I. »Habemus Papam!«
Ich stand im Regen und fror, während es langsam dunkler wurde. Doch ich war nicht allein. Um mich herum standen erst Hunderte, dann Tausende, schließlich Zehntausende unter ihren Schirmen, um nicht völlig durchnässt zu sein, wenn es denn so weit sein würde. Was sich freilich nicht ganz verhindern ließ, so heftig, wie es schüttete. Doch sie alle waren vor die beeindruckendste Fassade der Welt geströmt und standen jetzt zwischen den Kolonnaden des Bernini, die wie weit ausgebreitete Arme jeden empfangen, den es zum Grab des Apostels Petrus zieht. Auf ihnen reckten sich die Statuen der Heiligen dem wolkenverhangenen Himmel entgegen und glänzten vor Nässe. Dahinter, zumindest auf dem Braccio di Carlo Magno, der Verbindung zwischen den beiden halbkreisförmigen Säulengängen und Gottes Marmorpalast, standen und froren Hunderte Fotografen aus aller Welt. Über ihnen strahlten grelle Scheinwerfer in die graueste aller Abendstunden. Jede Dachterrasse rund um den Petersplatz war für horrende Beträge an die großen Fernsehsender der Welt vermietet worden, die dort mit Kamerateams und Korrespondenten, durch Plastik-Baldachine und transparente Planen vor dem Regen geschützt, auf die nächste Sensation dieses doch so ereignisreichen römischen Winters warteten: den neuen Papst.
Ich wusste, er würde an diesem Mittwoch, dem 13. März 2013, gewählt werden. Ich war mir sogar so sicher, dass ich für den nächsten Tag einen Flug nach Düsseldorf gebucht hatte, um abends in meiner Heimatstadt Neuss einen Vortrag zu halten. Der Termin stand schon ein halbes Jahr lang fest, und ich wollte ihn nicht absagen, warum auch. Es reichte aus, wenn ich am Freitag wieder nach Rom zurückkehren würde; an seinem ersten Tag hat ein neuer Papst genug damit zu tun, sich gratulieren zu lassen, da würde ohnehin nichts Wichtiges geschehen.
Ein bekannter Kollege sah es genauso und verwettete in einer Talkshow sein ganzes Vermögen, sprich: die Tantiemen aus mehreren Bestsellern, auf eine Papstwahl am 13. März. Er machte nur einen entscheidenden Denkfehler, als er versicherte, der neue Papst würde Angelo Scola heißen.
Scola (72) war mehr als ein »papabile«, einer der acht Kardinäle, denen die Presse zutraute, sie könnten der nächste Nachfolger Petri werden. Er galt, wenn es denn so etwas im Vatikan gäbe, praktisch als Kronprinz. Es war kein Geheimnis – mir war es aus dem engsten Umfeld des ehemaligen Papstes bestätigt worden –, dass Benedikt XVI. ihn gerne auf dem Stuhl des Apostelfürsten gesehen hätte. Denn Scola war nicht nur ein guter Theologe, der vieles genauso sah wie Ratzinger, er besaß auch eine Eigenschaft, die dem Deutschen auf dem Papstthron manchmal gefehlt hatte: Er konnte sich durchsetzen! Er besaß die feste Hand (um nicht zu sagen: die eiserne Faust), die jetzt nötig war, um aufzuräumen. Um Ordnung zu schaffen in einer Kurie, die durch den Vatileaks-Skandal ins Zwielicht geraten war. Um die Ortsbischöfe weltweit daran zu erinnern, dass noch immer Rom in der Glaubenslehre die Entscheidungen trifft. Seine Schultern wären breit und kräftig genug, um das Schiff Petri sicher durch den Sturm zu steuern, in dem es trieb. Es sickerte sogar schon durch, welchen Papstnamen er sich zulegen würde, nämlich Leo XIV. Ein echter Löwe ist dieser einstige Patriarch von Venedig, den Benedikt XVI. in die marode Diözese Mailand geschickt hatte, um dort (erfolgreich) aufzuräumen. Nur leider hat er auch den Charme einer Bulldogge.
Scola war so »sicher« als neuer Papst, dass man ihn schon in einem der ersten Wahlgänge gewählt hätte. Spätestens beim dritten, wenn klar wäre, dass kein anderer Kandidat gegen ihn eine Chance hätte. Doch dass stattdessen am Mittwochmittag um 11.41 Uhr schwarzer Rauch aus dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle strömte, konnte nur eines bedeuten: Es war Kardinal Angelo Scola nicht gelungen, die notwendige Zweidrittelmehrheit auf sich zu vereinen. Und damit wurden die Karten neu gemischt, war er praktisch »aus dem Rennen«.
Erst später kam durch die Indiskretion einiger italienischer Kardinäle heraus, dass Scola nie eine breite Basis gehabt hatte. Die beiden mächtigsten Kurienkardinäle, Staatssekretär Tarcisio Bertone und sein Vorgänger, Kardinaldekan Angelo Sodano, eigentlich Rivalen, waren beide zu unterschiedlichen Anlässen schon mit ihm in Konflikt geraten. So standen auch die 28 italienischen Kardinäle, selbst wenn sie vielleicht von einem Papst aus ihren Reihen geträumt hätten, nicht geschlossen hinter ihm.
