1. Untergang oder Übergang?
Im zweiten Halbjahr 1960 arbeitete Peter Weiss in Kopenhagen an dem sozialkritischen Dokumentarfilm Hinter den Fassaden (Bag de ens facader), der sich mit den Wohnverhältnissen in den Vorstädten der dänischen Hauptstadt beschäftigte. Während dieser Monate schrieb er ein Tagebuch, das 2007 unter dem Titel Das Kopenhagener Journal erschien. Es dokumentiert eine künstlerische und existenzielle Krise. Zwischen Frühjahr 1959 und Spätherbst 1960 durchlebte Weiss eine Periode tiefgreifender Veränderungen, die sowohl sein Privatleben als auch sein Selbstverständnis als Künstler betrafen. Seine Eltern waren kurz hintereinander gestorben: die Mutter im Dezember 1958 und der Vater im März 1959. Auch wenn sein Verhältnis zu ihnen, besonders zur dominanten Mutter, oft angestrengt war, traf ihn der Verlust der Eltern dennoch hart. Im März 1959 zerbrach auch die Beziehung zu der Bühnenbildnerin und Keramikern Gunilla Palmstierna, mit der er seit 1952 zusammengelebt hatte. Das Paar fand zwar Ende 1959 wieder zueinander, die Beziehung stand jedoch eine Zeitlang auf zerbrechlichem Grund.
Neben den privaten Erschütterungen ergab sich fast zeitgleich ein entscheidender Wandel im Modus operandi des Künstlers. Gunilla Palmstierna-Weiss berichtete in der Rückschau, Weiss habe 1959 »alles aufgeben« wollen, »als das mit Filme machen, Artikel schreiben, Malerei, auf Schwedisch schreiben – als all das nicht mehr ging«.1 Alle seine bisherigen künstlerischen Versuche schienen sinnlos geworden zu sein. Genau zu diesem Zeitpunkt wurde sein schon 1952 geschriebener »Mikroroman« Der Schatten des Körpers des Kutschers von Walter Höllerer an den Suhrkamp Verlag vermittelt. Als er 1960 erschien, nahm ihn die westdeutsche Kritik begeistert auf. Nach jahrelangen erfolglosen Versuchen war es Peter Weiss endlich gelungen, in seiner Muttersprache zu publizieren. Er hatte einen Verlag gefunden, der ihn zu fördern versprach, und ein Publikum, mit dem er kommunizieren konnte.
Obwohl dies die Erfüllung eines Traums bedeutete, mischten sich Zweifel in das Glücksgefühl. Für Weiss war die künstlerische Arbeit immer mehr als nur das Hervorbringen von Bildern, Filmen oder Texten. Sie war zur tragenden Säule seiner (Über-)Lebensstrategie geworden. Die äußeren Voraussetzungen veränderten sich nun grundlegend. Als der Verleger Siegfried Unseld ihn in den Kreis von Autoren um Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch und Martin Walser aufnahm, hörte Weiss auf, ein »freier« Schriftsteller zu sein. Als Verlagsautor wurde er Teil einer Verkaufsstrategie mit bestimmten Verpflichtungen. Von ihm wurde erwartet, sich für die Vermarktung seiner Produktion einzusetzen und ständig neue Produkte zu liefern. Dieser Produktionsdruck blockierte ihn.
Weiss stand an einem Scheideweg: Er konnte fortfahren, Kunst als Medium seines eigenen Selbsterkennungsprozesses zu begreifen – und damit Kunst für die Schublade zu produzieren –, oder sich den vom Verlag an ihn herangetragenen Erfordernissen des Marktes beugen – und damit Gefahr laufen, »von der kommerzialisierten Welt verschluckt« zu werden.2 Diese Alternative schien ihm, trotz aller Bedenken, eine Perspektive für seine künstlerische Entwicklung zu bieten. Das Zusammentreffen von künstlerischem Dilemma und unsicherer privater Situation griff jedoch seine psychische Verfassung an. Die schleichende Depression gipfelte in dem Gefühl, dass »schon alles bald zuende sei«.3 Am 6. November 1960 hielt er in seinem Tagebuch fest: »Ich befinde mich in einem Übergang oder einem Untergang.«4
»Ich muss mich neu erschaffen«
Die Krise führte schließlich zu einem Übergangsstadium, das jedoch prekär bleiben musste, solange es ihm nicht gelingen würde, im Einklang mit sich selbst zu leben. Wer war dieses Selbst? Die Lebenskrise, die er gerade durchmachte, beruhte unter anderem darauf, dass er keinen festen, gesicherten Punkt hatte, von dem er hätte ausgehen können. »Es ist mir immer noch nicht geglückt«, notiert er am 29. Oktober 1960, »eine Lebensauffassung auf Grund meiner Erfahrungen aufzubauen.«5 Seine lange und intensive Beschäftigung mit der Psychoanalyse hatte ihn zur Einsicht gebracht, es sei notwendig, die eigenen biografisch-historischen Erfahrungen, die das Gefühl des »Fremdseins« und der »Unzugehörigkeit« in seinen Körper eingeschrieben hatten, von einer neuen Perspektive aus zu betrachten. Allein in der bewussten, analytischen Aufarbeitung der Vergangenheit lag die Möglichkeit, sich von ihr zu emanzipieren. Diese Einsicht war die Basis für die Dialektik von Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft, die er in den beiden Werken praktizierte, die zu dieser Zeit entstanden: Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt.
