylophonschlegel auf die Waschmitteltrommeln. So richtig Spaß machte das nicht. An eine Stehlampe hängte ich mit einem Wollfaden eine Triangel, die ließ ich am Ende jedes Trommelsolos erklingen, wenigstens das machte Spaß. Noch toller war, die beiden Strahler von der Stehlampe abzuschrauben, dann sah sie aus wie ein Mikrophonständer, und ich konnte damit Rockkonzert spielen. Wenn es draußen dunkel war, erzeugte das Deckenlicht ein Spiegelbild im Fenster zum Garten, und ich übte mit dem Stehlampenständer die klassischen Mikrophonständer-Rocksängergesten, ich sang in den Lampenständer, kniete mich hin und zog den Lampenständer zu mir nach unten – und genau wie ein Mikrophonständer wippte er, wenn ich ihn losließ, zurück in die Stehposition, der metallene Tellerfuß ermöglichte das. Ich hielt den Lampenständer auch gern mal Richtung Kirchturm, da war das gedachte Publikum und sang für mich. Ich klappte dann, wie Sänger das auf Konzertpostern auch immer taten, kokett ein Ohr um, damit die Leute noch lauter sängen.
Noch heute hängen überm Klavier im Haus meiner Eltern gerahmte Fotos, die uns als Kinder mit unserem jeweiligen Instrument zeigen, und man sieht gleich, meine beiden mittleren Geschwister sind hoch konzentriert, die Haltung ist vorbildlich, klingt bestimmt gut – der Älteste aber pustet kreuzunglücklich in eine Posaune, und der Jüngste, also ich, hält seine Geige eher senkrecht als waagerecht, als stehe er an der Straße und halte den Daumen raus, damit ein Auto anhält und ihn mitnimmt, egal wohin, Hauptsache, ganz weit weg. Udo sang mir den mit dieser Geste verbundenen Sehnsuchtsfloh ins Ohr:
Nun steh ich wieder an der Autobahn
Und halt den Daumen in den Wind
Es wurde Zeit, mal wieder loszufahren
Ich weiß noch nicht, wohin es geht[2]
In der Musikschule roch es nach Linoleum und kaltem Schweiß, in unserer Familie wurde dieser spezifische Geruch, der überall waberte, wo man Kindern und Jugendlichen etwas beibrachte, beschrieben mit dem geflügelten Wort UNTERM ARM. Wenn meine Mutter mich, was immer mal vorkam, nach dem Geigenunterricht abzuholen vergaß, wartete ich vor einer Pinnwand im Musikschultreppenhaus. In meiner Erinnerung geraten die Proportionen da etwas durcheinander, in meiner Erinnerung nämlich stand ich netto etwa ein Jahr lang unter dieser großen Pinnwand, wo Konzerte beworben und Musikinstrumente zum Verkauf angeboten wurden. Sehr lang hing dort auch ein Plakat, das auf die Gefahren des Rauchens hinweisen sollte: eine senkrecht stehende, qualmende Zigarette, in der ein junger Mensch gefangen war, der Jeans mit Schlag trug und traurig dreinblickte. Wenn diese Zigarette fertig geraucht ist, so die nicht sehr verklausulierte Plakatbotschaft, dann ist der junge Mensch auch weggeraucht.
Ich rauchte damals noch nicht, was nicht ungewöhnlich war für einen Zwölfjährigen. Aber das Plakat konnte mich auch nicht in dem Maße indoktrinieren, es niemals zu tun, wie im Gegenzug Fotos vom rauchenden Udo auf Plattencovern mir nahelegten, dass Zigaretten unbedingt dazugehören, wenn man lässig irgendwo rumzuhängen beabsichtigt (und hat man IRGENDWELCHE anderen Pläne als kleiner Junge?). Udo im Trenchcoat, mit Hut, an einer Straßenecke, lässig an der Zigarette ziehend: jahrelang, ach, bis heute eigentlich mein Idealbild einer gelungenen männlichen Existenz. Wie der da steht! Mit diesem Typen ist zu rechnen. Der hat was vor.
Nach einem FREITAGSVORSPIEL, bei dem alle Musikschüler ihre momentan größten Hits vor elterlichem Publikum darbieten mussten, nahm irgendeine lokale Geigenkoryphäe meine Mutter zur Seite und erklärte ihr das Offensichtliche: Dieser Junge und die Geige, die werden in diesem Leben keine Freunde mehr. Ich durfte aufhören mit dem Geigenunterricht, allerdings nur im Tausch gegen Klavierunterricht. Wieder kein Schlagzeug. Das Klavier hatte zwar den Vorteil, dass man nicht erst ein halbes Jahr die Haltung lernen musste, man setzte sich einfach dran, streckte die Finger aus, Daumen, Mittelfinger, kleiner Finger – fertig, ein Akkord, Wohlklang. Knifflig wurde es, wenn die Finger übereinander und untereinander durchkrabbeln mussten (was sie dauernd mussten). Als deutlich wurde, dass es auch mit diesem Instrument und mir nichts werden würde, durfte ich wiederum nur aufhören mit der Auflage, ein weiteres Instrument auszuprobieren, nun das wohl demütigendste: C-Flöte.