Für die Nichtitaliener unter den Kardinälen aber gab es von Anfang an zwei Prämissen: Bloß keinen Italiener und bloß keinen Kurienkardinal zu wählen! Zu sehr lagen die Vorwürfe von Vetternwirtschaft und Korruption, die von der Presse eifrig kolportiert wurden, in der Luft. Überhaupt traute man Europa nur noch wenig zu. Die Alte Welt, so hatte schon Benedikt XVI. treffend diagnostiziert, steckt in einer Identitätskrise. Sie leugnet ihr christliches Erbe. Ihr Reichtum hat sie blind und taub gemacht für Gott. Priestermangel, Kirchenaustritte und ein starker Rückgang der Gottesdienstbesuche sind nur die augenscheinlichsten Symptome. In Asien, Afrika und Lateinamerika dagegen nimmt die Zahl der Gläubigen und der Berufungen deutlich zu. Also war es an der Zeit, sich einen Hirten zu suchen, der aus einer jener gesunden, starken Ortskirchen stammte und ihre ganze Hoffnung verkörperte.
Der erste Blick fiel auf Afrika, wo die Kirche so rapide wächst wie nirgends sonst. Seit 1978 hat sich dort die Zahl der Katholiken von 55 Millionen auf 186 Millionen erhöht, d. h. von 12,4 Prozent der Bevölkerung auf 17,3 Prozent. Der Prozentsatz an Afrikanern unter dem weltweiten Priesternachwuchs hat sich sogar vervierfacht; er liegt heute bei 22,6 Prozent. So wurde ein Afrikaner, Kardinal Peter Turkson (64) aus Ghana, zu einem der am häufigsten genannten »papabile«. Er war sogar der Favorit der Buchmacher, die Wetten darauf annahmen, wer als »Sieger« aus dem Konklave hervorgehen würde. Seine Anhänger (oder waren es seine Gegner?) desavouierten ihn allerdings schon im Vorfeld damit, dass sie in ganz Rom »Wahlplakate« (»Al Conclave vota Turkson«) mit seinem Foto aufhängten. Auch mit seiner Aussage, die Ursache für den Missbrauchsskandal sei die Akzeptanz der Homosexualität im Westen, machte er sich wenig Freunde. »Die Zeit ist noch nicht reif für einen Afrikaner«, hieß es bald in Kurienkreisen.
Was aber war mit Lateinamerika, wo über 40 Prozent aller Katholiken leben? Da hatte man schnell Kardinal Odilo Scherer (63) ins Auge gefasst, den Erzbischof von São Paulo in Brasilien, der drittgrößten Diözese der Welt. Seine Familie stammt aus dem Saarland, er spricht fließend Deutsch, half sogar in Bad Vilbel als Pfarrer aus; mit ihm wären wir noch immer ein wenig »Papst« geblieben. Doch ihm wurde zum Verhängnis, dass ausgerechnet die Kurienkardinäle Sodano und Re seine Kandidatur unterstützten. Als ihm dann noch am Sonntag vor dem Konklave, als er in seiner römischen Titelkirche mit Gläubigen das Messopfer feierte, eine Hostie aus der Hand rutschte und auf den Boden fiel, sah man darin schnell ein Zeichen. Scherer schaffte es nicht über die ersten Wahlgänge hinaus.
Vielleicht besser ein Nordamerikaner? Der Kanadier Marc Ouellet (68) etwa, der emeritierte Erzbischof von Québec? Er gilt als exzellenter Theologe in der Tradition Benedikts XVI., spricht acht Sprachen und hatte jahrelang in Südamerika gewirkt, was ihm die Sympathie der südamerikanischen Kardinäle sicherte. Johannes Paul II. hatte ihn schließlich an die römische Kurie berufen und zum Kardinal ernannt, wo er nicht nur als Sekretär des Rates für die Einheit der Christen brillierte, sondern auch als Aufklärer im Missbrauchsskandal. Doch vielleicht war das schon zu viel »römischer Stallgeruch«, zudem wirkt Ouellet bei Predigten wenig charismatisch – beide Faktoren dürften seine Chancen gemindert haben.
Schließlich kam noch ein vierter Name »ins Rennen«: Kardinal Sean O’Malley, der Erzbischof von Boston, bekannt dadurch, dass er in seiner Diözese nach dem Missbrauchsskandal für Ordnung sorgte und das »Null-Toleranz«-Programm Benedikts XVI. rigoros umsetzte. Vor allem aber ist O’Malley Kapuziner, trägt die einfache braune Kutte seines Ordens und einen längst weißen Vollbart, dazu braune Sandalen. Ein Schüler des heiligen Franziskus also, ein Ordensbruder zudem von Padre Pio, dem Mystiker und Volksheiligen aus San Giovanni Rotondo in Apulien, dessen Bild in jeder italienischen Pizzeria, jedem römischen Krämerladen und den meisten Taxis südlich der Alpen hängt.
Ein Papst in Sandalen, mit dieser Idee konnte auch ich mich anfreunden, ein Franziskaner noch dazu, das wäre gut für die Glaubwürdigkeit der Kirche. Gegen O’Malley sprach eigentlich nur seine Nationalität; auch im katholischen Lateinamerika grassiert der Antiamerikanismus, von den muslimischen Ländern ganz abgesehen, deren Katholiken fortan bezichtigt würden, »Agenten der USA« zu sein. Dass die amerikanischen Kardinäle beim Vorkonklave geradezu als Block auftraten und, entgegen aller Absprachen, sogar gemeinsame Pressekonferenzen gaben, trug nicht gerade zu ihrer Beliebtheit bei ihren Amtsbrüdern bei. Als sich dann noch Barack Obama zu Wort meldete, wahrscheinlich eher, um einen amerikanischen Papst zu verhindern (obwohl er natürlich das Gegenteil sagte), war klar, dass auch O’Malley wenig Chancen hatte.[2]
Da half also nur noch beten! Genau dazu hatte die katholische Bewegung Jugend 2000 aus Bayern mit ihrer Initiative »Adopt a Cardinal« aufgerufen. Wer sich über das Internet anmeldete, dem wurde einer der wahlberechtigten 115 Purpurträger...