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E-Book

Paradigmen der russischen Oper

AutorAlexej Parin
VerlagHollitzer Wissenschaftsverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783990122723
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Warum ist die Herrscherfigur in der russischen Oper so allmächtig? Welche Psychologie und nationale Identitäten verbergen sich hinter diesen Charakteren? Warum werden die singenden und tanzenden Gegenspieler immer so bezaubernd und gleichzeitig so furchterregend dargestellt? Wer verbirgt sich wirklich hinter den Feindbildern der russischen Komponisten? Wie schlagen sich die zwei großen Überlieferungen - das 'heilige Russland' und der Mythos Sankt Petersburg - und ihr Machtspiel in der Oper nieder? Welche Mythen oder Symbole liegen Figuren wie Boris Godunow und Marfa, Kontschak und der Alten Gräfin, Tatjana und German, Polen und Kitesch zugrunde? Wie sind die Geschlechterrollen in der russischen Oper definiert? Der renommierte russische Opernkritiker Alexej Parin beantwortet diese und viele andere Fragen mit einer klaren, jedoch vielschichtigen Sprache und setzt die russische Oper in einen europäischen Kontext. Dabei nähert er sich der russischen Oper aus verschiedenen Blickwinkeln und unter Einsatz eines erstaunlich vielschichtigen Methodenapparats: Ansätze der Kulturgeschichte, Geschichtsphilosophie, Gender-Studies, Mythologie sowie der analytischen Psychologie und philosophischen Hermeneutik werden herangezogen, um die russische Operngeschichte - von Werstowski und Glinka bis Prokofjew und Schostakowitsch - in ihrem ganzen Facettenreichtum darzustellen.

Alexej Parin, geboren 1944 in Moskau, arbeitet international als Librettist, Opernkritiker, Dramaturg und Dichter. In seiner Übersetzung erschienen Werke europäischer Dichter von der Antike bis zur Gegenwart, von Sappho und Ovid bis Paul Celan und Jacques Roubaud. Die Anthologie 'Der verliebte Wanderer. Westeuropäische Lyrik in Nachdichtungen von Alexej Parin' (2004) versammelt Parins Lyrik-Übersetzungen. Seit 20 Jahren gestaltet er Musik-Features für die Radiostationen Echo Moskwy und Orpheus. Des Weiteren sind im Hollitzer Verlag die Essaysammlung 'Die Brille des Coppelius' und der Roman 'Die Chroniken von Leonsk' erschienen.

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Leseprobe

KAPITEL II


DIE POLOWETZER ORGIE IN PARIS: DER FEIND


Betrachten wir einige, scheinbar vereinzelte Fakten, die ins Auge springen. Die Hülle des in Frankreich erschienenen CD-Sets Knjas Igor (Fürst Igor, 1890) ziert ein bunt-ornamentales Porträt des Khans Kontschak.1 Die raffinierteste – oder sogar: einzig raffinierte – europäisch gefärbte und nuancierte Partie in dieser Aufnahme ist denn auch diejenige des Kontschak in der Interpretation von Mark O. Reisen.

Nina Berberowa schreibt in ihrem Essay-Roman über Borodin: „Sein Übergang [vom ‚Westlertum‘ – A. P.] zu einem persönlichen, eigentümlichen Orientalismus hatte einen derart mysteriösen, beharrlichen, irrationalen Charakter, dass Balakirew Schwierigkeiten hatte“, diesen Wandel den anderen Mitgliedern der Gruppe der Fünf („Das mächtige Häuflein“) zu erklären.2

Die Polowetzer Tänze aus Borodins Oper Fürst Igor hatten bei den Saisons russes in Paris (1909) so schwindelerregenden Erfolg, dass sie augenblicklich zu einem ‚Schlager‘ wurden, zum Lieblingsspielzeug der Pariser, ja sogar zum letzten Modeschrei.3

Im Prolog des Fürst Igor wird das Wort ‚Feind‘ von den Hauptfiguren und vom Chor mindestens zehnmal wiederholt.

Zum Einstieg in das Thema sollen die Feindesfiguren in der europäischen Oper mit denjenigen der russischen Komponisten verglichen werden.