Den peinsamen Flötenunterricht übernahm praktischerweise die Schwester meines Mathenachhilfelehrers. Das große silberne Fünfmarkstück, das ich ihr als Entlohnung dieser für sie wie mich grausamen Stunden mitbringen musste, steckte sie bei Stundenbeginn in eine leere Handcremedose – und dann die Flöte unter ihren Arm, in die Achselhöhle, das Instrumentenholz müsse aufgewärmt werden. Sie trug Norwegerpullover, auch im Sommer, und schien kein Fan davon zu sein, Deos zu benutzen oder übertrieben oft zu duschen, ziemlich unterm Arm also alles. Das lag in der Familie, denn bei ihrem Bruder, der damit betraut war, mir seine Begeisterung für Normalparabeln, den Satz des Thales und die binomischen Formeln zu vermitteln, roch es natürlich so, wie es in Zimmern von Naturwissenschaftscracks während der Pubertät eben riecht. In diesem Haus der Schande atmete ich grundsätzlich nur durch den Mund. Woche um Woche gab ich da die Fünfmarkstücke ab, und weder in Mathematik noch beim Flöten zeitigte dieser olfaktorisch herausfordernde Spezialunterricht große Erfolge.
Niemand verstand mich, außer Udo, der sang:
Und dann in der Schule hatte
Keiner Bock auf Mathe[3]
Udos Gegenangebot, das allerdings nur ausgetestet wurde von sehr verwegenen, allgemein als verwahrlost wahrgenommenen Schülern, Udos alternativer Lehrplan also:
Lieber ging man stolz mit ’ner Zigarette
Zum Schwindeligwerden auf die Toilette
Und war nicht der Typ mit den Schlagjeans, gefangen in der Plakatzigarette, der einzig coole Typ, den ich jemals im Musikschulgebäude gesehen hatte?
Instrumente und Notenhefte wurden gekauft im Musikhaus Vajen, es lag direkt am Marktplatz, und zunächst mochte ich den Laden nicht, stammten doch von dort die Tortur-Partituren meines fortgesetzten Instrumentversagens. Allerdings – und je älter ich wurde, desto bedeutender wurde das – gab es dort auch Tonträger. Popmusik.
Oft ging ich nun, während meine Mutter auf dem Wochenmarkt einkaufte, freiwillig ins Musikhaus Vajen, meine Mutter fand das gut. Ob sie dachte, ich schaute mir dort Klaviernoten an? Natürlich schlich ich nur sehnsüchtig um die Schlagzeuge herum und verlor mich dann in den Plattenauslagen. Unter L hatte »Lindenberg, Udo« ein eigenes Fach, und – Wahnsinn, gab es viele Platten von dem! Aufgeregt durchfingerte ich die zig Udo-Hüllen. Am Kassentresen konnte man Platten Probe hören, und da stand ich nun, mit Kopfhörern, hörte diese zumeist alten, für mich aber ja durchweg neuen Udo-Platten, las die beigelegten Textblätter – und streunte mit Udo gedanklich durch die ganze Welt, sein Werk wurde meine Zuflucht. Wenn meine Mutter mich im Musikhaus Vajen mal vergaß, fiel mir das, anders als unter der Musikschulpinnwand, gar nicht auf, ich hoffte sogar darauf.
Zu Hause ging ich dem Rest der Familie zunehmend auf die Nerven. Irgendwas schien mit mir nicht zu stimmen, ich empfand Regeln und Anordnungen als eher unverbindliche Vorschläge, dauernd wurde ich irgendwelcher Lügen überführt. Außerdem zählte ich immerzu Treppenstufen, Gehwegplatten, Buchstaben, ALLES – und wenn sich die Summe durch 8 teilen ließ, war ich glücklich, durch 4 teilbar war auch noch gut, durch 2 hinnehmbar, ungerade Zahlen aber ganz schlecht, und Primzahlen zwangen mich, eine Treppenstufe zu überspringen oder die letzten Stufen mehrfach hoch- und runterzutrippeln, bis sich die gegangene Gesamtstufenzahl durch 8 teilen ließ. Bin gleich da, muss nur noch schnell ein paar Straßenlaternen mit der rechten Hand berühren oder Buchstabenanzahlquersummen checken von Straßenschildern und Zeitungsüberschriften. Haferflocken zählen und durch 8 teilen!
Zudem beklagte ich seltsame Körperbeschwerden, ein irres nächtliches Beinkitzeln, permanente Kopfschmerzen und vor allem eine als Gewusel oder Gezappel bezeichnete, jedenfalls als störend empfundene...