Eine solche Dialektik hatte er schon im Roman Situationen (Die Situation) ausprobiert, den er, nach seinen vergeblichen Bemühungen im Jahr 1956, einen deutschen Verlag für Der Schatten des Körpers des Kutschers zu finden, Ende 1956 auf Schwedisch geschrieben hatte. Es war sein letzter Versuch, sich an das schwedische kulturelle Leben zu assimilieren. Der Kalte Krieg war durch die sowjetische Niederschlagung des Ungarn-Aufstands und durch das militärische Eingreifen Englands und Frankreichs zur Verhinderung der Nationalisierung des Suez-Kanals in eine heiße Phase übergegangen. Über allem schwebte die Gefahr einer atomaren Apokalypse. Von dieser rauen Wirklichkeit blieb auch die vermeintliche schwedische Idylle nicht mehr unberührt. Vor diesem Hintergrund behandelt der Roman Fragen der Politik und der Gesellschaft, des künstlerischen Engagements und verschiedener Formen des Zusammenlebens. Hier zeigen sich schon Andeutungen von Themen, die später in ausgearbeiteten Formen kennzeichnend für das literarische, dramatische und dokumentarische Werk von Peter Weiss werden sollten. Hervorzuheben ist hier besonders seine Methode, die autobiografischen Erfahrungen zu objektivieren, indem er sie zerlegt und verschiedenen Figuren mitteilt. Er habe, schreibt er im Roman, »ein Selbstportrait in chinesischen Schachteln geschaffen«, Figuren »mit merkwürdigem Anspruch auf ein eigenes Dasein«.6
»Nein, das deckt nichts ab«, klagt eine der Figuren heftig. »Was ich geschrieben habe, war von Selbstfeindlichkeit diktiert, von Selbstvorwürfen. Ich versuche es mit einer neuen Version.«7 Zu diesem Zweck muss sie über ihr Verhältnis zur Psychoanalyse nachdenken. Peter Weiss hatte sich zweimal einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen. Zum ersten Mal 1941 im südwestschwedischen Alingsås und dann zwischen 1950 und 1952 bei dem Freud-Schüler Lajos Székely in Stockholm. Während dieser Zeit der Analysen, resümiert die Romanfigur, »war ich mit einem immerwährenden Mahlen und Wiederkäuen der Konflikte der Kindheit beschäftigt«. Das war zwar »notwendig und wesentlich«, aber dadurch ließ sie auch die Vergangenheit nie richtig los. Sie musste sich von der »neuen Vaterinstanz«, dem Analytiker, lösen. Durch das Sprengen des solipsistischen Teufelskreises und dadurch, dass sie sich »in höherem Grade« nach außen wendet, »wirkte es, als hätten die Wunden sich geschlossen«. Sie waren noch da, und nur die Haltung zu ihnen hatte sich verändert, aber das Entscheidende war: »[…] jetzt kann ich mich auf eine andere Weise sehen.«8
Der Existenzialismus wird zum neuen Leitstern in seinem Befreiungsversuch, jedoch ohne dabei die psychoanalytische Lehre zu vergessen, wonach das, was wir Wirklichkeit nennen, nicht auf das reduziert werden darf, was in der äußeren Welt geschieht; unsere innere Welt, unsere Gefühle und unser Denken, sind auch wesentliche Momente dessen, was wir als Wirklichkeit bezeichnen. Es besteht ein dialektisches Verhältnis zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit und zwischen ihren beiderseitigen Veränderungsprozessen.
In Die Situation geht Weiss das Problem an, sich »neu zu erschaffen«. Die Bestimmungen, die ihm von außen auferlegt wurden, dürfen ihn nicht definieren, »es kommt nur auf den Weg an, den ich selbst gewählt habe«, nur »das, was ich selbst zustande gebracht habe, zählt«.9 Er lässt sich nicht von der individualistischen Form des Existenzialismus leiten, sondern von der Variante, die auf Jean-Paul Sartre zurückgeht und die betont, dass die Verantwortung des Einzelnen für seine eigene Individualität notwendigerweise auch eine Verantwortung für andere Menschen mit einschließt. Nach Sartre wählt der Mensch für sich selbst und für alle Menschen zugleich. Das individuelle Sein ist gleichzeitig »ein Werden für andere«; da es eine einzige gemeinsame menschliche Welt gibt, muss es auch ein Engagement für andere geben.
In Übereinstimmung mit dieser Variante des Existenzialismus enthält Weiss’ Versuch der Neuerschaffung auch das Aneignen eines »Zeitbewusstseins« und »einer spontanen Solidarität mit den Unterdrückten und Terrorisierten der Welt«. Dies soll ihm zu einer breiteren Perspektive bei der eigenen »Schürfarbeit« verhelfen.10 Weiss hatte zwar noch keine Perspektive für sich gefunden, »die zu einer Lösung führen kann«, doch war er überzeugt, »nach dieser Reise«, die er in Die Situation beschreibt, »auf eine neue Weise« schreiben zu können.11
Während der folgenden Jahre, bis 1960, stand Peter Weiss jedoch vor der Frage, ob er überhaupt eine Zukunft als Autor haben würde. Das schwedische Romanmanuskript hatte er fast allen Verlagen angeboten, ohne Erfolg. Erst im Jahr 2000 wurde der Roman in deutscher Übersetzung, ein Jahr später im schwedischen Original...