Gleich zu Beginn muss festgehalten werden, dass es in keiner einzigen nationalen europäischen Operntradition ein Werk gibt, das direkt und unverhüllt den Kampf des eigenen Volkes gegen fremdländische Feinde darstellte beziehungsweise einen marktschreierischen, expliziten Patriotismus an den Tag legte. Selbst Giuseppe Verdi, der in diesem Aspekt Engagierteste, zeigt den Unabhängigkeitskrieg stets ‚verkleidet‘ – nicht zuletzt natürlich aus Zensurgründen: Man denke an Nabucco (1842) mit seinem berühmten Chor „Va pensiero“ oder an einzelne Linien aus Don Carlos (1867) und Aida (1871). Lediglich einmal hatte sich der große Meister eine direkte Aussage erlaubt: In Les vêpres siciliennes (Die sizilianische Vesper 1855), geschrieben für die Pariser Oper auf ein Libretto von Eugène Scribe (in welchem Verdi mit Unbehagen antiitalienische Tendenzen erkannte),4 zeigt er den Aufstand seiner Landsleute gegen die Franzosen in Palermo im Jahre 1282.5 Die ideologische Antithese des ‚Italienischen‘ und des ‚Französischen‘ büßte auf ästhetischer Ebene allerdings ihre Klarheit ein. Die Eingangsarie der sizilianischen Patriotin Elena wirkte auf das Publikum wie eine Periphrase von Delacroix’ erzfranzösischem Gemälde La Liberté guidant le peuple (Die Freiheit führt das Volk). Der Anführer der Aufständischen, ein Sizilianer, Giovanni di Procida, erschien als zynischer Terrorist, und der finale Aufstand kam einem Gemetzel gleich, was die patriotische Verve der Oper deutlich abschwächte.

Die größte Schicht in der Gruppe der ‚Feinde‘ als handelnde Personen in der europäischen Oper bilden orientalische oder vollends exotische Figuren6 – eine Tatsache, die im Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Exotismus-Mode gesehen werden muss.7

Im 18. Jahrhundert wird die barocke Vorliebe für die dekorativen und travestiehaften Aspekte des Exotischen8 durch den humanistischen Elan der Aufklärung abgelöst. Der ‚Edle Wilde‘ als rousseauistischer Gegenentwurf zu dem durch Zivilisation verdorbenen Europäer avanciert zu einem der beliebtesten literarischen (und theatralischen) Motive.9 In Jean-Philippe Rameaus Ballettoper Les Indes galantes (1735) beeindrucken die Türken durch Großzügigkeit und die Indianer durch die Idee der freien Liebe; Carl Heinrich Grauns Oper Montezuma (1755), zu der Friedrich II. von Preußen das Libretto schrieb, feiert in der Gestalt eines aztekischen Herrschers den wahrhaftig aufgeklärten Monarchen. Die Verbreitung der ‚koloristischen Spezifik‘ in der Musik führt zu einer Mode alla turca, die unter dem Blickwinkel der Operngeschichte in der Entführung aus dem Serail (1782) von Mozart und dem Librettisten Johann Gottlieb Stephanie d. J. ihren Gipfel fand.10 Der auf den ersten Blick blutrünstige Aufseher des Serails, Osmin, ein vermeintlicher Barbar, erweist sich in musikalischer Hinsicht als der feinfühligste der Charaktere,11 während Bassa Selim12 den selbstsüchtigen Europäern ein Beispiel an seelischer Reinheit und Großzügigkeit in Anlehnung an Lessings Nathan den Weisen gibt.13 Andererseits lässt Gioachino Rossini, der etwas später in einer anderen ideologischen Atmosphäre lebt und wirkt, in seiner L’Italiana in Algeri (Die Italienerin in Algier 1813) die imperialistisch-überheblichen Gebärden der Europäer gegenüber den ‚Exoten‘14 akzeptabel, ja nobel erscheinen.

Im 19. Jahrhundert strebt die Oper nach einer realistischeren couleur locale, häufig mit dem Ziel, die Zuschauer in ein imaginiertes Paradies zu entführen oder die europäischen Projektionen des Wünschenswerten, Idealen zu realisieren. Die Exotik führt „aus der muffigen Enge des Gewohnten in eine geheimnisvolle Ferne, die Empfindungen und Genüsse, Schönheit und Pracht bietet, die die Realität und der nüchterne Alltag nicht aufzuweisen haben. Exotismus wird Ersatzleistung der Phantasie für mangelnde Farbigkeit und Intensität der Umwelt.“15 Hinter der Leidenschaft für das Exotische, die nach wie vor eurozentrisch bleibt, verbirgt sich die „Sehnsucht nach einer anderen Identität“.16 Die Titelfigur von Léo Delibes’ Lakmé (1883), ein typisches Produkt der französischen Oper, die vom Zuschauer ebenso viel Anteilnahme wie jede europäische Opernheldin fordert, stellt nichtsdestoweniger mithilfe von einzelnen musikalischen Details ihre exotische Natur zur Schau.17 Das japanische Kolorit in Giacomo Puccinis Madama Butterfly (1904) markiert Traditionstreue und moralische Stabilität,18 während die Invasion eines Vertreters der westlichen Welt (der in der ersten Fassung der Oper eindeutig negativ konnotiert war) zum Untergang dieser geschlossenen Welt führt. Wichtig ist, dass die Wechselwirkungen zwischen Europäern und orientalischen Figuren immer als eine Art Spiegelsystem fungieren: Die ‚Feinde‘ oder Antagonisten bilden den Vorwand für die Suche nach neuen Positionen oder für eine Änderung der Bezugspunkte.

