Paracelsus – St. Galler Fundamente seiner Medizin-Philosophie (S. 175-176)
Pirmin Meier
In St. Gallen über Paracelsus sprechen müsste heißen, Hohenheims St. Galler Ansätze zu den Grundlagen seines Denkens und Wirkens wenigstens andeutungsweise einzubeziehen. Der emblematische Titel aus dem Gesamtwerk, der in St. Gallen abermals auftaucht, heißt Paramirum: dasjenige, was über alles zum Staunen anregt. Das Sichverwundern, von Platon und Aristoteles zum Anfang der Philosophie erklärt, leitet auch die wissenschaftliche Neugier von Paracelsus. In Salzburg, Basel, im Elsass, in Nürnberg, St. Gallen, Mährisch-Kromau und in Kärnten hebt er noch und noch an, um einem meist wenig geneigten Publikum immer wieder das gleiche Programm mit einer Überfülle von Paradigmen vorzuführen. Die „Erfahrenheit aus dem Lichte der Natur“: erfasst nach Maßgabe von fünf Entien („was Gewalt hat, den Leib krank zu machen“), fünf Heilungswegen, vier Säulen der Medizin, vier Elementen und den drei Prinzipien Sal, Sulphur und Merkur. Dies gipfelt dann in der Lehre von den vier Arcana, den Heilmitteln aus dem Lichte der Natur.
Das St. Galler Paramirum, dem einheimischen Doktor, Stadtarzt, Reichsvogt und Bürgermeister Joachim von Watt (1484 – 1551) gewidmet, stellt für Paracelsus den dritten großen Versuch zu einem Fundamental- Werk der Medizin-Philosophie dar. Ihm vorausgegangen sind die Studien zu den fünf Entien Volumen Paramirum und das Viersäulenbuch Paragranum. Das Entienbuch, also die Lehre von den Umwelteinflüssen und Zeitfaktoren (ens astrale), von den Vergiftungen und Infektionen (ensvenale), von den konstitutiv gegebenen Krankheitsursachen (ens naturale) und von den Geistwirkungen (ens spirituale), womit auch die Wirkungen von Pflanzen- und „Metallgeistern“ gemeint sind, begründet als Abgrenzung gegenüber der scholastischen Ursachenlehre eine differenzierte Handhabung des metaphysischen Kausalitätsprinzips. Nicht zu vergessen ist dabei die allgemeine Kontingenz (Zufälligkeit, Nichtnotwendigkeit des Daseins), womit das Unfassbare, Unerklärbare und schlicht Irrationale den ihm angemessenen Ort im System zugesprochen bekommt: Das fünfte Ens oder das Ens deale, auch Ens Dei genannt, ist keine Dogmatik göttlicher Einwirkungen, schließt solche jedoch nicht aus. Das Ens Dei entspricht einem Bereich, für den der Arzt nicht zuständig ist. Dem Wirken des in der Theorie gelehrten und praktisch erprobten „Iatrosophen“ bleiben die vier natürlichen Entien überlassen. Aber auch für die astralen, venalen, naturalen und spiritualen Gesichtspunkte gilt, dass nicht der Arzt es ist, der heilt, sondern dessen Meister, die „Natur“.
Das visionäre Modell der fünf Entien hat mit einer Totalmedizin zu tun, die dennoch nicht als geschlossenes System einherkommt. Jedes der fünf Entien gehört einem je eigenen Wissensbereich an. Die Erfassung desselben erfordert vom Arzt Beherrschung der vier Säulen der Arznei, nämlich der Philosophie, der Astronomie, der Alchemie und der Ethik, darüber hinaus einen unerschütterlichen Glauben und die Orientierung an Christus, „welcher ist der erste arzet und der einzige, der es umsonst tut“. Die philosophische Pointe der Lehre von den fünf Entien ergibt sich aus dem Vergleich mit Modellen aus der Zeit der Scholastik und der (nachparacelsischen) Aufklärung über das Verhältnis von Ursache und Wirkung. Als Beispiel seien der aristotelische Bewegungssatz (alles, was bewegt wird, wird von einem anderen bewegt), das metaphysische Kausalitätsprinzip (keine Wirkung ohne Ursache, am Ende wird von einer „Erstursache“ ausgegangen) und der für das mechanische Weltbild unumstößliche Kausalsatz genannt. Für den Kausalsatz gilt: Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen und umgekehrt. Damit geht das für die sogenannte exakte Naturwissenschaft der Aufklärung kennzeichnende mechanistische Weltbild noch über das ältere metaphysische Kausalitätsprinzip hinaus.