4 Wo ist meine Meinung? (S. 47)
In einer kleinen Abhandlung stellt Heinrich von Kleist die Behauptung auf, eine Meinungsäußerung könne während des Sprechens, also gleichsam unterwegs, entwickelt werden. Zum Beleg seiner These zitiert er ein Statement, das am Vorabend der Französischen Revolution Graf Mirabeau geäußert hat: Die französische Nationalversammlung ist soeben vom König für aufgelöst erklärt worden. Die Delegierten sollen den Saal verlassen. Der Zeremonienmeister des Königs fragt die Versammelten, ob sie den Befehl des Königs vernommen hätten.
Da steht Mirabeau auf und setzt zu seiner Erwiderung an: „Ja, wir haben des Königs Befehl vernommen." – Ich bin gewiss, dass er bei diesem humanen Anfang noch nicht an die Bajo nette dachte, mit denen er schloss (kommentiert Kleist). „Ja, mein Herr, wir haben ihn vernommen." – Man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, was er will (fügt Kleist hinzu). „Doch was berechtigt Sie" – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheurer Vorstellungen auf –, „uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation." – Das war es, was er brauchte!
„Die Nation gibt Befehle und empfängt keine." – Um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen. „Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre." – Und erst jetzt . ndet er, was den ganzen Widerstand ausdrückt, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht: „So sagen Sie Ihrem König, dass wir unsre Plätze anders nicht als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden." – Worauf er sich, selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte. Alle Achtung. Da ist nach schwachem Start die Sache zu einem starken Ende gekommen.
Zitiert wird dieser rhetorische Geistesblitz des Grafen vor allem deshalb, weil er die Ausnahme darstellt. Im Normalfall erreichen die während des Sprechens entwickelten Gedanken nicht diese Geschlossenheit und Qualität. Dass die spontane Meinungsäußerung zu einer breit diskutierten Frage wie der, ob der Transrapid in München gebaut werden sollte, auch zur Lachnummer werden kann, hat ein bayerischer Ministerpräsident unfreiwillig, aber überzeugend demonstriert:
„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten, ohne dass Sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen, am am Hauptbahnhof in München starten Sie Ihren Flug zehn Minuten . . . Wenn Sie vom Flug- äh vom Hauptbahnhof starten, Sie steigen in den Hauptbahnhof ein, Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen in an den Flughafen Franz Josef Strauß, dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München – das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern an die bayerischen Städte heranwächst, weil das ja klar ist, weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen."
Einerseits verstehen wir schon den wesentlichen Inhalt, dass durch den Transrapid die Fahrzeit vom Hauptbahnhof zum Flughafen so verkürzt würde, dass der Flug eigentlich schon im Bahnhof beginnt – ein Vorteil, den andere Flughäfen nicht bieten können. Andrerseits erleben wir mit Grausen oder mit Schadenfreude, wie die verschiedenen Gedanken sich gegenseitig im Weg stehen und bedrängen. Es fehlt ein klarer Plan, der die genaue Abfolge der einzelnen Teilargumente regeln würde.