Bei der Darstellung innereuropäischer Fehden findet die Opposition der verfeindeten Kräfte normalerweise keinen unmittelbaren Eingang in die Intonationssphäre der Musik. In Vincenzo Bellinis Norma (1831) gibt es nichts spezifisch Römisches, das den Römer Pollione von seinen druidischen Geliebten unterscheiden würde. In Rossinis Guillaume Tell (1829) lässt sich Gräfin Mathilde, die dem Kreis der österreichischen Unterdrücker angehört, gegenüber ihrem Schweizer Geliebten Arnold nicht auf Auseinandersetzungen über ihre jeweilige national-musikalische Identität ein. In Giuseppe Verdis Giovanna d’Arco (1845) glänzen die Engländer im Vergleich zu den Franzosen höchstens durch ihre ausgeprägte Kriegslust.19

In der uns interessierenden Zeitspanne vom frühen 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert wird das Orientalische, Exotische in der Oper nicht als etwas Feindliches – das heißt, aggressiv Gegensätzliches – interpretiert, sondern als etwas Fremdes oder einfach Anderes. Solche ‚Fremden‘20 wie die sich über die rigorose spanische Moral hinwegsetzende Carmen oder die (zumindest teilweise) der dämonischen Maurenwelt angehörende Kundry stellen aus der Sicht des kollektiven Unbewussten archetypische Anima-Manifestationen dar und haben mit dem Problem des ‚Feindes‘ in dem Sinne, der uns im vorliegenden Kapitel beschäftigen wird, nichts zu tun.21

Die russische Oper zählt indes ziemlich viele Feind-Figuren, wobei es sich um kollektive Feinde handelt, die dem gesamten Volk gegenüberstehen. Von dieser Tatsache soll jedoch nicht auf eine besondere Aggressivität, Kriegslust oder ethnische Fixierung des russischen Volkes geschlossen, sondern erst nach den Wurzeln dieses Phänomens gesucht werden.

Michail Glinkas Schisn sa zarja (Ein Leben für den Zaren, 1836) handelt vom Krieg zwischen Russen und Polen. Dem Bild des russischen Volksaufgebots steht die Darstellung des polnischen Hofes gegenüber, der sich bereit macht, dem ‚Drang nach Osten‘ zu folgen. Die Handlung verläuft im Sinne einer ununterbrochenen Kette: direkter Zusammenstoß der Seiten, mehrere Gegenwehrversuche seitens der Russen, ‚Pyrrhussieg‘ der Polen. Darauf folgen die ‚Zäsur‘, die Auflösung des Konflikts hinter der Bühne und der Triumph der Russen. Musikalisch sind die zwei nationalen Bereiche strikt getrennt. Um den Feind zu charakterisieren, wird Tanz eingesetzt: Das Ballett als eine ‚fremde‘, andersartig konnotierte Gattung steht so dem Gesang (insbesondere dem Chorgesang) als einer Insignie des ‚Eigenen‘ gegenüber.

In Glinkas Ruslan i Ljudmila (Ruslan und Ljudmila, 1842) gibt es keinen Krieg im politischen Sinne, jedoch tragen die wichtigsten und gefährlichsten Feinde der russischen positiven Charaktere – Swetosar, Ljudmila und Ruslan – eindeutig orientalische Züge; die groteske Figur des ‚Europäers‘ – der Wikinger Farlaf – ist ein Sonderfall. Natürlich ist Ratmir, Träger der orientalischen Verwöhntheit und raffinierten Erotik,22 gemäß Sujet nicht Ruslans Feind, sondern lediglich sein Rivale; Naïnas Zaubergärten mit ihren...

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